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Heimkinder in der DDR
"Ich bin der Hölle entkommen"

Zehntausende Menschen wurden in der DDR in Kinderheimen und Spezialheimen für Schwererziehbare untergebracht. Sie wurden zur Arbeit gezwungen und von ihren Betreuern drangsaliert und misshandelt. Viele haben erfolgreich einen Antrag beim Hilfsfonds "Heimerziehung in der DDR" gestellt. Doch vergessen können sie das Leid nicht.

Von Peter Marx | 03.12.2014
    Prospekte zum «Fonds Heimerziehung» liegen am Montag (02.07.2012) in der neuen Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige DDR-Heimkinder in Leipzig aus. Betroffene können sich dort über therapeutische Behandlungen und Rentenersatzleistungen informieren, die aus dem Fonds Heimerziehung in der DDR gezahlt werden. Der Topf wird vom Bund und den Ost-Ländern mit 40 Millionen Euro gefüllt. Träger ist der Kommunale Sozialverband
    Bis Ende August gingen mehr als 20.000 Anträge beim Heimkinder-Fonds ein (picture alliance/dpa/Hendrik Schmidt)
    Katrin Albrecht blättert im schmalen Ausstellungskatalog, sucht Fotos, auf denen sie selbst als Heiminsassin zu sehen ist. Die 49-Jährige schlägt den Katalog auf, ihr Zeigefinger rutscht entlang einer Bildkante. Auf dem Foto eine junge Frau im weißen Kittel, die an einer Zwirnerei-Maschine volle Garnrollen abzieht und leere Rollen aufsteckt.
    "Es gab damals eine junge Fotografin, heißt heute Christiane Eisler und die war damals 24 Jahre alt und hat ihre Abschlussarbeit über diesen Jugendwerkhof im Crimmitschau gemacht. Ja, die hat uns begleitet und durfte überall fotografieren und wir haben uns jetzt über diesen Heimfonds wiedergefunden nach dreißig Jahren und sie hat heute eine Ausstellung 'Die Jugend der Anderen' und diesen Katalog habe ich hier. Und der bringt die Vergangenheit zurück und macht es alles so begreifbar, dass man sich das nicht eingebildet hat, was damals passiert ist."
    Katrin Albrecht kam als 16-Jährige in den Jugendwerkhof Crimmitschau in Sachsen, weil sie die Schule geschwänzt hatte. Kurzum: In Sinne der DDR-Funktionäre nicht angepasst war, sagt Anne Drescher, die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern:
    "Dann waren es Kinder die ein schwieriges Elternhaus hatten, Eltern die getrunken haben, die die Kinder misshandelt haben. Kinder, die auch versucht hatten durch die Elbe zu schwimmen, weil sie versucht hatten zur Tante oder Großmutter in den Westen wollten. All diese Verhaltensweisen wurden dann geahndet, in dem man die Kinder, die sich unterschiedlich verhalten haben, die gleiche Therapie hatte. Man hat sie versucht zu disziplinieren in diesen Einrichtungen."
    Unterstützung durch den Heimkinderfond
    Andy Prompel war sieben Jahre in einem Jugendwerkhof bei Görren-Leppin. Der 42-Jährige hat bereits erfolgreich einen Antrag auf Unterstützung beim Heimkinderfonds gestellt. "Für ihn", sagt er, "hat es sich gelohnt":
    "Bei mir hat es recht gut geklappt, weil bei mir alles eindeutig war. Ich habe ihn genutzt, für mich, für mein Heim eigentlich ein neues Dach. Ich habe mir von diesem Geld ein neues Dach für mein eigenes Heim bauen lassen. Und in meinem Fall gab es da noch eine Rentennachzahlung, weil wir als Heimkinder auch einmal die Woche arbeiten mussten."
    Prompel macht derzeit eine Umschulung zum Wachmann bei einer Sicherheitsfirma, Katrin Albrecht hat sich eine eigene Versicherungsagentur in der Gemeinde Eldenau aufgebaut. Wieder blättert sie im Ausstellungskatalog, mit ihren Gedanken weit, weit weg. Plötzlich redet die Versicherungsagentin über den Tagesablauf im Heim:
    "5.30 Uhr aufstehen, Frühsport. Gemeinsames Duschen mit allen zwölf Gruppenmitgliedern. Dann Frühstück. Dann zur Frühschicht ganz normal in die Volltuchwerke. Dann wieder zurück. Und der Tagesablauf mit Gruppengesprächen, Putzdiensten und Sauberkeitskontrollen, Wäschedienste. Und es endete damit, dass 19.30 Uhr die Aktuelle Kamera geguckt wurde dann Bett fertig gemacht wurde."
    Betroffene haben lange geschwiegen
    Lange schweigen die ehemaligen Heiminsassen bevor sie auf die Frage nach den erlebten Misshandlungen antworten. Katrin Albrecht erzählt von Dunkelzellen, die es in ihrem Heim gab und Andy Prompel erzählt von Misshandlungen durch einen Heim-Erzieher:
    "Und der war der Annahme, wenn man an ihm vorgeht und man hat sich nicht so verhalten wie er es gerne hätte, gab's dann welche mit diesem Gürtel. Einem Plastikgürtel. Das sind nur ein paar von diesen Situationen. Ging im Keller los, wie gesagt mit Einzelarrest und das war auch kein Zuckerschlecken und in den Duschen war es gang und gäbe, dass wenn man nicht so wollte, wie die wollten, blieb man auch mal länger unter der Dusche."
    Das letzte Foto: Katrin Albrecht auf dem Weg zum Bahnhof, einen Tag vor ihrem 18. Geburtstag – ihr Entlassungstag. In der Hand hält sie einen kleinen Koffer. "Mehr hatte ich nicht", sagt die 49-Jährige. "Aber ich bin der Hölle entkommen", fügt sie stolz noch an.