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Henri Bergson
Ein philosophisches Verständnis von Zeit

Henri Bergsons Philosophie ist heutzutage immer noch ein Geheimtipp. Erst neuerdings erlebt das Werk des seinerzeit in der Pariser Gesellschaft vergötterten Denkers eine Renaissance, so auch sein Werk "Dauer und Gleichzeitigkeit", in dem er sich mit Einsteins Relativitätstheorie auseinandersetzt.

Von Michael Wetzel | 29.06.2015
    "Denn was ist 'Zeit'? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer vermöchte es auch nur gedanklich zu begreifen, um sich dann im Wort darüber auszusprechen? ... Was ist also 'Zeit'? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht."
    So lautete schon die inständige Klage des Augustinus im vierten Jahrhundert. Sind wir über anderthalbtausend Jahre später in unseren Erkenntnissen weiter gekommen?
    Ja und nein! Die Fülle der Antworten auf jene Frage, was denn nun Zeit sei, hat unermesslich zugenommen, und dennoch sind wir so ratlos als denn zuvor: ja, je weiter wir in das Geheimnis der Zeit einzudringen scheinen, umso mehr wird das Phänomen zum Rätsel. Historisch wird unser Leben immer mehr von der Zeit bestimmt, von einer Zeit, die unser Leben einteilt, unsere Verfügbarkeit diktiert, die immer knapper wird und nicht zuletzt immer globaler. Aber nicht nur die Simultaneität der Weltzeit bestimmt unser Denken, wenn wir zum Beispiel an die Bewegungen der internationalen Märkte denken, sondern auch physikalisch ist seit der Relativitätstheorie Albert Einsteins der Zeitfaktor zum alles beherrschenden Index geworden. Und zwar interessanterweise in der doppelten Weise einer möglich gewordenen Beherrschbarkeit und einer zugleich irrational scheinenden Hyperkomplexität.
    Insofern ist es kein Wunder, dass die Philosophie seit über 100 Jahren vom Thema der Zeit fasziniert ist, genauer, dass sie versucht, den allmächtigen Seinsfaktor Zeit neu und angemessener zu bestimmen. Dabei ist schon seit einiger Zeit bewusst geworden, dass man mit der Zeit ein besonderes Problem hat: Anders als der Raum, der sich in aller Stille betrachten und vermessen lässt, hat die Zeit die unangenehme Eigenschaft, ihre eigene Betrachtung zu unterminieren. Wie der Meisterdenker des Deutschen Idealismus Hegel schon feststellte, vergeht Zeit, während wir über sie nachdenken. Man kann nicht sagen: "jetzt", denn schon ist das gegenwärtige "jetzt" zum vergangenen "jetzt" geworden. Zeit vergeht, aber sie dauert auch an: Ein Paradox, das der französische Philosoph Henri Bergson zu seinem Untersuchungsfeld gemacht und in einer Reihe von einschlägigen Monografien beschrieben hat.
    Ein leidenschaftliches Buch
    Henri Bergson, in Paris 1859 geboren und 1941 gestorben, ist heutzutage immer noch ein Geheimtipp. Seine Philosophie, die zu ihrer Zeit einen außergewöhnlichen Einfluss auf die avantgardistische Kunst und Literatur ausübte, ist nachträglich unter dem missverständlichen Label der Lebensphilosophie zu einem Ladenhüter verkommen, an dem die Zeitströmungen eher vorbei gehen. Der politische Missbrauch des Lebensbegriffs und vor allem die Rezeption der für Bergson einflussreichen Philosophie Nietzsches durch die faschistische Ideologie hat viele Zugangsmöglichkeiten verschüttet. Erst neuerdings erlebt das Werk des seinerzeit in der Pariser Gesellschaft vergötterten Denkers eine Renaissance: In Frankreich hat man damit begonnen, alle Werke in aufwendig gestalteten kritischen Ausgaben neu zu editieren, und auch in Deutschland geht man daran, die Hauptwerke neu zu übersetzen.
    Bei dem 1922 erschienenen Buch "Dauer und Gleichzeitigkeit" handelt es sich sogar um eine Erstübersetzung. Erst fast 100 Jahre später reagiert der deutsche Sprachraum auf die bedeutende Konfrontation der Zeittheorie des Philosophen Bergson mit der Revolution des Zeitraums durch den Physiker Albert Einstein. Für Bergson war diese Differenzierung von entscheidender Bedeutung: Er verstand seinen Beitrag niemals als Einmischung in den Wahrheitsfindungsprozess der Physiker, sondern immer als Markierung einer Differenz, in der sich die Stimme der Philosophie als Kommentar zu diesen szientifischen Setzungen kritisch zu positionieren habe. Insofern ist Bergsons Buch ein leidenschaftliches Buch für ein philosophisches Verständnis von Zeit unter Berücksichtigung der physikalischen Einsichten von Einsteins Relativitätstheorie.
    Was bedeutet das?
    Bergsons Kritik am Zeitdenken seiner Epoche läuft immer wieder auf die Zusammenführung von Zeit und Dauer hinaus. Traditionellerweise wird Zeit als ein Vergehen, als das Nacheinander von Zeitpunkten gedacht, deren Vergänglichkeit jeder Dauer einen klaren Abschied erteilte. Aber genau diese Dauer war für Bergson der Angelpunkt, an dem die sukzessiven Punkte des Zeitflusses im Gedächtnis unseres inneren Bewusstseins zu einer Kontinuität und Simultaneität verschmelzen. Dieses Fließen des Zeitstromes, bei dem sich das Vorher in ein Nachher verlängert, vereinigt die beiden Aspekte der Dauer und der Veränderung eines Werdens, das von der wissenschaftlichen Zeitmessung dagegen in Momentaufnahmen zerlegt wird. Insofern versteht sich Bergson als Revolutionär, der erstmals versucht, Zeit als Zeit zu denken und nicht als Raum in Form einer unterteilten Linie oder messbaren Strecke, wie es die Philosophen vor ihm taten:
    "Keine Frage ist von den Philosophen stärker vernachlässigt worden als die nach der Zeit; und dennoch sind sich alle darin einig, sie für grundlegend zu erklären. Dabei stellen sie zunächst Raum und Zeit auf dieselbe Ebene; und wenn sie dann das eine eingehend untersucht haben (und das ist im Allgemeinen der Raum), überlassen sie es uns, das andere ebenso zu behandeln. Auf diese Weise erreichen wir aber nichts. Die Analogie zwischen Zeit und Raum ist im Grunde genommen ganz äußerlich und oberflächlich. Sie beruht darauf, dass wir uns des Raumes bedienen, um die Zeit zu messen und zu symbolisieren. Wenn wir uns also ihr zuwenden, wenn wir für die Zeit Eigenschaften suchen wie die des Raumes, dann bleiben wir beim Raum stehen, beim Raum, der die Zeit verdeckt und der sie unseren Augen bequem darstellt: Wir stoßen nicht bis zur Zeit selbst vor."
    Dem physikalischen Diskurs seine Grenzen aufzeigen
    Zur Veranschaulichung dieses Fließens der Zeit greift Bergson gern zu einem musikalischen Beispiel, der Melodie. Auch bei ihr hören wir einzelne Töne, aber erst im Verschmelzen erkennen wir die Melodie. Und hier zeichnet sich der Unterschied zur Physik Einsteins ab, die Bergson zwar als Bestätigung seiner Zeitkonzeption sieht, deren metaphysische Tragweite als Rechenexperiment er aber in Zweifel zieht. Denn auch die Relativitätstheorie rechnet bei der Bestimmung der Gleichzeitigkeit von chronologischer Zeit und absoluter Zeit der Lichtgeschwindigkeit mit Zeitpunkten. Für Bergson ist die Dauer aber undurchdringlich und unteilbar, ohne Zeitpunkte, durch deren Einführung vielmehr all die Paradoxe der Relativitätstheorie entstehen. Wie zum Beispiel die vierte Dimension, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nebeneinander zu liegen scheinen. Aber das sind virtuelle Vorstellungen des Geistes, mathematische Berechnungen einer wieder verräumlichten Zeit, die das wirkliche Werden nicht erfasst:
    "Indem man dem Raum, in dem man sich befindet, eine Dimension hinzufügt, kann man sich zweifellos anhand eines Dinges in diesem neuen Raum einen Prozess oder ein Werden vorstellen, die man in dem alten festgestellt hat. Aber da man das, was man als im Entstehen begriffen wahrnimmt, durch etwas fertig Entstandenes ersetzt hat, hat man einerseits das der Zeit innewohnende Werden eliminiert und andererseits die Möglichkeit einer unendlichen Menge anderer Prozesse eingeführt, durch die das Ding ebenso gut hätte konstruiert werden können."
    Was Bergson also der Relativitätstheorie vorwirft, ist diese Verwechslung der virtuell unterstellten oder experimentell berechneten Zeit mit der wirklich gelebten Zeit. Das macht Bergson an vielen Beispielen deutlich wie etwa der Reise in einer ins Weltall geschossenen Kanonenkugel, bei der man weniger schnell altern soll als auf der Erde. Denn das ist nur eine Rechenzeit, während man in der wirklichen, durchlebten Zeit immer dem gleichen Alterungsprozess unterworfen bleibt. Für die kosmische Zeit der interstellaren physikalischen Verhältnisse ist die Relativitätstheorie unhintergehbar. Für das irdische Leben unserer Weltzeit bleibt sie ohne Relevanz. Aber es geht letztlich nicht um eine Entscheidung, ob nun Bergson oder Einstein recht behält. Bergson kommt es in bester kritischer Tradition der Philosophie darauf an, dem physikalischen Diskurs seine Grenzen aufzuzeigen. Und das tut er in einer so lebendigen Sprache, dass ihm 1927 dafür der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde.
    Henri Bergson: Dauer und Gleichzeitigkeit. Über Einsteins Relativitätstheorie. Deutsche Erstübersetzung aus dem Französischen von Andris Breitling, mit einer Einleitung von Christina Vagt und einem Kommentar von Andris Breitling. Hamburg 2015 Philo Fine Arts, Fundus-Bücher 218, 432 Seiten, gebunden, 45 Euro.