Lange, sehr lange hatte es gedauert, bis eine deutsche Regierung sich 2021 dazu durchringen konnte, die Verbrechen deutscher Soldaten im heutigen Namibia, das von 1884 bis 1915 als Kolonie "Deutsch-Südwestafrika" vom Deutschen Kaiserreich beherrscht wurde, als Völkermord anzuerkennen. Das Abkommen, in dem den Volksgruppen der Herero und Nama eine Zahlung von 1,1 Milliarden Euro über 30 Jahre zugesichert wird, stieß teilweise auf Ablehnung.
Die historischen Fakten sind jedenfalls unbestritten: Die brutale Kriegsführung der kaiserlichen "Schutztruppe" hatte genozidalen Charakter, machte auch vor Frauen und Kindern nicht halt. Vor 120 Jahren begannen die mörderischen Kämpfe zwischen den entrechteten, rassistisch diskriminierten Herero und den deutschen Besatzern.
Inhalt
- Was geschah am 12. Januar 1904?
- Warum lehnten sich die Herero gegen die deutsche Kolonialmacht auf?
- Welche Verbrechen befehligte Lothar von Trotha?
- Wie wurde der Völkermord in Deutschland aufgearbeitet?
- Gibt es Initiativen zur Erinnerung an die Kolonialvergangenheit?
- Warum sehen viele Herero das Versöhnungsabkommen kritisch?
Was geschah am 12. Januar 1904?
„Der Aufstand der Schwarzen in Deutsch-Südwestafrika hat eine ernste Gestalt angenommen“, meldet das Berliner Tageblatt am 14. Januar 1904, denn der Stamm der Hereros habe „den Kriegspfad betreten“. Drei Tage später zitiert es die Depesche einer Nachrichtenagentur: „Okahandja schwer bedrängt. Windhoek selbst sehr bedroht. Zahlreiche Verluste. Landsturm eingezogen. Sofortige Hilfe erbeten. Hereros durch Plünderung gut beritten und bewaffnet.“
Überfälle auf Farmen und Handelsstationen
Am 12. Januar hatten Angehörige des Hirtenvolkes der Herero die Stadt Okahandja eingeschlossen und geplündert. Sie zerstörten eine Eisenbahnbrücke und kappten eine Telegrafenleitung – der Beginn der „Feindseligkeiten“, wie das Berliner Tageblatt schrieb, und des Herero-Aufstandes. In den folgenden Tagen überfielen bewaffnete Einheimische deutsche Farmen und Handelsstationen; sie töteten mehr als hundert Siedler und Soldaten der „Schutztruppe“.
Warum lehnten sich die Herero gegen die deutsche Kolonialmacht auf?
Das Gebiet des heutigen Namibia war seit 1884 als „Schutzgebiet“ eine Kolonie des Kaiserreichs, genannt Deutsch-Südwestafrika. Die deutschen Siedler, geschützt von Soldaten, beanspruchten große Landflächen und die fruchtbarsten Weideplätze, zogen Zäune um Wasserstellen – auf Land, über das die Herero zuvor ihr Vieh getrieben hatten. Als die Rinderpest ausbrach, sicherten sich deutsche Händler teils mit betrügerischen Mitteln große Herden der Herero. Damit sei dem Hirtenvolk die Existenzgrundlage entzogen worden, sagt Ulrich Delius, ehemaliger Direktor der Gesellschaft für bedrohte Völker.
Gleichzeitig gab es immer mehr Übergriffe von deutschen Siedlern, aber auch von Militärs auf Herero. Die Herero waren darüber sehr erbost, weil sie nirgendwo Gerechtigkeit fanden. Weil einfach deutsche Gerichte nicht bereit waren, Deutsche für Verbrechen, die sie an Afrikanern begangen, an Menschen zweiter Klasse, wie man damals dachte, auch zu ahnden. Das war eine der Hauptursachen des Herero-Aufstandes.
Ulrich Delius
Welche Verbrechen befehligte Lothar von Trotha?
Da die „Schutztruppe“ anfangs zahlenmäßig zu schwach war, um die Aufständischen zu unterwerfen, und der Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika die Lage nicht unter Kontrolle brachte, entsandte Berlin einen zu jeder Grausamkeit entschlossenen Kommandanten, der die Vernichtung der Herero propagierte: Lothar von Trotha. Der Generalleutnant führte seine Soldaten im August 1904 in die Schlacht am Waterberg, die keine Entscheidung in dem Krieg brachte. Doch die Herero-Kämpfer flohen in die Omaheke-Wüste, die Trotha abriegeln ließ - es gab fast kein Entkommen für die zahlreichen Verdurstenden. Wer auch die Wüste überlebte, wurde in Konzentrationslagern interniert und musste Zwangsarbeit verrichten. Fast die Hälfte der Gefangenen starb im ersten Jahr an den Folgen von Mangelernährung, Krankheiten und Misshandlungen.
Erster Völkermord des 20. Jahrhunderts
Nach zeitgenössischen Berichten, die der britischen Regierung zugingen, töteten deutsche Soldaten außerdem „abertausende“ Frauen und Kinder am Straßenrand. Historiker sprechen vom ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Am 2. Oktober 1904 gab Trotha seinen „Vernichtungsbefehl“: Darin kündigte er an, dass die Herero das Gebiet der Kolonie zu verlassen hätten und andernfalls getötet würden. In dem bis 1908 andauernden Krieg mit deutschen Truppen starben geschätzt etwa 65.000 Herero und 10.000 Menschen aus der Volksgruppe der Nama.
Wie wurde der Völkermord in Deutschland aufgearbeitet?
Die (kurze) deutsche Kolonialgeschichte, die bereits 1919 mit dem Versailler Vertrag endete, blieb lange Zeit relativ unterbelichtet; zu dominant waren als Forschungsthemen die beiden Weltkriege, die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Diktatur. Bahnbrechend in Bezug auf das heutige Namibia war der Sammelband „Völkermord in Deutsch-Südwestafrika“. Das Buch erschien 2004 im Verlag Ch. Links, hundert Jahre nach Beginn des Herero-Aufstandes, und fand sehr positive Aufnahme.
Vorstufe des Holocaust
Einer der Herausgeber ist der in Hamburg lehrende Historiker und Afrikawissenschaftler Jürgen Zimmerer, der die Debatte um Entschädigungen für die Nachfahren der Herero und Nama kritisch begleitet. Er sieht die in der deutschen Kolonie begangenen Verbrechen – inklusive der Einrichtung von auch damals schon so genannten Konzentrationslagern – als eine Vorstufe des Holocaust an.
2022 befasste sich eine Konferenz in Berlin mit dem Thema, ihr Titel: „Der deutsche Völkermord in Namibia – Ein Fall für Reparationen“. Der Begriff der Reparationen wurde seitens der Bundesregierung aber stets gemieden und auch aus der Übereinkunft mit Namibia herausgehalten. Schon die Anerkennung des Völkermordes durch die deutsche Bundesregierung wurde lange hinausgezögert, erst 117 Jahre nach Beginn des Herero-Aufstandes kam sie. Denn damit öffnete sich ein weites und juristisch kompliziertes Feld für die Forderungen von Nachfahren der Opfer dieses Völkermordes.
Mit der Einigung 2021 erkannte die Bundesrepublik die Verbrechen des Deutschen Reiches als Kolonialmacht und den Mord an zehntausenden Herero und Nama als Genozid an. Fast sechs Jahre hatten Regierungsdelegationen aus Namibia und Deutschland über das "Versöhnungsabkommen" verhandelt.
Deutschland will die Nachkommen der Opfer offiziell um Vergebung bitten und mit Zahlungen in Milliardenhöhe unterstützen. Deutschland verpflichtete sich mit dem Abkommen, 1,1 Milliarden Euro zu zahlen. Das Geld soll über 30 Jahre vor allem in Projekte in den Siedlungsgebieten der Herero und Nama investiert werden. Dabei soll es um die Förderung von Berufsbildung, Landwirtschaft, ländlicher Infrastruktur und Wasserversorgung sowie Landreformen gehen. Aus der Vereinbarung, die offiziell als "Gemeinsame Erklärung" der beiden Staaten firmiert, können jedoch keine rechtlichen Ansprüche auf Entschädigungen abgeleitet werden.
Gibt es Initiativen zur Erinnerung an die Kolonialvergangenheit?
Die Grünen forderten 2019 die Errichtung einer zentralen Erinnerungsstätte für die Opfer deutscher Kolonialverbrechen im Zentrum Berlins – unter Beteiligung von Nachfahren der Opfer. Und Monika Grütters (CDU), Kulturstaatsministerin in der Regierung Merkel, sagte bereits 2018: „Viel zu lange war die Kolonialzeit ein fast blinder Fleck in der Erinnerungskultur bei uns. Aber auch die aufzuarbeiten ist Teil unserer Verantwortung in Deutschland – gegenüber ehemaligen Kolonien und natürlich dann auch Voraussetzung für Versöhnung und Verständigung."
Im Koalitionsvertrag der großen Koalition hatten Union und SPD festgeschrieben, dass die deutsche Kolonialvergangenheit künftig ebenso Bestandteil der deutschen Gedenk- und Erinnerungskultur sein solle wie die NS-Vergangenheit und der DDR-Unrechtsstaat.
Warum sehen viele Herero das Abkommen kritisch?
Die im Versöhnungsabkommen angebotenen Zahlungen seien „eine schockierende Offenbarung“, „inakzeptabel“ und ein „Affront gegen unsere Existenz“, erklärten Vertreter des von der namibischen Regierung anerkannten Rates der Häuptlinge 2021. Der „beleidigende Betrag“ werde abgelehnt. Zwar begrüßte der Rat die Anerkennung des Völkermords durch die Bundesregierung, das Schuldeingeständnis für die mehr als 100 Jahre zurückliegenden Gräueltaten und die geplante Bitte um Vergebung. Die Reparationsfrage müsse jedoch neu verhandelt werden, hieß es, die geplante Unterzeichnung der Vereinbarung müsse verschoben werden. Deswegen steht die Ratifizierung des Versöhnungsabkommens durch Namibia noch aus.
Der namibische Oppositionspolitiker Bernadeus Swartbooi klagte im Januar 2023 gegen das seiner Meinung nach rechtswidrig zustande gekommene Abkommen und zog gegen den Sprecher der Nationalversammlung vor Gericht, da das Parlament nicht ausreichend beteiligt worden sei.
Nachfahren der Opfer stellten keine homogene Gruppe dar
Für die Bundesregierung aber kommt eine Aufschnürung und neue Verhandlung des Abkommens nicht in Frage. "Die Bundesregierung und die namibische Regierung halten an der gemeinsamen Erklärung fest und sind der Auffassung, dass noch offene Fragen im Wege von Nachverhandlungen zu klären sind", hieß es in der Antwort auf eine kleine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen. Diese offenen Fragen würden "in vertraulichen Gesprächen" geklärt. Eine Möglichkeit des Entgegenkommens wäre, dass die zugesagten Gelder in einem kürzeren Zeitraum als über 30 Jahre verteilt fließen könnten.
Für den Gründer des kleinen Genozid-Museums in Swakopmund, Laidlaw Peringanda, geht es aber um viel mehr als Geld: "Wir wollen, dass unsere Würde wiederhergestellt wird. Wir haben unser Vieh und unseren Reichtum verloren. Nach dem Völkermord ging der Besitz der Nama und Herero an deutsche Siedler und Kolonialsoldaten. Sie profitierten vom Wohlstand unserer Vorfahren. Darum geht es, wenn wir von einer Wiederherstellung der Würde reden. Viele von uns leben heute in Armut, in informellen Siedlungen – auch eine Art Konzentrationslager."
scr