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Hernan Diaz: "In der Ferne"
Postheroisch verrutscht

Für seinen Debütroman war der in Argentinien geborene und in Schweden aufgewachsene Hernan Diaz für den Pulitzer Prize nominiert. Nun ist "In der Ferne" in deutscher Übersetzung erschienen – eine mythisch aufgeladene Heldengeschichte im postheroischen Zeitalter.

Von Christoph Schröder | 25.06.2021
Buchcover Hernan Diaz: "In der Ferne"
Hernan Diaz hat einen Neo-Western geschrieben (Buchcover: Hanser Berlin, Hintergrund: IMAGO / robertharding / Michael Runkel)
"In der Ferne" eröffnet mit einer spektakulären Szene. Von einem im arktischen Eis eingeschlossenen Schoner aus beobachtet die Crew einen Mann, der sich nach einem Bad durch ein Loch im Eis an die Oberfläche zieht. Der Mann ist vollkommen nackt, riesengroß, hat lange weiße Haare und einen ebensolchen Bart. Die jüngeren Männer machen sich zunächst über ihn lustig, doch sein Ehrfurcht gebietendes Auftreten bringt sie schnell zum Schweigen. Der Mann nennt seinen Namen, er heißt Håkan, und beginnt, seine Lebensgeschichte zu erzählen.
Bereits die Ausgangskonstruktion ist zumindest fragwürdig: Die Lebensgeschichte jenes Håkan, der nur "The Hawk", also "der Falke" genannt wird, wird in der dritten Person und in einer elaborierten, bildreichen und mythisch angetönten Sprache dargeboten. Der Hawk selbst verfügt nur über rudimentäre Englischkenntnisse. Wer aber, wenn nicht er, sollte es innerhalb der Logik des Romans sein, der die Geschichte überhaupt erzählt?
Håkan, so erfahren wir, wächst in ärmlichen Verhältnissen auf einem Bauernhof in Schweden auf. Als der Vater etwa Mitte der 1840er-Jahre durch einen kleinen Betrug zu etwas Geld kommt, investiert er es in zwei Schiffstickets nach Übersee, die er seinen beiden Söhnen übergibt. Håkan und Linus sollen in Amerika zu Glück und Wohlstand kommen.

Der Western, ironiefrei

Bereits bei der Einschiffung nach Portsmouth verlieren die beiden sich aus den Augen. Håkan besteigt versehentlich ein Schiff nach San Francisco; sein Bruder, so vermutet Håkan, landet an der Ostküste. Håkan macht sich nun auf den langen Weg von Westen nach Osten, in die entgegengesetzte Richtung der großen Siedlertrecks, um seinen Bruder zu suchen.
"In der Ferne" ist ironiefreier Western, Bildungsroman und Abenteuer- und Heldengeschichte zugleich. Hernan Diaz zieht alle möglichen und auch unmöglichen Register, um den Weg des Hawk durch eine archaische, von den Gesetzen der Gewalt und der niederen Instinkte beherrschte Landschaft so aufgeladen wie möglich zu gestalten – und landet dabei immer wieder in den sprachlichen Plattitüden.
Das klingt dann so: "Die Landschaft, die ihm so leer erschienen war, wurde ein stetig wachsendes Mysterium." Oder auch so: "Der Himmel war so hart und verlassen wie das Land."
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"In der Ferne" ist ein missglücktes Buch, und das aus mehreren Gründen. Zum einen wandelt Diaz mit dem Mythos des einsamen Mannes, der sich gegen die Widrigkeiten der Natur und das grundböse Wesen der Menschen zu behaupten hat, auf den Spuren der ganz großen Schriftsteller, von Herman Melville über Joseph Conrad bis hin zu Cormac McCarthy. Gerade dessen meisterhafte Border-Trilogie kommt einem bei der Lektüre dieses Romans immer wieder als leuchtendes Gegenbeispiel in den Sinn.

Der Western, epigonal

Zum anderen stellt sich recht bald das unangenehme Gefühl ein, das Diaz in einer Aneinanderreihung brutaler und drastischer Szenen die Reize des Ekels abschöpft und diese ins Licht des Erhabenen rückt, ohne dabei einen literarischen Mehrwert zu erzielen. Im Gegenteil: Diaz Sprache tönt über weite Strecken vorsätzlich bedeutungsschwanger und zugleich pathetisch hohl: "Der Tag brach nicht an, die Schwärze erblasste nur."
Es ist ein Stationendrama, das Håkan durchläuft. Er schließt sich einem Goldgräber an, wird immer wieder mit Betrügern und windigen Abenteurern konfrontiert und reift durch die Begegnung mit wissenschaftlich interessierten Pionieren zu einem Menschen heran, der über besondere medizinische Fähigkeiten entwickelt. Zum Mythos wird der Hawk in einer unübersichtlichen Schlacht, in der er den ihm zugehörigen Treck verteidigt und dabei in Notwehr mit Hilfe seiner ungeheuren Kräfte eine Vielzahl von Menschen tötet. Ab diesem Zeitpunkt wird er, wie er bald erfährt, steckbrieflich als Mörder gesucht und meidet die Menschen.

Der Western, abgestürzt

Man darf Hernan Diaz zugute halten, dass er den Versuch unternimmt, den Mythos des Wilden Westens und seiner Besiedlung immer wieder zu durchbrechen. Das letzte Drittel des Romans, das bereits nach dem Sezessionskrieg spielt, ist eindeutig das Stärkste.
Eines Tages sieht der Hawk sich selbst und sein Leben in einer grotesken Laienaufführung gespiegelt: "Der Riese saß auf einer Kiste und trank aus einer Feldflasche. Sein Löwenfell war eine groteske Fälschung aus zusammengeflickten Nagetierkadavern und Wolle. Er trug Stelzen."
Der Hawk ist, so erkennt er selbst, bereits zu Lebzeiten zu einer herunter gekommenen Theaterfigur geworden. In solchen Passagen wird deutlich, dass Diaz ein literaturtheoretisch geschulter Autor ist. Doch "In der Ferne" ist in seinem Anspruch, im postheroischen Zeitalter eine weltliche Legende aufzubauen, ebenso gescheitert wie in dem Versuch, das Porträt eines Menschen zu entwerfen, den die Entwurzelung und die Heimatlosigkeit auf einem Kontinent erfassen, auf dem alle anderen sich gerade eine neue Heimat schaffen. Auf dem schmalen Grat zwischen Pathos und unfreiwilliger Komik stürzt Diaz allzu oft ab.
Hernan Diaz: "In der Ferne"
Aus dem Englischen von Hannes Meyer
Verlag Hanser Berlin, 304 Seiten, 24 Euro.