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"Herr Erdogan will gar nicht mehr in die Europäische Union"

Die Demonstranten in der Türkei verhielten sich zutiefst europäisch, sagt Cem Özdemir. Ministerpräsident Erdogan nehme aber Staaten wie Dubai zum Vorbild. Gerade deshalb hält der Vorsitzende der Grünen jetzt ernsthafte EU-Beitrittsverhandlungen für nötig.

Cem Özdemir im Gespräch mit Christiane Kaess | 13.06.2013
    Christiane Kaess: Fast zwei Wochen halten die Massenproteste in der Türkei jetzt schon an und schon längst geht es der Protestbewegung nicht mehr nur um einen zentralen Platz in Istanbul, sondern um den Stil der Regierung, der immer mehr als autokratisch empfunden wird. In Istanbul haben die ganze Nacht lang mehrere Hundert Demonstranten auf dem Taksim-Platz ausgeharrt. Sie wollten sich also nicht an die Aufforderung der Regierung halten, den Platz zu räumen.

    In der vergangenen Nacht ist es weitestgehend ruhig geblieben. Die Regierung hat zwar angekündigt, weiter gegen die Demonstranten vorzugehen. Auf der anderen Seite signalisiert Ministerpräsident Erdogan Gesprächsbereitschaft. Die Regierung ist anscheinend zu einem Referendum über die Umgestaltung des Gezi-Parks in Istanbul bereit. Außerdem hat sich Erdogan gestern erstmals mit Vertretern der Bewegung zu einem Gespräch getroffen. Am Telefon ist Cem Özdemir, Vorsitzender der Grünen. Guten Morgen!

    Cem Özdemir: Guten Morgen, Frau Kaess!

    Kaess: Herr Özdemir, Gespräche mit Demonstranten und die Möglichkeit eines Referendums auf der einen Seite und auf der anderen Seite das harte Vorgehen gegen die Demonstranten. Ist das eine Politik von Zuckerbrot und Peitsche?

    Özdemir: Das ist die traditionelle Politik in der Türkei, wie sie schon seit dem Untergang des Osmanischen Reichs gemacht wird. Der Staat zeigt: Ihm gehören öffentliche Räume, nicht den Bürgerinnen und Bürgern, und die Bürger haben sich gefälligst zu fügen. Ab und zu mal ist der Staat nett und verteilt milde Gaben und danach zeigt er wieder sein wahres Gesicht.

    Kaess: Was steckt dahinter, eine Unsicherheit?

    Özdemir: Es ist kein Zeichen von Stärke, die Reaktion von Herrn Erdogan. Wenn er sich seiner Sache sicher wäre, hätte er es aussitzen können. Er merkt aber, dass ihm das entgleitet, dass sogar Kinder von Abgeordneten seiner eigenen Fraktion ganz offensichtlich teilgenommen haben sollen, wie man jetzt in türkischen Zeitungen nachlesen kann. Dass Frauen mit Kopftuch sogar auf dem Platz sich fanden, zeigt, das geht zunehmend auch in seiner eigenen Anhängerschaft.

    Kaess: Das heißt, wie bewerten Sie jetzt dieses doch etwas überraschende Angebot für ein Referendum?

    Özdemir: Ganz offensichtlich gibt es in seiner Partei, aber vor allem auch bei Unternehmern, die ihn unterstützen, Angst, dass das Erfolgsmodell der Türkei, nämlich das wirtschaftliche Wachstum, gefährdet wird. Herr Erdogan überzieht gnadenlos, indem er das ganze Land mit Bauprojekten vollpackt, gleichzeitig aber eben auch religiös motivierte Äußerungen macht, indem er den Leuten sagt, wie viele Kinder sie haben sollen, dass sie nicht mehr Händchen haltend aus der U-Bahn steigen sollen. All das führt dazu, dass immer mehr Leute das Gefühl haben, der Erdogan entwickelt sich zunehmend zu einem autoritären Herrscher, der sich in die privatesten Lebensbelange einmischt.

    Kaess: Könnte also vor diesem Hintergrund, den Sie jetzt gerade beschrieben haben, ein Referendum eine Lösung des Konflikts überhaupt sein?

    Özdemir: Normalerweise ja. Unter den gegebenen Bedingungen darf man da sehr skeptisch sein.

    Kaess: Erdogan hat sich ja gestern mit Gesprächspartnern der Demonstranten getroffen. Die hat er sich allerdings selbst ausgesucht, und deshalb sind viele Demonstranten skeptisch, was diese Gespräche betrifft. Wie ernst gemeint, glauben Sie, ist denn dieser Versuch zum Dialog?

    Özdemir: Die Twitter-Nachrichten sind sehr eindeutig. Die Demonstranten verlassen sich da ja nicht nur auf die klassischen Medien, sondern verständigen sich darüber, und die sind doch sehr vernichtend. Damit wird er es nicht schaffen, dass die den Platz wieder räumen.

    Kaess: Herr Özdemir, bei allem, was Sie jetzt sagen, das hört sich so an: Die Türkei ist auf einem Weg in die Autokratie?

    Özdemir: Erdogan ist auf dem Weg in die Autokratie, oder er ist da schon angekommen. Ob es alle anderen sind, da kann man noch ein Fragezeichen machen. Der Staatspräsident Gül äußert sich sehr hilfreich und versucht, zu deeskalieren, wo er kann. Auch in seiner eigenen Partei oder bei seiner Anhängerschaft gibt es viele, die sich Sorgen machen um den Kurs. Nur wir haben es mit einem Ministerpräsidenten zu tun, der nicht mehr zuhört, ein Ministerpräsident, der keine Berater um sich herum hat, die ihm erzählen, was im Land wirklich passiert, sondern nur, wie toll er ist. Das ist eine sehr, sehr gefährliche Ausgangsbasis: Ein Ministerpräsident, der sich zunehmend entfernt von der Wirklichkeit seines Landes.

    Kaess: Und welche Rolle können dann Persönlichkeiten wie zum Beispiel Staatspräsident Gül spielen?

    Özdemir: Er ist jetzt bereits gestärkt, denn eigentlich sollte er ausrangiert werden. Der Ministerpräsident wollte eine Art Präsidialdemokratie errichten. Nachdem er dreimal Ministerpräsident war und aufgrund der Satzung der eigenen Partei nicht noch mal Ministerpräsident werden kann, war die Idee, dass er Staatspräsident wird und zugleich die Verfassung so ändert, dass der Staatspräsident quasi alle Kompetenzen hat. Das wird jetzt sicherlich sehr viel schwieriger werden, dafür noch Mehrheiten zu bekommen und Zustimmung zu bekommen. Aber das alleine macht die Türkei noch nicht zu einer westlichen Demokratie. Dazu muss gehören, dass man akzeptiert, dass wer eine parlamentarische Mehrheit hat, nicht über die Opposition verfügen kann, wie er will, und dass man vor allem als Ministerpräsident akzeptieren muss, dass es eine kritische Opposition gibt, kritische Medien, die einen auch mal kritisieren dürfen. Das ist keine Majestätsbeleidigung in der Demokratie.

    Kaess: Kann ein Land, in dem sich solche Dinge abspielen auf der Straße, wie wir jetzt in den letzten Tagen gesehen haben, und in dem es auch Vorfälle gibt, um noch ein paar weitere zu nennen, wie jetzt gerade erst im Istanbuler Justizpalast, wo mehrere Dutzend Anwälte gewaltsam in Polizeigewahrsam genommen wurden, wo der Gouverneur von Istanbul davon spricht, von einer Operation gegen soziale Medien, und wo Twitterer festgenommen werden, die über Proteste berichten, kann so ein Land Beitrittsverhandlungen mit der EU führen?

    Özdemir: Der Gouverneur hat sicherlich keinen Platz in der Europäischen Union, auch nicht die Polizei mit ihrem unverhältnismäßigen Einsatz. Die bewerben sich, glaube ich, eher in einer anderen Liga mit östlichen oder südöstlichen Nachbarländern. Ich dachte immer, die Türkei will Vorbild werden für die Region, was Demokratie angeht, und nicht, was gewaltsame Polizeieinsätze angeht. Aber die Menschen, die dort demonstriert haben, die verhalten sich zutiefst europäisch. Die jungen Leute sind nicht anders wie unsere jungen Leute. Die wollen Ökologie, wollen Schutz der Natur, die wollen Demokratie und Freiheit. Wenn das nicht europäisch ist, was ist es dann?

    Kaess: Die Protestbewegung scheint aber eine Minderheit zu sein.

    Özdemir: Ja, eine wachsende Minderheit. Alles fängt ja damit an, dass einige sich trauen in einer Situation, wo viele sich nicht mehr trauen. Und jetzt ist eben die Frage: Wen bestrafen wir? Ich glaube, Herr Erdogan würde sich freuen, wenn sich die CSU bei uns durchsetzt, denn dann kann er schalten und walten, wie er möchte.

    Kaess: Aber noch mal zu den Beitrittsverhandlungen konkret. Warum sollte denn die EU die Türkei reformieren, anstatt die Türkei sich von innen heraus? Was versprechen Sie sich von einer Fortführung der Beitrittsverhandlungen?

    Özdemir: Sie hat ja bereits Erstaunliches geleistet in der Frühphase von Herrn Erdogan, und dann kippte das leider ins Gegenteil. Ich könnte mir gut vorstellen, wie das Herr Polenz von der CDU gesagt hat, dass man beispielsweise anfängt mit dem Justizkapitel. Damit könnte man Ankara sicherlich auch ein bisschen ärgern, indem man nun genau über diese Themen verhandelt, mit denen sich Herr Erdogan schwertut.

    Kaess: Sie glauben, die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen wäre eher eine Unterstützung der Demonstranten, wenn ich Sie da richtig verstehe?

    Özdemir: Es geht nicht um ein "weiter so", dass man einfach so tut, als ob man verhandelt. Wir verhandeln ja nicht wirklich mit der Türkei über die Mitgliedschaft. Frau Merkel und die Europäische Union tun so, als ob sie über die Mitgliedschaft verhandeln würden, und Herr Erdogan tut so, als ob er Mitglied werden möchte. Ich würde das gerne ändern. Ich würde ernsthaft verhandeln und ich würde Herrn Erdogan zwingen, dass er sich entscheidet: Will er in die Europäische Union oder nicht. Ich habe das Gefühl, Herr Erdogan will gar nicht mehr in die Europäische Union. Sein Land will es ganz offensichtlich.

    Kaess: Und wie sollte sich die EU jetzt verhalten? Ganz konkret: Es steht ja an, dass ein neues Kapitel in den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei geöffnet werden soll. Sollte das passieren in den kommenden Tagen, so wie es gedacht ist, oder nicht?

    Özdemir: Eben! Ich würde das Justizkapitel eröffnen, um dann eben genau über solche Fragen zu reden, wie wir uns einen Rechtsstaat vorstellen, und dann bin ich mal sehr gespannt zu hören, wie die Anhänger von Herrn Erdogan sich den Rechtsstaat vorstellen. Da werden wir wahrscheinlich merken, dass wir da doch erhebliche Unterschiede haben. Aber das würde in der Türkei eine Dynamik ermöglichen, dass dann nämlich klar wird, dass Herr Erdogan, der immer von der Europäischen Union will, eigentlich so richtig gar nicht begeistert ist von der Idee.

    Kaess: Was die Beitrittsverhandlungen betrifft, das sehen manche anders als Sie. Elmar Brok zum Beispiel, der Chef des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament, der sagt: Die Öffnung eines neuen Verhandlungskapitels zum jetzigen Zeitpunkt wäre eine Beleidigung für die inhaftierten Demonstranten.

    Özdemir: Ich nehme zur Kenntnis, dass die Union gerade zu Zeiten des Kalten Krieges, als in der Türkei Hunderttausende in den Folterkellern verschwanden, da habe ich vergleichbare Töne nicht gehört. Insofern ist die Glaubwürdigkeit der Union, was solche Dinge angeht, doch eine etwas eher nachgeordnete bei dieser Frage. Ich habe viele Freunde, die dort auf dem Taksim-Platz demonstrieren, und wenn man die fragt, das gilt aber auch für die christliche Minderheit in der Türkei, das gilt für die Aleviten, das gilt für alle, die sich für Demokratie einsetzen, die sagen, bitte lasst uns gerade jetzt nicht alleine. Herr Elmar Brok will sie alleine lassen, ich nicht.

    Kaess: Aber war es nicht eher ein Fehler der EU, die Beitrittsverhandlungen überhaupt aufzunehmen, weil ja in der Tat Hoffnungen geweckt worden sind, die gar nicht erfüllt werden?

    Özdemir: Das müssen Sie die Parteifreunde von Herrn Brok fragen. Ich lebte damals gar nicht. Das waren damals Konrad Adenauer, Walter Hallstein …

    Kaess: Aber Sie sind ja sogar in einer jetzigen Situation noch für die Fortführung der Beitrittsverhandlungen.

    Özdemir: Ich bin ganz in der Tradition deutscher Außenpolitik dafür, dass man sich hält an das, was man mal versprochen hat, und das Versprechen wurde gegeben von ganz prominenten Christdemokraten, auf die sich Frau Merkel beruft, und die haben damals gesagt, wenn die Voraussetzungen vorliegen, kommt ihr rein, und daran gilt es festzuhalten. Aber die Voraussetzungen liegen gegenwärtig eindeutig nicht vor, das muss man auch sagen. Die Voraussetzungen zu erfüllen, das muss Ankara machen, und da bin ich eher strenger wie die Union. Die Union hat ja auch kein Problem gehabt, Rumänien und Bulgarien aufzunehmen. Ich hätte damit ein Problem gehabt.

    Kaess: Wie groß ist denn, Herr Özdemir, auf der anderen Seite Ihre Sorge, dass die Türkei anstatt in Richtung EU sich bald in Richtung Naher Osten orientieren könnte?

    Özdemir: Ich glaube, was Herrn Erdogan eher vorschwebt ist, dass er so eine Art Dubai-Modell oder Singapur-Modell aus der Türkei machen möchte. Das heißt: Wirtschaftlicher Erfolg durch viele, viele Bauprojekte – ob die Bauprojekte sinnvoll sind, vor allem, ob sie schön sind, sei mal dahingestellt. Da kann man ein großes Fragezeichen machen. Und Demokratie ist dann eher nachrangig. Ich glaube aber, das wird nicht funktionieren, denn wirtschaftlicher Erfolg braucht auf Dauer einen Rechtsstaat, braucht auf Dauer Demokratie, sonst zieht sich ausländisches Kapital, sonst ziehen sich fremde Investoren zurück.

    Kaess: Die Einschätzung von Cem Özdemir, er ist Vorsitzender der Grünen. Danke für das Gespräch heute Morgen.

    Özdemir: Gerne!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.