
Am 6. August 1945 wirft ein US-amerikanischer Bomber die erste jemals kriegerisch eingesetzte Atombombe über der japanischen Stadt Hiroshima ab.
Drei Tage später, am 9. August 1945, wird eine zweite Bombe über Nagasaki abgeworfen. Die genauen Opferzahlen sind bis heute unklar, Schätzungen reichen bis zu 350.000 Todesopfern in beiden Städten zusammen.
Die Abwürfe führen der ganzen Welt das zerstörerische Potenzial der Atomwaffen vor Augen. Dennoch beginnt im Verlauf des Kalten Kriegs ein massives nukleares Wettrüsten, vor allem der beiden größten Atommächte, USA und Sowjetunion. Heute gibt es weltweit insgesamt neun Kernwaffenstaaten.
80 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki verblassen aber die Schreckensbilder von damals im öffentlichen Bewusstsein – Experten wie das Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri warnen vor einem neuen atomaren Wettrüsten: Fast alle Länder mit Atomwaffen modernisierten und erweiterten derzeit ihre nuklearen Arsenale, so das Institut. Auch Japan richtet seine Sicherheitspolitik neu aus – und rüstet konventionell wieder auf. Gesellschaftlich ist das umstritten.
Pazifismus als Lehre aus den Schrecken des Krieges
Wenige Tage nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki verkündet Japan seine bedingungslose Kapitulation.
Ein gutes Jahr später, im November 1946, verabschiedet das Land seine neue Verfassung – und zieht darin die Lehre aus den Schrecken des Krieges: Japan verzichtet auf den Unterhalt einer Armee und grundsätzlich auf jegliche Kriegsführung. So steht es in Artikel 9. Der Gedanke dahinter: Als Aggressor im Zweiten Weltkrieg, der zudem die Zerstörungskraft der Atombomben erlebt hatte, müsse Japan nun Vorbild sein auf dem Weg in eine friedlichere Welt.
Die pazifistische Neuorientierung des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg wird dennoch von der Frage begleitet, wie die Sicherheit Japans gewährleistet werden kann. Nach Kriegsende besetzen zunächst die Alliierten das Land, wobei die USA den Großteil der Besatzungstruppen stellen. Der Friedensvertrag von San Francisco gibt Japan 1951 seine nationale Souveränität zurück und beendet die amerikanische Besatzung.
Ein Jahr später schließen Japan und die USA ein erstes Sicherheitsabkommen, das später durch Folgeabkommen ersetzt wird. Die USA verpflichten sich darin, Japan bei einem Angriff zu verteidigen, während Japan die USA wegen des Artikels 9 nicht militärisch unterstützen darf, dafür aber verpflichtet ist, US-amerikanische Streitkräfte auf seinem Boden zu dulden und zu deren Unterhalt beizutragen. 1954 gründet Japan ein Militär, das sich aufgrund der pazifistischen Verfassung „Selbstverteidigungsstreitkräfte“ nennt.
Anders als die meisten Staaten der EU ist Japan nicht in ein multilaterales Verteidigungsbündnis wie die NATO eingebunden. Umso wichtiger ist das Sicherheitsabkommen mit den USA für das asiatische Land. Derzeit sind rund 54.000 US-Soldaten in Japan stationiert, ebenso ein Flugzeugträgerverband.
Der Friedensgedanke ist dennoch in der japanischen Gesellschaft weit verbreitet. „Das Wort Frieden ist in der japanischen Nachkriegsgeschichte absolut zentral für das Selbstverständnis der Japaner,“ sagt Sven Saaler, Leiter des Tokio-Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bis heute gebe es in Japan sehr viele zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich der Abrüstung, der Friedensschaffung und der Friedenspolitik widmeten. In den Schulen würden jedes Jahr verpflichtend ein paar Stunden Friedenserziehung abgehalten.
Zu den pazifistischen Gruppen gehört beispielsweise die Organisation Nihon Hidankyo, deren Aktivisten seit Jahrzehnten an Schulen und Universitäten gehen und vor internationalen Gremien berichten. Ihr Ziel: dass sich Hiroshima und Nagasaki niemals wiederholen. Für ihren Einsatz für eine atomwaffenfreie Welt wurden sie 2024 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.
Der Vorsitzende Terumi Tanaka ist im ganzen Land bekannt. Er glaubt, dass die Gefahr eines atomaren Krieges heute so hoch ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr: "Politiker glauben nicht, dass es mit den Atomwaffen, die sie besitzen, auch wirklich einen Krieg geben könnte. Diese Leute irren sich. Es besteht immer das Risiko, dass alles, was existiert, auch eingesetzt wird.“
Wandel in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik
Ab Mitte der 2010er-Jahre beginnt unter dem nationalistischen Premierminister Shinzo Abe ein grundlegender Wandel in der japanischen Sicherheitspolitik. Der Verteidigungsindustrie werden Rüstungsexporte genehmigt, Japans Selbstverteidigungskräften werden bewaffnete Einsätze im Ausland erlaubt. Das Land erlebt eine Abkehr vom traditionellen Pazifismus der Nachkriegszeit.
Die Gründe für diesen Wandel sind vielfältig: Einerseits wird Chinas Expansion vor allem im Pazifischen Ozean von Japan als bedrohlich empfunden. Auch gibt es den Wunsch, die verteidigungspolitische und damit auch diplomatische Abhängigkeit von den USA zu verringern. Viele Menschen in Japan stehen dem bisherigen militärischen Übergewicht von US-Soldaten im Land skeptisch gegenüber.
Im Dezember 2022 verkündet der damalige Premierminister Fumio Kishida historische Investitionen in den Wehretat im Rahmen einer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie. Die Regierung beschließt eine deutliche Erhöhung des Verteidigungsbudgets auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Umgerechnet bis zu 300 Milliarden Euro sind in den kommenden fünf Jahren vorgesehen.
Die Gründe: Japan sehe sich dem „ernstesten und komplexesten Sicherheitsumfeld seit dem Zweiten Weltkrieg“ gegenüber, heißt es in der Nationalen Sicherheitsstrategie. Das Land sieht sich mit drei Nuklearmächten unmittelbar konfrontiert – Nordkorea, China und Russland. Verteidigungsexperten des Landes verweisen besonders auf den aufrüstenden Nachbar China, der damit droht, Taiwan anzugreifen. Und auf Nordkorea, das mit seinem Atomprogramm auch mit einem Angriff auf Südkorea droht.
Die Haltung der japanischen Gesellschaft zum Pazifismus heute
Die japanische Gesellschaft ist in den Sicherheitsfragen gespalten: Umfragen haben wiederholt ergeben, dass die Menschen im Land überwiegend für den Erhalt von Artikel 9 ihrer Verfassung sind. Gleichzeitig wünscht sich seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine eine Mehrheit der Japaner mehr Ausgaben für die nationale Verteidigungsfähigkeit.
Intellektuelle wie der Ökonom Shinjiro Hagiwara sehen die neue Sicherheitspolitik kritisch: „Vordergründig heißt es, Japan werde seine Verteidigungsorientierung beibehalten, aber in Wirklichkeit wird darüber nachgedacht, wie man die Initiative ergreifen kann, um die Militärbasen anderer Länder anzugreifen. Japan hat nicht aus seiner Geschichte gelernt.“
Die Politikberaterin Sayo Saruta betont dagegen die Zerrissenheit Japans bei den Themen Pazifismus und Aufrüstung. Artikel 9 der Verfassung gelte zwar formal noch, werde aber längst nicht mehr eingehalten, sagt sie. 75 Prozent der Japaner unterstützten zwar den internationalen Vertrag zum Verbot von Atomwaffen. Doch gleichzeitig verlasse sich Japan sehr stark auf eine Atommacht und ihre Waffen, nämlich die Vereinigten Staaten.
Im Parlament und in der politischen Klasse in Japan ist die Zustimmung zur Aufrüstung deutlich stärker geworden, meint Sven Saaler von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Auch Teile der Opposition würden anerkennen, dass Japan mehr Militärkräfte brauche.
csh