Samstag, 27. April 2024

Atomwaffen
Wie sinnvoll ist atomare Abschreckung?

Seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine und Russlands Drohungen ist die Debatte um Atomwaffen als Abschreckung neu entfacht. Zudem nimmt die Zahl einsatzfähiger Atomsprengkörper weltweit zu. Abschrecken oder abrüsten - was führt zu mehr Sicherheit?

18.02.2024
    Historische Luftaufnahme des Atompilz über Hiroshima kurz nach Abwurf der "Little-Boy"-Bombe.
    Noch heute leiden viele Menschen an den Folgen der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki im August 1945. (imago images / United Archives International / imago stock&people via www.imago-images.de)
    Am 6. August 1945 warfen die USA erstmals eine Atombombe über der japanischen Stadt Hiroshima ab, um das Ende des Zweiten Weltkriegs zu beschleunigen. Drei Tage später explodierte die zweite Atombombe in Nagasaki. Je nach Schätzung starben bei den beiden Abwürfen bis zu 250.000 Menschen. Noch immer leiden zahlreiche Menschen in der Region an den gesundheitlichen Spätfolgen. Seitdem gab es immer wieder politische Bemühungen, abzurüsten.
    Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die Angst vor nuklearen Angriffen erneut aufleben lassen und damit auch die Frage: Brauchen wir die Massenvernichtungswaffen zur Abschreckung? Während Befürworter argumentieren, dass Atomwaffen Frieden sichern, hat die Gegenseite nur ein Ziel: sie abzuschaffen.

    Inhalt

    Zeit der atomaren Abrüstung

    Im Kalten Krieg begann ein beispielloses Wettrüsten zwischen den USA und der Sowjetunion, begleitet von zahlreichen atomaren Tests. Gleichzeitig begann die Diskussion über Abrüstung und Kontrolle. Verschiedene Abrüstungsverträge wurden seitdem ins Leben gerufen, um die Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern. Mit Erfolg: Seit Hiroshima und Nagaski hat es keine Atombombenabwürfe mehr gegeben.

    Wiederholt sich das globale Wettrüsten?

    Trotz der Abrüstungsbemühungen ist die Gefahr einer nuklearen Eskalation heute so groß geworden wie seit dem Ende des Kalten Kriegs nicht mehr. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in die Ukraine 2022 versucht der russische Präsident Wladimir Putin den Westen mit atomarer Drohung von der Unterstützung der Ukraine abzuhalten.
    Und damit nicht genug: Immer mehr Stimmen fordern neue Atomwaffen in Europa, darunter auch der ehemalige grüne Außenminister Joschka Fischer. Die EU brauche seiner Meinung nach eine eigene atomare Abschreckung, solange man einen Nachbarn wie Russland habe.
    Weltweit ist derzeit die atomare Aufrüstung zu beobachten. Zwar gibt es insgesamt weniger Atomwaffen, doch die Zahl der einsatzfähigen Sprengköpfe nimmt zu. Das geht aus dem diesjährigen Bericht des schwedischen Friedensforschungsinstituts Sipri hervor. USA und Russland hätten demnach umfangreiche und kostspielige Modernisierungsprogramme auf den Weg gebracht. Die beiden militärischen Supermächte verfügen nach wie vor über fast 90 Prozent aller Atomwaffen weltweit.
    Und auch die übrigen offiziellen und De-Facto-Atommächte Frankreich, Großbritannien, China, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea modernisieren laut Sipri derzeit ihre Waffenarsenale. Insbesondere China investiert demnach seit einigen Jahren massiv in diesem Bereich. Experten sind zudem besorgt, mit welcher Geschwindigkeit Nordkorea sein Atom- und Raketenprogramm vorangetrieben hat. Nach Angaben der Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (Ican) stiegen die Ausgaben für Atomwaffen 2022 weltweit das dritte Jahr in Folge.

    Was versteht man unter atomare Abschreckung?

    Hinter dem Besitz von Atomwaffen steckt das Konzept der nuklearen Abschreckung. Dieses soll verheerende Atombombeneinsätze, wie das in Hiroshima und Nagasaki verhindern ‒ sagen zumindest deren Befürworterinnen und Befürworter. In dieser Theorie wird vom “Gleichgewicht des Schreckens” ausgegangen: Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter.

    Was spricht für atomare Abschreckung, was spricht dagegen?

    Ein zentrales Ziel der atomaren Abschreckung: die Sicherung des Friedens. Carmen Wunderlich, Politikwissenschaftlerin an der Universität Freiburg stimmt dieser Argumentation nicht zu. In der Geschichte habe es immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Kernwaffen besitzenden Staaten gegeben. „Denken Sie an Indien und Pakistan, die ja seit Jahren in militarisiertem Konflikt miteinander stecken und wir können hier von Glück sprechen, dass es nicht zu einem nuklearen Schlagabtausch gekommen ist“, sagt Wunderlich.
    Trotz der angeblich abschreckenden Wirkung ihrer Atomwaffen würden diese Staaten immer wieder von Akteuren ohne Atomwaffen konventionell angegriffen. Jüngstes Beispiel sei der Angriff der Hamas auf Israel. Atomwaffen haben laut Wunderlich weder den USA geholfen, ihre Ziele in den Kriegen in Irak‒ und Afghanistan zu erreichen, noch hat die Sowjetunion bei deren Krieg in Afghanistan den erwünschten Erfolg gehabt.
    Auch David Barash, emeritierter Psychologie-Professor der University of Washington ist von dem Konzept der atomaren Abschreckung nicht überzeugt. Es gehe davon aus, dass man einen potenziellen Gegner mit der Androhung schrecklichster Konsequenzen in Angst und Schrecken versetzen könne. In der Regel geschehe dies in Krisenzeiten mit hohem Zeitdruck. Dass sich der Gegner unter diesen Umständen komplett logisch und rational verhalte, bezweifelt Barash.
    „Dieses Verständnis menschlicher Psychologie stimmt überhaupt nicht. Menschen handeln aus allen möglichen Gründen, von denen rationales Kalkül nur einer ist. Menschen können auch aus Wut, Angst oder Rache reagieren. Es gibt jede Menge emotionale, irrationale Gründe“, sagt der Psychologe.
    Er ist überzeugt: Die nukleare Abschreckung mache einen Atomkrieg eher wahrscheinlicher als unwahrscheinlicher. Ein Beispiel dafür sei die Kubakrise 1962. Nachdem die Sowjetunion Atomraketen auf Kuba stationiert hatte, war die Welt einem Atomkrieg erschreckend nahe.

    Sichert atomare Abschreckung Frieden?

    Jonas Schneider, Atomwaffen-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik ist von dieser Argumentation nicht überzeugt. Seiner Meinung nach sei die Kuba-Krise mit der Gegenwart nicht zu vergleichen. Heute gebe es anders als 1962, Gesprächskanäle für Krisenkommunikation abseits der Öffentlichkeit, weswegen das Risiko für unbeabsichtigte Atomschläge gering sei.
    Insbesondere der russische Angriffskrieg auf die Ukraine zeigt laut Schneider in doppelter Hinsicht, wie wirksam nukleare Abschreckung ist. Russland würde in einer nicht-nuklearen Welt seiner Meinung nach offensiver dagegen vorgehen, dass Waffenlieferungen über Polen in die Ukraine gelangen. „Russland kann hiergegen aber nicht militärisch vorgehen, weil Polen NATO-Territorium ist, und wenn Russland militärisch angreifen würde die polnischen Basen an der ukrainischen Grenze, müsste es zumindest befürchten, einen nuklearen Gegenschlag auszulösen“, erklärt Schneider. Da Polen also als NATO-Mitglied auch durch US-Atomwaffen geschützt sei, handele Russland deutlich vorsichtiger.
    Der Psychologe David Barash widerspricht. Atomwaffen seien Teil psychologischer Kriegsführung. Niemand könne garantieren, dass Putins Atomdrohungen wirklich nur eine Täuschung seien. Der Westen dürfe sich auch nicht von solchen Drohungen in Geiselhaft nehmen lassen. Sobald das passiere, könnten weitere Atomwaffen-Staaten mit solchen Drohungen arbeiten. „Wir sind in einer schrecklichen Situation, in der wir ohne das System nuklearer Abschreckung nie wären", sagt Barash.

    Was bringt der jüngste Atomwaffenverbotsvertrag?

    Die Frage ist nun: Wie geht es weiter? In den vergangenen Jahren sind die globalen Abrüstungsbemühungen ins Stocken geraten. Der jüngste Atomwaffenverbotsvertrag, der 2021 in Kraft getreten ist, soll neuen Schub geben. Er verbietet Produktion, Test, Stationierung und Einsatz von Atomwaffen. Doch seine Wirkung ist ungewiss: Die neun Atommächte sowie die NATO-Staaten ‒ mit Ausnahme der Niederlande ‒ sind dem Vertrag nicht beigetreten.
    Jonas Schneider von der Stiftung Wissenschaft und Politik sieht den Verbotsvertrag kritisch. Staaten, die Atomwaffen komplett verbieten wollen und schrittweise nukleare Abrüstung ablehnen, müssten seiner Ansicht nach erklären, wie das praktisch funktionieren könne.
    Die Länder müssten Strategien entwickeln, die sicherstellen können, dass der Atomwaffenverbotsvertrag nicht nur auf westlicher Seite zu Ergebnissen führt, sondern dass vor allem auch Staaten wie China, Russland und Nordkorea mit voranschreiten. „Nur unter diesen Bedingungen könnten westliche Regierungen ihren Bürgern auch verkaufen, dass die eigene Sicherheit erhöht würde“, sagt Schneider.

    Sollte Deutschland aus der nuklearen Teilhabe aussteigen?

    Und auch die Frage der nuklearen Teilhabe Europas bleibt noch offen. Die USA versprechen mit ihren Atomwaffen auch andere Bündnispartner der NATO zu beschützen. Die US-amerikanische Atomwaffen lagern dafür in Belgien, Italien, den Niederlanden, der Türkei und auch in Deutschland, etwa im Ruhrgebiet. Seit Jahrzehnten gibt es Debatten um deren Abzug. 2009 wurde dieses Ziel sogar im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP formuliert. Der russische Angriff auf die Ukraine hat laut Politikwissenschaftlerin Carmen Wunderlich die Situation geändert: „Es ist jetzt absolut undenkbar, dass Deutschland aus der Teilhabe austritt.“
    Erstmals Mehrheit für Atomwaffen-Verbleib
    Ihre Einschätzung deckt sich auch mit Meinungsumfragen. Waren bei einer repräsentativen Erhebung des Instituts YouGov 2019 noch 59 Prozent für einen Abzug und 18 Prozent für einen Verbleib der Atomwaffen in Deutschland, kommen jüngere Umfragen nun zu einem gegenteiligen Ergebnis. Eine repräsentative Infratest-Dimap Erhebung im Auftrag der ARD von Juni 2022 ergab, dass mehr als die Hälfte der Befragten für den Verbleib in Deutschland ist.