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Hitler-Attentat vor 75 Jahren
Stauffenbergs Vermächtnis

Die Widerständler vom 20. Juli galten auch in der Nachkriegszeit noch lange als "Verräter-Clique". 75 Jahre nach dem Hitler-Attentat werden Stauffenberg und seine Mitverschwörer offiziell geehrt. Der Streit um ihre Motive und die Ziele des Widerstands aber hält bis heute an.

Von Johanna Herzing | 19.07.2019
Fotos der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 - rechts ein Porträt von Claus Schenk Graf von Stauffenberg
Fotos der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944 - rechts ein Porträt von Claus Schenk Graf von Stauffenberg (picture alliance /dpa /Wolfgang Kumm)
Ein Rundfunkausschnitt vom Juli 1944:
Soldat: "Wenn dem Führer wirklich etwas passiert wäre, das wär unausdenkbar gewesen!"
Frau: "Und so sehr uns dieses Erlebnis und dieses furchtbare Attentat bewegt hat – genauso muss uns Gottes Güte bewegen, dass er uns den Führer wieder erhalten hat."
Reporter: "So klingt aus allen Äußerungen die Freude darüber, dass der Führer lebt und ein tiefer Dank an die Vorsehung, die uns den Führer erhielt."
Berthold Maria Schenk Graf von Stauffenberg:
"Ich habe bis 1984, also 40 Jahre Jubiläum, immer wieder anonyme Briefe oder Karten gekriegt mit fingierten Absendern: 'Ihr Vater war ein Verbrecher und Sie sind auch nicht besser!' So in dem Stil."
Stauffenberg und die Männer vom 20. Juli
Berthold Maria Schenk Graf von Stauffenberg ist zehn Jahre alt, als sein Vater versucht, Hitler zu töten. Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg gelingt es während einer militärischen Lagebesprechung in der Wolfsschanze, dem sogenannten Führerhauptquartier in Ostpreußen, einen Sprengsatz zu platzieren. Kurz vor der Detonation verlässt er unter einem Vorwand das Treffen, macht sich auf den Weg nach Berlin. Dort versuchen Mitverschwörer, einen Regimesturz in Gang zu setzen.
Die Fäden laufen im sogenannten Bendlerblock, dem Sitz des Allgemeinen Heeresamts, zusammen. Doch Hitler überlebt. Der Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 scheitert. Claus Schenk Graf von Stauffenberg und drei weitere Beteiligte werden noch gegen Mitternacht im Hof des Bendlerblocks von Soldaten erschossen.
"Ich bin über doppelt so alt wie er, wie er je geworden ist. Und ich überlege mir manchmal: Wie war ich denn in dem Alter als er gestorben ist? 35 Jahre. Soweit ich von ihm weiß, war er ein sehr kritischer und unabhängiger Geist und hat sich sein eigenes Urteil gebildet und versuchte bei allem, die Vor- und Nachteile festzustellen. Das ist das Gegenteil von einem Fanatiker, der sich für eine Sache entscheidet und dann nur noch diese sieht."
Offizier und spätere Widerstandskämpfer Claus Schenk Graf von Stauffenberg im Jahr 1940 mit seinen Kindern 
Graf von Stauffenberg im Jahr 1940 mit seinen Kindern Berthold (l.), Franz-Ludwig und Heimeran (imago/dpa)
Beleidigende Post bekommt Berthold Maria Schenk Graf von Stauffenberg nicht mehr. Für Kontroversen sorgt der 20. Juli aber auch heute noch. Pünktlich zum Jahrestag des Attentats wird wieder diskutiert: Wer war Claus Schenk Graf von Stauffenberg, was hat ihn motiviert, welche Ziele verfolgten er und andere Widerständler? Und: Was sagt das Attentat vom 20. Juli über die Deutschen?
"Für die Menschen, die in Deutschland nach 1945 lebten, waren natürlich diejenigen, die Widerstand geleistet hatten, immer auch eine Herausforderung, denn es war die Herausforderung an diejenigen, die sich angepasst hatten: 'Hoppla, die haben etwas gemacht! Ich habe nichts gemacht!' Und das brauchte zwei Generationen in Deutschland, um dieser Herausforderung begegnen zu können."
Sagt Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Zwar gibt es bald nach Kriegsende Versuche, den Widerstand gegen Hitler im öffentlichen Bewusstsein positiv zu besetzen. Bundespräsident Theodor Heuss etwa formuliert am zehnten Jahrestag des Attentats mit Blick auf die Verschwörer:
"Die Scham, in die Hitler uns Deutsche gezwungen hatte, wurde durch ihr Blut vom besudelten deutschen Namen wieder weggewischt. Das Vermächtnis ist noch in Wirksamkeit, die Verpflichtung noch nicht eingelöst."
Widerstandskämpfer - oder Landesverräter?
Doch diese Sichtweise findet in der Bundesrepublik lange Zeit wenig Anklang. In Umfragen wird der 20. Juli erst Jahrzehnte später mehrheitlich positiv gesehen. Der Historiker Wolfgang Benz:
"Der militärische Widerstand, der 20. Juli, wurde natürlich zur Sinnstiftung und Legitimierung der Bundesrepublik sehr früh von oben her legitimiert, also in Reden des Bundespräsidenten wurden diese Leute des militärischen Widerstandes als vorbildlich, als Symbole eines besseren Deutschland zu Recht dargestellt. Aber nicht zuletzt unter ehemaligen Soldaten und Offizieren gab es noch eine Diskussion, die 20 Jahre lang über 1945 hinaus anhielt, ob das denn nicht Eidbrüchige, Fahnenflüchtige, Landesverräter, Hochverräter gewesen seien."
Der Eid, so die verbreitete Argumentation, wurde seit 1934 schließlich nicht mehr auf Volk und Vaterland geleistet, sondern auf Adolf Hitler. Ein vorgeschobenes Argument in der Nachkriegsdebatte, dem Berthold Maria Schenk Graf von Stauffenberg, selbst viele Jahrzehnte im Dienst der Bundeswehr, nichts abgewinnen kann:
"Ich habe ein anderes Eidverständnis, das heute wohl auch allgemein ist: Der Eid ist eine feierliche Verpflichtung gegenüber dem, dem er geleistet wird - aber auf Gegenseitigkeit. Das heißt, auch derjenige, dem der Eid geleistet wird, hat eine Verpflichtung, sich entsprechend seinen moralischen Grundsätzen zu verhalten. Mein Vater hat es sicher so gesehen - und andere auch, aber nicht so sehr viele -, dass der Eid insofern hinfällig geworden war, weil der Eidnehmer, Adolf Hitler, seine Verpflichtung in größtem Umfang verletzt hatte."
Eine Sichtweise, die in der Nachkriegszeit jedoch lange Zeit auf Widerspruch stieß. Johannes Tuchel:
"Wir haben hier keinen Austausch der Bevölkerung gehabt: Es ist ja nicht so, wie es manchmal den Anschein hatte: Kleine braune Männchen landeten im Jahre 1933 und verschwanden im Jahr 1945 wieder. Sondern es waren die Deutschen, die sich selbst als Opfer und Besiegte empfanden, die hier lebten. Und es ist erstaunlich, wie lange der Verratsvorwurf, mit dem die Nationalsozialisten ihre politischen Gegner belegt hatten, auch nach 1945 wirkmächtig war."
Hitlers Abrechnung mit den "Eidbrüchigen"
Adolf Hitler selbst hatte unmittelbar nach dem Anschlag diese lang nachwirkende Interpretation von den angeblich "Eidbrüchigen" vorgegeben. Seine Rundfunkansprache in den frühen Morgenstunden des 21. Juli lässt für die Deutschen keine Zweifel - weder an seiner körperlichen Unversehrtheit, noch an seinem Rachedurst:
"Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich unvernünftiger verbrecherisch dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und mit mir den Stab praktisch der deutschen Wehrmachtsführung auszurotten. Der Kreis, den diese Usurpatoren darstellen, ist ein denkbar kleiner. Er hat mit der deutschen Wehrmacht und vor allem auch mit dem deutschem Heer gar nichts zu tun: Es ist ein ganz kleiner Klüngel verbrecherischer Elemente, die jetzt unbarmherzig ausgerottet werden!"
Das Gerede von der "ganz kleinen Clique" ist zwar klassische Propaganda mit dem Ziel der Eindämmung, rundum falsch ist Hitlers Behauptung aber auch nicht.
"Widerstand war ja auch unter den Soldaten keine Massenbewegung. Wenn Sie sich anschauen, dass wir 1944 etwa acht bis neun Millionen Mann in der Wehrmacht hatten. Wenn Sie davon ausgehen, dass Sie in der Generalität etwa 1.000 Generale und Admirale hatten, möglicherweise etwas mehr, und sich dann anschauen, wie groß der Kreis der Beteiligten am 20. Juli 1944 war, dann kommen Sie darauf, dass es wirklich nur ein sehr kleiner Kreis ist."
Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Stille Helden in der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand
Johannes Tuchel: "Vorwurf des Verrats hielt sich erstaunlich lange" (Arne Immanuel Bänsch/dpa)
Schätzungsweise 300 bis 400 Personen sind Johannes Tuchel zufolge am Attentat beteiligt. Im Bendlerblock sind es am 20. Juli sogar nur etwa 50 Personen, die versuchen, das sogenannte "Unternehmen Walküre" in Gang zu setzen: also eine Reihe von Befehlen, ursprünglich vorgesehen, um innere Unruhen oder einen möglichen Aufstand von Zwangsarbeitern niederzuschlagen. Die Verschwörer um Stauffenberg haben die Befehle in ihrem Sinne angepasst, sie setzen darauf, getragen von Befehl und Gehorsam, militärisch die Oberhand zu gewinnen und Hitlers Regime zu entmachten.
"Das sind zwei Flure, wenige Hundert Quadratmeter. Wir haben einen Zeitzeugen-Bericht gehabt, der hat in seiner Funkzentrale auf der anderen Seite des heutigen Ehrenhofes gesessen. Der hat gesagt: Ich hab vor 20 Uhr, als es dann langsam im Hof etwas voller und unruhiger wurde, überhaupt nichts davon mitgekriegt. Also, es war nach außen hin ein sehr ruhiger Staatsstreich."
Der zudem schnell scheitert. Die Nachricht vom Überleben Hitlers erreicht die Hauptstadt noch am selben Tag. "Walküre", die Übermittlung der entsprechenden Befehle, stockt. Es gelingt den Verschwörern nicht, die militärische und politische Gewalt an sich zu ziehen. Die meisten Beteiligten im Bendlerblock werden von regimetreuen Militärs im Verlauf des Abends festgesetzt. Eine Sonderkommission nimmt innerhalb weniger Wochen rund 700 Menschen fest. Darunter als sogenannte "Sippenhäftlinge" auch unzählige Familienangehörige, selbst Kinder wie etwa Berthold Maria Schenk Graf von Stauffenberg und seine Geschwister. Stauffenberg erinnert sich:
"Als dann das Attentat passiert war, hatte die Gestapo freie Hand. Es war nur noch meine mütterliche Großmutter im Haus, die haben sie verhaftet. Das Haus wurde beschlagnahmt, da kam also eine Parteidienststelle rein, die Masse der Möbel wurde verlagert in ein Kloster, und die Akten - da haben sie natürlich mitgenommen, wovon sie dachten, das könnte wichtig sein. Manches haben wir nachher auch wieder gefunden. Aber wirklich wesentliche Zeugnisse waren nicht dabei."
ARCHIV - Reichsmarschall Hermann Göring (helle Uniform) und der Chef der «Kanzlei des Führers», Martin Bormann (l.), begutachten die Zerstörung im Raum der Karten-Baracke im Führerhauptquartier Rastenburg, wo Oberst Stauffenberg am 20. Juli 1944 eine Sprengladung zündete, mit der Absicht Hitler zu töten (Archivfoto vom 20.07.1944). Als am 20. Juli 1944 gegen 12.50 Uhr der Sprengsatz in der «Wolfsschanze» detoniert, ging Claus Schenk Graf von Stauffenberg vom Tod des Diktators aus. Für den Attentäter schien das größte Hindernis für den Sturz der Nazis beseitigt. Doch vor Tagesende war «Operation Walküre» gescheitert. Hitler überlebte den Anschlag, Stauffenberg wurde hingerichtet und hunderte Todesurteile folgten. Mit mehreren Gedenkveranstaltungen und dem traditionellen Bundeswehr-Gelöbnis wird am Freitag (20.07.2012) in Berlin an das gescheiterte Attentat auf Adolf Hitler vor 68 Jahren erinnert. Foto: Heinrich Hoffmann dpa (nur s/w).
Karten-Baracke im Führerhauptquartier nach dem Anschlag vom 20. Juli 1944 (picture alliance / dpa / Heinrich Hoffmann)
Die am Umsturzversuch beteiligten Militärs werden aus der Wehrmacht ausgeschlossen und - wie viele andere direkt oder indirekt Beteiligte - vor dem nationalsozialistischen Sondergericht, dem "Volksgerichtshof", angeklagt. Dessen Präsident, Roland Freisler, wird von Joseph Goebbels instruiert. Am 4. August schreibt Hitlers Propagandaminister in seinem Tagebuch:
"Zum Volksgerichtshof, der am Montag tagt, werde ich eine Reihe von erstklassigen Journalisten entsenden, die darüber einen großartigen Bericht für die Öffentlichkeit schreiben sollen. Ich selbst werde Freisler noch am Sonnabend vorher empfangen und werde ihn bestandpunkten, wie der Prozess vor sich zu gehen habe. Es werden keine langatmigen Verteidigungsreden und Debatten geduldet; die Angeklagten haben nicht die Möglichkeit, ein albernes Friedensgerede von sich zu geben."
Der überzeugte Nationalsozialist Freisler spielt seine Rolle entsprechend tadellos. Als der Angeklagte Graf von Schwerin von Schwanenfeld aussagt, dass ihn die "vielen Morde im In- und Ausland" zu seiner Beteiligung am Widerstand bewegt hätten, brüllt Freisler ihn nieder:
Freisler: "Morde?? Sie sind ja ein schäbiger Lump! Ja oder nein, zerbrechen Sie darunter?"
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: "Herr Präsident…"
Freisler: "Zerbrechen Sie unter der Gemeinheit? Ja oder nein, auf eine klare Antwort!"
Graf von Schwerin von Schwanenfeld: "Nein."
Freisler: "Sie können auch gar nicht mehr zerbrechen, Sie sind ja nur noch ein Häufchen Elend, das vor sich keine Achtung mehr hat."
Wie Graf von Schwerin von Schwanenfeld werden mehr als 100 der 200 Angeklagten zum Tode verurteilt. Vollstreckt wird meist kurz nach der Urteilsverkündung.
Zu wenig Rückhalt für Widerständler
Über die Gründe für das Scheitern des 20. Juli wird bis heute diskutiert: Unzulängliche Planung und Ausführung, technische Schwierigkeiten, persönliches Versagen, mangelnde Geschlossenheit der verschiedenen Gruppierungen innerhalb des militärischen und zivilen Widerstands - die Deutungen variieren. Gedenkstättenleiter Johannes Tuchel:
"Für mich der ganz klare Hauptgrund: Es waren einfach zu wenige!"
Doch warum hatte der Widerstand gegen Hitler nicht mehr Rückhalt? Der Historiker Wolfgang Benz:
"Die Eliten in der Gesellschaft, die haben so spät erkannt, dass Widerstand notwendig ist, die waren zu lange einverstanden mit den Früchten dieses Regimes, auch wenn sie das Regime selber abgelehnt haben. Und je länger man abgewartet hat, je länger darüber nachgedacht wurde, ob das alles gut und richtig ist, desto sicherer saß dieses Regime im Sattel, desto mehr Machtmittel standen Hitler und den Seinen zur Verfügung."
Der 20. Juli 1944 - ein Widerstandsakt also zu einem Zeitpunkt, als es nichts mehr zu gewinnen gab und moralisch bereits alles verloren war?
"Wir Nachgeborenen können nicht die Verhaltenslehren vom sicheren Sofa des 21. Jahrhunderts aus geben, aber darauf hinweisen, dass die Chancen vertan waren, die es 1933 oder 1934 gegeben hat, die also die Eliten des Jahres 1933 und 1934 vergeben haben. Diese historische Tatsache muss man mindestens als Historiker deutlich machen, dass die Sache nicht ein für alle Mal und von allem Anfang an wie eine Naturkatastrophe aussichtslos war, sondern dass es Möglichkeiten gab."
1943/44, räumt Benz ein, seien diese Möglichkeiten zum Widerstand nur noch sehr beschränkt vorhanden gewesen. Berthold Maria Schenk Graf von Stauffenberg sagt:
"Es ist für mich schon ein Unterschied, ob er nur Hitler umbringen wollte, weil der Krieg verloren war, oder weil der ein Verbrecher war - das spielt schon eine Rolle. Ich glaube, mein Vater war zuallervörderst ein Patriot, liebte sein Vaterland und wollte dem dienen. Er war sicher kein Demokrat im heutigen Sinne, das waren ganz wenige überhaupt nur. War geboren in ein Königreich, sein Vater war ein treuer Diener und enger Vertrauter seines Königs, und das war dann alles ganz anders. Ich glaube, er hat das akzeptiert, dass das Königreich zu Ende war, und war bereit, dem neuen Staat zu dienen. Der Dienst an dem Vaterland hatte für ihn sicherlich Priorität. Es wird immer gesagt, er sei ein begeisterter Nationalsozialist gewesen, das halte ich für absoluten Quatsch."
Berthold Graf von Stauffenberg
"Ein sehr kritischer und unabhängiger Geist" - Berthold Graf von Stauffenberg über seinen Vater (dpa/AP Photo/Czarek Sokolowski)
Selbst wenn sich kaum abstreiten lässt, dass Stauffenberg das NS-Regime erst im späteren Verlauf des Kriegs als verbrecherisch erkannte, so lässt sich der Umsturzversuch vom 20. Juli nur schwerlich mit einem Etikett versehen - sei es nun "konservativ" und "reaktionär" oder als "Aufstand des Gewissens". Diese Zuschreibungen, wie sie von Historikern und Biographen diskutiert werden, seien heikel, meint Johannes Tuchel:
"Es ist immer sehr einfach, sich nur auf ein bestimmtes Motiv, ein bestimmtes Milieu, eine bestimmte Weltanschauung oder eine bestimmte Herkunft zu beschränken. Tatsächlich aber ist es doch wie bei allen politischen Entscheidungen so, dass die Menschen, die damals agiert haben, einer Vielzahl von Einflüssen unterlagen. Sie unterlagen politischen Einflüssen, von ihrer Herkunft, ihrer Weltanschauung, von ihrem sozialen Milieu - all das spielte eine Rolle."
Anderes wiederum gerät durch die Diskussion ins Hintertreffen:
"Also mich ärgert immer sehr, dass in der Öffentlichkeit immer sehr viel vom militärischen Widerstand die Rede ist, weniger vom zivilen. Das andere ist halt auch kleinteiliger, es ist schwieriger zu erzählen, es sind keine prominenten Figuren wie eben viele im militärischen Widerstand."
Gemma Pörzgen ist Journalistin und Enkelin des christlichen Gewerkschafters und Widerstandskämpfers Heinrich Körner:
"Dann hat es auch viel zu tun mit der geteilten Geschichte Deutschlands, dass man in der Bundesrepublik Teile des Widerstands, also des kommunistischen Widerstands übersehen hat, auch diskreditiert hat. Und umgekehrt hat man in der DDR diesen eher konservativen und militärischen Widerstand diskreditiert. Und ich glaube, dass das Zusammenwachsen Deutschlands eigentlich die Möglichkeit eröffnet hat, sich mit der ganzen Breite der Gruppen auseinanderzusetzen."
Unstrittig ist daher, dass der 20. Juli kein Militärputsch war. Zivile Widerstandsgruppen unterschiedlichster politischer Couleur standen in engem Austausch mit Stauffenberg und seinen Mitstreitern. Das Militär sollte Hitler und seine Unterstützer entmachten. Eine Übergangsregierung unter Führung des ehemaligen Leipziger Oberbürgermeisters Carl Friedrich Goerdeler sollte anschließend die Geschäfte übernehmen. Die politischen Ziele für die Zeit nach Hitler waren ganz grundsätzlicher, nicht parteipolitischer Natur. So heißt es etwa in der vorbereiteten Regierungserklärung:
"Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts. (...) Wir wollen die Moral wiederherstellen, und zwar auf allen Gebieten des privaten wie öffentlichen Lebens. (...) Die Judenverfolgung, die sich in den unmenschlichsten und unbarmherzigsten, tief beschämenden und gar nicht wieder gut zu machenden Formen vollzogen hat, ist sofort eingestellt. (...) Die zerbrochene Freiheit des Geistes, des Gewissens, des Glaubens und der Meinung wird wiederhergestellt."
Gemma Pörzgen, Vorstandsmitglied "Reporter ohne Grenzen"
Gemma Pörzgen, Enkelin von Widerstandskämpfer Heinrich Körner: "Ziviler Widerstand kommt zu kurz" (dpa/picture-alliance)
In der Berliner Gedenkstätte Deutscher Widerstand werden Stauffenberg und die militärische Opposition gegen Hitler heute als eine von vielen Facetten des Widerstands gegen den Nationalsozialismus porträtiert.
Johannes Tuchel: "In diesem Raum, dem ehemaligen Kartenzimmer, sehen Sie etwas mehr als 200 Porträts von Beteiligten. Hier wird die ganze Vielfalt deutlich: Sie haben den Sozialdemokraten, Sie haben den Gewerkschaftsführer, Sie haben den Offizier, den Großgrundbesitzer…"
Menschen mit Ideen und politischen Zielen, die schwer auf einen Nenner zu bringen sind. Die aktuelle Lesart der Neuen Rechten, die Stauffenberg zum konservativen Helden mit autoritärem Staatsdenken stilisiert, lehnt Tuchel entschieden ab. Ebenso Vereinnahmungen von Seiten der AfD:
"Wenn dort von Widerstand gesprochen wird, dann ist das kein Widerstand gegen eine Diktatur, sondern das ist Opposition in einem demokratischen Rechtsstaat - und ich denke, hier muss man sehr deutlich die Begriffe auseinanderhalten. Nein, wir leben nicht in einer Diktatur! Auch wenn das behauptet wird, das ist schlichtweg falsch! Wir leben in einer Demokratie, in der sich jeder frei äußern kann im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, und das ist nicht zu verwechseln mit irgendeiner totalitären Diktatur!"
Und dennoch sehen sich Gemma Pörzgen und viele andere Nachkommen von Widerstandskämpfern gegenwärtig auf besondere Weise gefordert. Es ist ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber den Vorfahren, das im vergangenen Jahr in einen öffentlichen Aufruf gegen nationale Alleingänge und für Europa, für Recht, Freiheit und Demokratie gemündet ist:
"Ich habe auch das Gefühl, das ist das, was man so weitertragen kann und sollte, weil das sozusagen auch eine Frage ist an jeden von uns auch zu jeder Zeit, auch wenn wir in einer Demokratie leben: Wo stehen wir? Wo ist der Zeitpunkt, wo wir für irgendetwas eintreten müssen oder Risiken in Kauf nehmen oder uns zusammentun oder so?"