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Hörbuch-Produktion
Die Kunst der Stimm-Magie

Hörbücher erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Klar ist aber auch: Der Sprecher wird unweigerlich zum Interpreten der literarischen Vorlage. Zuhörer empfinden gerade das nicht selten als Problem. Ein Ausflug in die Branche der Audio-Bücher.

Von Ina Nefzer | 24.01.2015
    Ein geöffneter Mund
    Eine Hörbuchlesung ist nur dann gut, wenn die Sprecherstimme - im Klang, im Timbre, im Tempo – zum Text passt. (dpa / picture alliance)
    Früher erschien ein literarischer Text als Buch und wurde gelesen. Fertig. Heute ist das anders. Heute kommen viele Texte als Buch und als Hörbuch heraus. Im Zeitalter der Medienvielfalt kann man wählen: Möchte ich - diesen Krimi zum Beispiel - lieber selbst lesen oder lieber vorgelesen bekommen?
    Markus Langer, Programmchef von Oetinger Audio, ist überzeugt, dass sich die meisten Käufer inzwischen bewusst für Buch oder Hörbuch entscheiden. Ganz selten aber für beides:
    "Da scheiden sich dann doch die Geister. Da gibt es die bewussten Hörer und es gibt die bewussten Leser. Bei den Lesern ist es oft so, dass sie sagen: 'Nein, ich liebe meine eigene Stimme im Kopf. Oder auch eine Vielstimmigkeit eines Werkes im Kopf und will mir das nicht zerstören lassen durch eine vorgegebene Stimme, die ich in keiner Weise beeinflussen kann.' Das kann ich absolut nachvollziehen. Es gibt diese Schnittmenge, das wissen wir auch. Gerade, was das Feedback und die Reaktionen der "Panem"-Fans angeht. Da gab es ganz viele, die gesagt haben: Ich hab erst die Bücher gelesen, dann hab ich die Hörbücher gehört. Dann hab ich mir die Filme angeguckt. Finde alles super."
    "Das Synchronisieren unterscheidet sich fundamental vom Hörbuchsprechen"
    Bei Blockbustern wählt man gern den Synchronsprecher der Filmhauptfigur auch für die Hörbücher. Diese eine Stimme wird dann zum roten Faden, der durch alle medialen Darbietungen desselben Stoffs führt. Die Stimme als Konstante, bei der Fantasy-Trilogie "Die Tribute von Panem" der amerikanischen Autorin Suzanne Collins gehört sie Maria Koschny, die zwar von Kindesbeinen an synchronisierte, mit dem Hörbuchsprechen aber erst spät angefangen hat:
    "Das Synchronisieren unterscheidet sich fundamental vom Hörbuchsprechen. Da sind Sie ja nur immer auf ganz kurzen Etappen gefordert, das heißt das wird take by take aufgenommen. Sie kommen als Sprecher nie in die Situation mal größere Bögen spannen zu müssen, erzählerische Bögen. Deshalb ist das auch absolut kein Selbstläufer, wenn man einen noch so erfahrenen und großartigen Synchronsprecher hat, dann muss der noch kein Hörbuchsprecher par excellence sein."
    Bis heute arbeitet Maria Koschny hart daran, eine ebenso gute Hörbuch- wie Synchronsprecherin zu werden und erzählt im Gespräch, dass es dabei - erstaunlicherweise - auf das Innen- und das Außenohr ankommt:
    "Da ich weniger Hörbuch lese als synchronspreche, ist das noch nicht so drin, so übergegangen, dass ich jetzt ganz genau fühle, ob das jetzt von außen auch so klingt, wie es sich von innen angefühlt hat. Ja, das Innenohr und das Außenohr haben sich noch nicht so aneinander angeglichen. Während ich lese fühlt es sich für mich wesentlich langsamer an, als wenn ich es von außen höre. Da denke ich: 'Ui, war das schnell!' Aber ich finde, es hat bislang auch charakterlich oft zu den Rollen gepasst. Sie haben auch öfter etwas Getriebenes gehabt. Oder vielleicht bekomme ich die Rollen, weil ich etwas Getriebenes habe."
    Tatsächlich ist es wohl genau diese leicht vibrierende, schnelle Sprechweise von Maria Koschny, die sie geradezu kongenial befähigt, der dramatischen Dystopie um die gejagte und mit dem Tod bedrohte Katniss ihre Stimme zu leihen:
    "Die Regeln der Hungerspiele sind einfach: Zur Strafe für den Aufstand muss jeder der zwölf Distrikte ein Mädchen und einen Jungen für die Teilnahme stellen. Die sogenannten Tribute. Diese 24 Tribute werden in einer riesigen Freilichtarena eingesperrt, bei der es sich um jede Art von Gelände handeln kann. Von glühender Wüste bis zu eisiger Ödnis. Über mehrere Wochen hinweg müssen die Konkurrenten einander bis auf den Tod bekämpfen. Der Tribut, der als letzter übrig bleibt, hat gewonnen. Das Kapitol nimmt unsere Kinder aus den Distrikten fort und zwingt sie dazu, sich gegenseitig zu töten, während wir zusehen!"
    (Aus: Suzanne Collins/Maria Koschny: Die Tribute von Panem. A. d. Amerik. v. Peter Klöss u. Sylke Hachmeister, Oetinger Audio, CD 1, Track 1)
    Mann oder Frau? Die Frage nach dem passenden Sprecher
    Wen wundert's, dass Fantasy-Autor Kai Meyer sich Maria Koschny als Sprecherin für seinen Geister-Roman "Phantasmen" gewünscht und bekommen hat. Damit steht fest: Eine Hörbuchlesung ist nur dann gut, wenn die Sprecherstimme - im Klang, im Timbre, im Tempo – zum Text passt. Sowohl bei Oetinger Audio, als auch bei der Hörcompany wird die Auswahl des geeigneten Sprechers daher nur im Team gefällt und steht am Anfang jeder Audio-Produktion. Manchmal fängt es mit dem kleinen Unterschied an, der in Wahrheit ein großer ist: der Überlegung, ob es ein Mann oder eine Frau sein soll oder muss. Was nicht immer einfach ist, wie im Fall von Finn-Ole Heinrichs Trilogie "Die wundersamen Abenteuer der Maulina Schmitt". Warum erzählt Andrea Herzog von der Hörcompany:
    "Wir hatten ja schon sein erstes Buch vertont, "Frerk, du Zwerg". Das hat er selber gesprochen. Er ist ja ein begnadeter Vorleser! Und dann hat er uns von "Maulina" erzählt. Da haben wir uns getroffen (Hamburg ist ja klein). Und dann hab ich gesagt: "Finn, das kannst du nicht selber lesen!" Das ist ein Mädchen, erzählt in Ich-Perspektive. Das liest du nicht selber fürs Hörbuch! Und da ist ihm wirklich die Kinnlade runtergekippt. Und er hat sofort gesagt, er möchte mitentscheiden und hat gesagt: "Ich möchte Sandra Hüller".
    Ein Mikrofon für eine Hörbuch-Produktion
    Ein Mikrofon für eine Hörbuch-Produktion (Deutschlandradio - Sandro Most )
    Doch selbst wenn sich Verlag und Autor auf eine Sprecherin geeinigt haben, gibt es keine Garantie, dass beide mit dem Ergebnis zufrieden sind - zumindest aus Sicht des Autors:
    "Ich war erst mal sehr, sehr traurig, dass ich das nicht selber sprechen durfte. Weil so eine Erzählstimme, wie die Maulina sie hat, eine ist, an der ich sehr lange gearbeitet habe. Und ich weiß bei jedem Satz, warum welches Wort an welchem Platz ist. Ich finde, dass das eine sehr musikalische Sprache ist, eine sehr rhythmische Sprache, die sich sehr, sehr schön vorlesen lässt. Und die ich einfach auch sehr gerne vorgelesen hätte. Ich war dann total begeistert, dass Sandra Hüller zugesagt hat, weil ich die als Schauspielerin unglaublich schätze. Aber sie liest das ganz anders, als ich das gelesen hätte. Und deshalb liest sie das in meinen Ohren eigentlich falsch. Und ich kann's mir eigentlich nicht anhören, obwohl ich mir das gewünscht habe, dass sie das macht, hat das nicht den Klang, den ich ihr gegeben hätte."
    Tatsächlich wird, wenn Sandra Hüller die Maulina liest, aus ihr eine andere. Die Monologe des wilden Mädchens im Buch bestehen aus Sätzen, die sich endlos aneinanderreihen und bisweilen so temperamentvoll hochschrauben, dass man als Leser meint, einen Vulkan vor sich zu haben, der gleich Feuer speit. Bei Sandra Hüller hört sich Maulinas Appell an ihren Vater beim Auszug und nach der Trennung der Eltern so an:
    "Ich werde nicht mit dem Mann sprechen, weil ich nicht mehr mit dem Mann spreche. Das habe ich geschworen. Als wir die Kisten gepackt haben, habe ich mich vor ihn gestellt und gesagt: "Hör gut zu, merk dir meine Stimme, gut möglich, dass du sie nicht wieder hörst. Du hast jetzt die letzte Chance, das alles zu retten, und wenn du das nicht tust, dann rede ich kein Wort mehr mit dir."
    (Aus: Finn-Ole Heinrich: Die wundersamen Abenteuer der Maulina Schmitt. Mein kaputtes Königreich (Bd. 1), S. 65/ Audio: CD 1, 9. Kapitel, Track 11)
    Die Schauspielerin spricht Maulina natürlich nicht völlig ohne dieses eruptive Temperament, lässt das Ganze aber auf einem sehr niedrigen Niveau spielen. Ihre Maulina ist viel leiser und wirkt viel normaler, nicht ganz so schrill und durchgeknallt wie im Buch. Sie ist auf eine subtilere Art intensiv, was Fachfrau Andrea Herzog direkt ins Ohr ging:
    "Und als sie dann die erste "Maulina" eingesprochen hatte, da weiß ich noch: da bin ich im Auto sitzen geblieben und hab schier geheult, weil ich das so wunderbar fand, so fein nuanciert. Die trägt ja überhaupt nicht auf, sondern setzt so ganz ganz kleine Akzente und spricht das ganz ruhig. Auch das Maulen macht sie nicht mit Donnergebrüll, aber mit Kraft. Und das fanden wir umwerfend gut!"
    Nicht nur ihr erging es so! Die beiden, von Sandra Hüller eingelesenen "Maulina"-Hörbücher (der dritte erscheint im Frühjahr 2015) werden allgemein beachtet, gelobt und mit Preisen bedacht.
    Die Schauspielerin Sandra Hüller
    Die Schauspielerin Sandra Hüller (picture alliance / dpa)
    Damit wird klar: Ein Hörbuch ist nicht nur dann gut bis sehr gut, wenn die charakteristische Sprechweise des Sprechers zum Text passt. Sondern: Der Sprecher wird bei seinem Vortrag zum Interpreten der literarischen Vorlage, was angemessen bis aufsehenerregend gelingen kann. Beispielsweise in der Art und Weise, Figuren stimmlich zu charakterisieren. Maria Koschny löst das mit Intuition:
    "Es gibt sehr unterschiedliche Arten, Rollen anzulegen. Man kann das, wie Rufus Beck sehr deutlich machen, bei "Harry Potter". Dass die viel Farbe bekommen. Oder man deutet sie eher an. Dass man bisschen hört: Das ist eine Frau, das ist ein Mann. Das ist jetzt das Kind von der Frau. Am besten ist, man hat ein Bild von der Person und am allerbesten ist: man geht auch wirklich in diese Körperhaltung rein. Ich muss mir das also nicht kognitiv zurechtlegen, sondern man erfühlt es eigentlich bei einem Text. Aber für mich ist in erster Linie wichtig, diese Bilder zu haben. Eigentlich wie einen Film auch ablaufen zu lassen, während ich lese. Und dann kommt das alles eigentlich von ganz alleine."
    Selbst angelegte Stimmdatenbank hilft den Sprechern oft
    Anders machen es Schauspieler, die Texte mittels Stimme inszenieren. Wie Rainer Strecker, der diesen Herbst den achten und letzten Band der legendären "Skulduggery Pleasant"-Reihe des Iren Derek Landy liest. Solche Buchserien laufen - zum einen - über Jahre hinweg, mit langen Pausen zwischen den einzelnen Bänden. Und sie haben – zum anderen – ein großes Figurenensemble. Allein jedem eine individuelle, wiedererkennbare Stimmfarbe zu geben, ist eine Herausforderung. Wie macht man das, Rainer Strecker?
    "Ich hab mir richtig eine Stimmdatenbank anlegen müssen. An die Hauptcharaktere Skulduggery, Walküre, Scapegrace erinnere ich mich natürlich, aber es gibt viele Figuren, die nur kurz auftauchen, unter Umständen aber später eine größere Rolle haben. Das heißt, ich muss mir die sehr gut merken und lege mir eine Datenbank an, damit ich mich erinnern kann. Manchmal habe ich auch, wenn ich U-Bahn fahre oder sonst irgendwo eine Stimme höre, die ich ganz irre finde, dann spreche ich mir das aufs Handy und spiel mir das dann auf den Computer, liste es dazu. Ich weiß noch nicht, wem ich die Stimme dann gebe. Das sind dann meist aber eher Emotionen oder körperliche Zustände, wenn jemand zum Beispiel einen ganz verklemmten Hintern hat."
    Rainer Strecker fühlt sich nicht nur tief in die die Figuren ein, er spielt sie. Was aber in einem Aufnahmestudio gar nicht so leicht ist. Man darf nicht herumhampeln oder bei jeder Figur die Position wechseln. Denn der Abstand zum Mikro muss immer der gleiche sein. Nur so hört es sich später auch gut an. Zudem sitzen die Sprecher, da viele Produktionen über mehrere Tage gehen. Das ist anstrengend und eine große Konzentrationsleistung. Wie Maria Koschny spielt auch bei Rainer Strecker die Vorstellungskraft daher eine zentrale Rolle:
    "Mir hilft meine körperliche Imagination: manchmal reicht ein Gedanke und die Stimme ändert sich."
    Das Geheimnis einer so ausgefeilten Darbietung ist aber auch eine umfangreiche Vorbereitung, wie Andrea Herzog weiß:
    "Seine Manuskripte, die sehen aus wie eine Konzert-Partitur. Wie er sich die Manuskripte einzeichnet, färbt und mit Pfeilen in allen möglichen Farben. Er bereitet sich irrsinnig akribisch vor. Braucht auch richtig lange Zeit. Da sitzt aber auch wirklich jeder Halbsatz, so wie er das macht. Das kriegt er wirklich wunderbar hin. Und er ist mit ganz viel Herzblut dabei. Der ganze Mensch spricht, ist Stimme!"
    Wer der beste Sprecher, die beste Sprecherin ist? Einerseits ist das reine Geschmacksfrage: dass man eine Stimme entweder überhaupt nicht mag oder so liebt, dass man alles hört, was dieser Sprecher einliest. Jenseits davon aber lässt sich diese Frage erstens via Passform von Sprecher und Text beantworten sowie zweitens anhand der Kunstfertigkeit des Interpreten, das jeweilige Genre umzusetzen. Übrig bleibt eine Erkenntnis, die schon am Anfang da war: Buch und Hörbuch sind eben einfach nicht dasselbe. Wer entscheiden möchte, wie ein Text gelesen werden sollte, muss es selber tun!