Donnerstag, 28. März 2024

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Holm Sundhaussen
Geschichte Serbiens mit Mut zur Lücke

Von Gerwald Herter | 25.08.2014
    Das serbische Volk "ereignet" sich. Ende der 80er-Jahre findet in Belgrad eine Massenkundgebung nach der anderen statt: Beschwörung der Toten, düstere Prophezeiungen künftiger Kriege, Verfolgungsängste. Einige Jahre nach Titos Tod ist zwar gelegentlich noch die alte jugoslawische Parole von der "Brüderlichkeit und Einheit" zu hören, doch der serbische Nationalismus spielt eine viel wichtigere Rolle. Holm Sundhaussen beschreibt, dass neben überlebensgroßen Milosevic-Porträts auch die Konterfeis der beliebtesten und populärsten serbischen Nationalhelden zu sehen sind: etwa der heilige Sava oder Fürst Lazar und seine Mitkämpfer in der Schlacht auf dem Amselfeld. Sie endete 1389 zwar in einer Niederlage gegen die Osmanen, was viele Serben aber bis heute nicht daran hindert, Lazar und die anderen zu verehren.
    Eigentlich greift Sundhaussen schon damit über den Zeitraum der gut zweihundert Jahre hinaus, durch die er sich auf mehr als 500 Seiten akribisch arbeitet. Viel Stoff, Zahlenreihen, Zeugnisse, Fakten: obwohl Sundhaussen, den "Apparat" - also Fußnoten und Literaturverzeichnis - bereits eingeschränkt hat und obwohl er gleich zu Anfang zugibt, dass trotzdem Lücken bleiben.
    "Wer im Folgenden ein Plädoyer für oder gegen Serbien erwartet, kann das Buch getrost beiseitelegen. Die Lektüre wäre Zeitverschwendung. Ich sehe mich weder in der Rolle eines Verteidigers noch eines Anklägers, geschweige denn eines Richters. Um im Bild zu bleiben, verstehe ich mich eher als Gutachter oder Ermittler, als jemand, der Spuren sichert, Befunde zusammenträgt, prüft und abwägt und mit dem Mut zur Lücke leben muss."
    Auch dieses Bekenntnis ist nicht ganz vollständig, wie die gesamte Einleitung, denn Sundhaussen richtet gleichwohl. Mit seiner Haltung, die man als methodisch äußerst klare, "wissenschaftliche Sturheit" bezeichnen könnte, zerstört er kenntnisreich einen Mythos nach dem anderen und darin sieht er auch seine Aufgabe:
    "Also ich mache einen Unterschied zwischen Geschichte und "Bildern von Vergangenheit". Geschichte ist für mich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Vergangenheit, während bei diesen Vergangenheitsbildern viele Dinge mit hineinspielen, wie historische Mythen, etc., die einen zwar historischen Kern haben, aber in vielen Fällen nicht mit dem übereinstimmen, was anhand wissenschaftlicher Methoden erarbeitet werden kann. Diese Vorstellungen sind in der serbischen Gesellschaft noch relativ stark verbreitet."
    Das gilt leider auch jetzt, 2014 noch, sieben Jahre nachdem Sundhaussens "Geschichte Serbiens" erschien und obwohl dieses Buch auch ins Serbische übersetzt worden war. Die aufklärerische Wirkung eines einzelnen Werks darf selbstverständlich nicht überschätzt werden, schon gar nicht in Belgrad. Der serbische Verlag hatte das Werk zudem mit dem Nachwort eines serbischen Historikers versehen lassen. Die serbische Ausgabe ist inzwischen vergriffen.
    Die Zerstörung serbischer Mythen bleibt nachhaltig und nötig: Sundhaussen weist zum Beispiel nach, dass der vermeintlich urserbische Kult um den Heiligen Sava erst im 19. Jahrhundert entstand, oder dass Missverständnisse die Erinnerung an die Schlacht auf dem Amselfeld begleiten. Er erläutert, was es mit dem Vidovdan, dem Veithstag tatsächlich auf sich hat. Er schreibt gegen serbische Schulbuchweisheiten an, gegen allzu einfache Überlieferungen und den Einfluss der serbisch-orthodoxen Kirche - aus gutem Grund:
    "Wir hatten ja im ehemaligen Jugoslawien, in den 80er-Jahren eine allumfassende und sehr, sehr tiefe Krise. In solchen Krisenzeiten, wo Menschen verunsichert sind, wo all' das, was sie jahrzehntelang geglaubt haben, wegbricht und ein Vakuum entsteht, da spielen natürlich nicht nur Politiker, sondern auch die Intellektuellen eine große Rolle, die versuchen das Vakuum mit neuen Inhalten wieder zu füllen. Das waren Vertreter der Kirche, der Akademie der Wissenschaften, Schriftsteller auch Historiker. Die haben versucht, die Gesellschaft umzupolen, und die Politiker, also auch Milosevic sind dann auf diesen bereits fahrenden Zug aufgesprungen."
    Auch das widerspricht einem Mythos, der sich allerdings eher im Westen als in Serbien hält:
    "Ich glaube nicht, dass Milosevic selber ein Nationalist war."
    Dass Milosevic ein Kriegsverbrecher war, daran lässt Sundhaussen allerdings überhaupt keinen Zweifel. Das letzte Kapitel der "Geschichte Serbiens" endet mit dem Verweis auf die Meldung der Nachrichtenagentur Tanjug aus dem März 2006 über den Tod von Milosevic. In der Folge war auch das Stoff für Mythen. Leider ist Milosevics übelstes Vermächtnis immer noch nicht Geschichte:
    "Die Tatsache, dass Kosovo vor mehreren Jahrhunderten, vor 600 Jahren mal zu einem mittelalterlichen serbischen Staat gehört hat, der ja auch kein Nationalstaat im heutigen Sinne war, kann keine Rechtfertigung sein für die Gegenwart."
    Die Behauptung, dass Kosovo ein untrennbarer Teil Serbiens sei, ist aber leider in der serbischen Verfassung festgeschrieben. Wer das bestreitet, wie Sundhaussen in diesem Buch, begeht somit Verfassungsbruch. Sundhaussen, zweifellos einer der großen deutschen Südosteuropa-Historiker lässt sich aber auch davon nicht beirren:
    "Serbien könnte ein hoch entwickeltes Land sein. Das Potenzial dazu war vorhanden. Doch es wurde einer 'großen Idee' geopfert, die Serbien Ende der 1990er-Jahre um ein Jahrhundert zurückwarf. Die Serben sind weder ein 'tragisches Volk' (...) noch ein 'himmlisches Volk', sondern eine ganz 'normale' Gesellschaft, die von narzisstischen Priestern, Propheten und Politikern verblendet wurde."
    Gerwald Herter Holm Sundhaussen: Geschichte Serbiens. 19. - 21. Jahrhundert,
    Böhlau Verlag, 514 Seiten, 59 Euro
    ISBN: 978-3-205-77660-4