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Holocaust
Als ein muslimischer Arzt eine Jüdin rettete

Anfang der 1940er Jahre riskiert ein muslimischer Arzt in Berlin sein Leben für ein jüdisches Mädchen, das er als seine Nichte ausgibt. Er beschäftigt sie als Arzthelferin in seiner Praxis und rettet sie so vor der Verfolgung durch das NS-Regime. Der Journalist Ronen Steinke hat diese ungewöhnliche Geschichte aufgeschrieben.

Von Otto Langels | 04.12.2017
    Joseph Goebbels während einer Ansprache im Berliner Lustgarten, August 1934 (Hintergrundbild) Buchcover (Vordergrund)
    Im Jahr 2013 ehrte die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zum ersten Mal einen Araber mit der Auszeichnung als "Gerechten unter den Völkern". (AP / Berlin Verlag)
    Im Jahr 2013 ehrte die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem einen im ägyptischen Khartum geborenen Arzt als "Gerechten unter den Völkern". Er hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt, um jüdischen Verfolgten zu helfen. Durch eine Zeitungsmeldung wurde der Münchner Journalist Ronen Steinke auf den Fall aufmerksam.
    "Es gibt bereits 25.000 Menschen, die als sogenannte Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet sind, aber zum ersten Mal wurde ein Araber mit dieser Auszeichnung bedacht."
    Ausgezeichnet wurde der Muslim Mohammed Helmy, Sohn eines ägyptischen Armeeoffiziers. Er kam 1922 nach Berlin, um Medizin zu studieren und verkehrte bald in Kreisen, in denen Juden und Moslems sich ohne Vorbehalte begegneten.
    Rekonstruktion mit wenigen Spuren
    "Helmy war als Araber in Berlin sehr eng befreundet mit vielen Juden. Und er hat sich in einem Milieu bewegt hoch gebildeter, sehr kulturbeflissener arabischer Gaststudenten."
    In der gut lesbaren und lebendig geschriebenen Darstellung skizziert Ronen Steinke das Leben Mohammed Helmys, soweit es sich rekonstruieren lässt. Denn Helmy hat nur wenige Spuren hinterlassen, manche Einzelheiten seiner Biographie bleiben schemenhaft oder ganz im Dunkeln.
    Dass nicht jedes erwähnte Detail historisch verbürgt ist, mögen die Anhänger einer nüchternen, quellengesicherten Geschichtsschreibung bedauern, doch gerade durch den erzählerischen Stil gewinnt das Buch an Anschaulichkeit und Aussagekraft.
    "Die arabischen Gaststudenten waren begehrt in Berlin, ihnen öffneten sich Türen. Wenn sie am Anhalter Bahnhof ankamen, in messingverzierten Schlafwagen, die sich, von der Südspitze Italiens kommend, leise ratternd nach Norden geschlängelt hatten, dann zogen sich einige deutsche Frauen Sonntagskleider an und fingen sie schon am Bahnsteig ab. Vor allem rund um den Ku'damm kamen die Gäste aus dem Orient in bürgerlichen Familien unter, ihre Untermiete rettete manche Familie."
    Nach dem Studium blieb Mohammed Helmy in Berlin. Er hatte eine deutsche Freundin, die er aber wegen entsprechender Rasse-Vorschriften des NS-Regimes erst nach dem Krieg heiraten konnte, wurde Arzt am Krankenhaus und übernahm später eine Privatpraxis.
    Erfundene Identität als arabische Nichte
    Bei einer Visite lernte er die jüdische Familie Rudnik kennen, die am Alexanderplatz einen großen Obsthandel betrieb. Anna, die Tochter der Familie, wollte Krankenschwester werden, und so entstand ein freundschaftliches Verhältnis zwischen dem jungen Mädchen und dem muslimischen Arzt. Als Ende 1941 die ersten Juden aus Berlin Richtung Osten deportiert wurden, zögerte Mohammed Helmy nicht lange, der damals 17-jährigen Anna zu helfen.
    "Zunächst ist sie nur als Arztgehilfin zur Hand gegangen. Später, als die Verfolgung radikaler wurde, 1942, als die Deportationsbescheide auch ihre Familie erreichten, als also die Lebensgefahr unmittelbar im Raum stand, ist er den nächsten Schritt gegangen und hat Anna bei sich versteckt in seinem eigenen Haus, indem er sie hinter einer erfundenen Identität versteckt hat. Er hat begonnen, sie als seine Nichte auszugeben, unter einem anderen Namen, Nadja, und hat im Grunde mit ihr begonnen, ein Schauspiel zu spielen, sie sei eine Muslimin, eine Araberin."
    Der Arzt versteckte nicht nur Anna. Mit Hilfe arabischer Freunde, die den Nationalsozialismus ablehnten, sorgte er auch dafür, dass einige ihrer Verwandten untertauchen konnten.
    Gefährliches Versteckspiel
    Mohammed Helmy ging damit ein hohes Risiko ein, hatte er sich doch in den Augen der Gestapo bereits verdächtig gemacht, weil er häufig Zwangsarbeiter krankschrieb.
    "Die Gestapo hat regelmäßig bei ihm an die Tür gepocht und hat seine Räume durchsucht, auch auf der Suche nach versteckten Juden. Und an der Rezeption saß eine junge Arzthelferin mit Kopftuch, die den Herren von der Gestapo alle Türen öffnete und am Ende sie wieder verabschiedete."
    Obwohl Anna, wenn überhaupt, nur ein paar Brocken Arabisch sprach, flog ihre jüdische Identität nicht auf. Wahrscheinlich hatte ihr Mohammed Helmy neue Personaldokumente besorgt, doch das kann der Autor nur vermuten.
    "Für seine 'Nichte' Anna muss Helmy ein gefälschtes Papier organisiert haben - von der Tochter eines der muslimischen Diplomaten vielleicht, die jetzt, in Zeiten des Krieges, nach und nach die Hauptstadt des Reiches verließen. Anna brauchte einen Ausweis, der ein Mädchen mit heller Haut und schwarzen Locken zeigte. Das genügte vielleicht schon, zumal sich die Gestapo nicht gut mit ägyptischen Papieren auskannte."
    Quellenstudium und Phantasie
    Vieles in der Darstellung bleibt - wie gesagt - spekulativ, da Ronen Steinke in staatlichen Archiven und Familiennachlässen nur wenige aussagekräftige Unterlagen fand. Die Gespräche mit Nachfahren von Anna und Mohammed Helmy in den USA bzw. Ägypten lieferten zwar weitere Details, doch manche Lücke musste der Autor mit seiner erzählerischen Phantasie füllen. So ist zwar bekannt, dass Helmy und seine Assistentin eines Tages in das Hauptquartier der Gestapo zitiert wurden, aber nicht, warum.
    "Dort fuhren sie vor in ihrem Auto, stiegen aus als Arzt und Arztgehilfin, nicht ahnend, was sie erwartet. Und innen, zu ihrer großen Verblüffung, trafen sie auf eine Gesellschaft arabischer Männer. Himmler war der Gastgeber."
    Der Reichsführer SS hatte tatsächlich zu einem Empfang geladen, zu Ehren von Amin al-Husseini, dem Großmufti von Jerusalem, einem fanatischen Antisemiten und Hitler-Anhänger. Vielleicht hatte man Helmy und seine jüdische Assistentin als Gäste eingeladen, vielleicht sollten sie aber auch im Notfall ärztliche Hilfe leisten. Jedenfalls konnten sie die Gestapo-Zentrale unbehelligt verlassen.
    Rettung über Religionsgrenzen hinweg
    Anna überlebte das NS-Regime, emigrierte später in die USA und lebte bis zu ihrem Tod 1986 in New York. Mohammed Helmy blieb in Berlin und praktizierte noch jahrzehntelang als Arzt. Er starb 1982. Ein einziges Mal sahen sich die beiden nach dem Krieg in West-Berlin wieder.
    Der eindrucksvoll erzählten Geschichte von der wundervollen Rettung über Religionsgrenzen hinweg möchte man eine nachhaltige Wirkung bis in die Gegenwart wünschen, gerade angesichts der politischen Spannungen im Nahen Osten. Doch als die Gedenkstätte Yad Vashem 2013 Mohammed Helmy posthum als "Gerechten unter den Völkern" ehrte, schlugen die Kairoer Verwandten eine Einladung aus Jerusalem aus. Mit einer Ehrung von israelischer Seite wollten sie nichts zu tun haben.
    Ronen Steinke: Der Muslim und die Jüdin. Die Geschichte einer Rettung in Berlin
    Berlin Verlag, 208 Seiten, 20 Euro