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Holocaust-Mahnmal
"Originalschauplätze sind viel authentischer als Steinstelen"

Die Betonstelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin sind vom Zerfall bedroht. Er frage sich, ob das Mahnmal überhaupt notwendig war, sagte der Publizist Rafael Seligmann im Deutschlandfunk. In Deutschland gebe es leider viele Originalschauplätze, die an den Völkermord an den europäischen Juden erinnerten.

Rafael Seligmann im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 22.05.2014
    Eine Frau mit buntem Hut steht am 09.12.2013 in Berlin im Nieselregen zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin.
    Eine Frau steht zwischen den Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin. (picture alliance / dpa / Teresa Fischer )
    Tobias Armbrüster: Es ist seit vielen Jahren einer der bekanntesten Orte im Berliner Regierungsviertel: das Stelen-Feld des Architekten Peter Eisenman. Es soll an die ermordeten Juden in Europa während des Zweiten Weltkrieges erinnern. Es ist außerdem ein Bauwerk, das immer irgendwie diesen Spagat schafft zwischen nachdenklichem Erinnern und touristischer Attraktion. Man sieht dort auch Kinder herumturnen, und die Stelen eignen sich auch prima zum Versteckspielen. Aber wie die "Süddeutsche Zeitung" nun heute berichtet, ist das Stelen-Feld vom Verfall bedroht. Hunderte dieser Betonblöcke können nur noch mit Stahlmannschetten zusammengehalten werden.
    Am Telefon ist der Politologe und Publizist Rafael Seligmann. Er macht sich schon seit Jahrzehnten Gedanken über das Zusammenleben von Juden und Deutschen. Schönen guten Tag, Herr Seligmann.
    Rafael Seligmann: Guten Tag, Herr Armbrüster.
    Armbrüster: Herr Seligmann, wir hören, dass das Stelen-Feld in Berlin langsam verfällt. Müssen wir uns Sorgen machen?
    Seligmann: Nein! Jedes Gebäude verfällt langsam. Alles auf dieser Welt entsteht und verfällt. Das ist in meinen Augen vollkommen normal. Ob dieser Prozess ein bisschen schneller oder langsamer vonstattengeht, ist abhängig, aber das ist nicht die eigentliche Frage. Die Frage ist: Ich wage es immer noch zu bezweifeln, ob dieses Mahnmal überhaupt notwendig war.
    Zeichen des Verfalls sind beabsichtigt
    Armbrüster: Warum sollte es nicht notwendig gewesen sein?
    Seligmann: Weil wir leider in Deutschland die Originalschauplätze haben, an denen der Völkermord an den europäischen Juden beschlossen wurde, in der Reichskanzlei, in der Wannsee-Villa, in der Topografie des Terrors, also in der SS-Zentrale. Wir haben in ganz Deutschland Bahngleise, Gestapo-Stellen, in jeder Umgebung finden Sie Stellen, die an die ermordeten Juden erinnern. Dieses Mahnmal, diese zentrale Gedenkstätte - man kann dazu stehen wie man will - soll sozusagen eine Zentrale, ein zentrales Symbol sein, aber notwendig ist sie in meinen Augen nicht.
    Armbrüster: Wenn wir jetzt hören, dass dort langsam deutliche Risse im Beton entstehen, würden Sie dann sagen, das sollten wir einfach so lassen und dem Verfall sozusagen zusehen, oder sollte man da noch Millionen reinstecken?
    Seligmann: Mich würde es nicht stören, wenn man die Zeichen des Verfalls sieht. Das ist ja auch vom Architekten so geplant gewesen. Sonst hätte man ja eine Stahlkonstruktion errichten können. Es geht ja ...
    Armbrüster: Na ja. Geplant war ursprünglich schon, dass das Ganze etwas länger halten sollte als zehn Jahre.
    Seligmann: Ja, selbstverständlich. Aber das wird ja auch erhalten bleiben. Es wird Risse geben, man wird den Verfall sehen. Die entscheidende Frage für mich ist nicht dieses Mahnmal, weil es in meinen Augen zahllose Denkplätze in Deutschland, Gedenkplätze gibt, von den Stolpersteinen bis zu Platten bis zu KZ-Gedenkstätten, und die Deutschen sind wirklich wie Schmetterlingssammler Experten für das Andenken an die ermordeten Juden. Mich interessiert vielmehr: Setzt man sich mit den lebenden Juden in dieser Gesellschaft auseinander? Wissen die Schüler, die in so eine Gedenkstätte geführt werden, überhaupt, dass es eine 1.600-, 1.700-jährige Geschichte der Juden in Deutschland gibt, eine deutsch-jüdische Geschichte, dass es auch ihre Geschichte gibt? Darum geht es mir in erster Linie.
    Die Grundaussage des Schreckens muss erhalten bleiben
    Porträt von Rafael Seligmann mit verschränkten Armen, im Hintergrund das Brandenburger Tor
    Der Publizist Rafael Seligmann im Jahr 2012 (dpa / Sebastian Kahnert)
    Armbrüster: Herr Seligmann, Sie haben jetzt am Anfang gesagt, dass es durchaus in Ordnung wäre, wenn man bei einem solchen Denkmal wie dem Stelen-Feld dem Verfall zusehen könnte, dass das gar nicht schlimm ist und dass das durchaus intendiert sein könnte, dass sich da Risse zeigen und dass so ein Ding vielleicht langsam auch zerbröselt.
    Seligmann: Ja.
    Armbrüster: Würden Sie das auch bei anderen Denkmälern und Mahnmalen so akzeptieren, zum Beispiel bei einer KZ-Gedenkstätte?
    Seligmann: Da geschieht das ja. Bei den KZ-Gedenkstätten ist es mir wichtig, dass die Grundaussage dieses Schreckens erhalten bleibt, und da fehlt das Geld, wieder die instand zu setzen, jedenfalls in einen Zustand zu konservieren, dass erkannt wird, was dort geschehen ist. Ein Großteil des Geldes wird natürlich, wenn man irgendwo Geld konzentrieren muss, in diese zentrale Gedenkstätte transferiert, was meiner Ansicht nach nicht so notwendig ist.
    Armbrüster: Dann sollte das Geld statt in dieses Stelen-Feld besser in den Erhalt von Gedenkstätten fließen.
    Seligmann: Ja.
    Armbrüster: Aber dann bleibt ja die Frage, dann bauen wir Gedenkstätten nach. Dann ersetzen wir alte Beton-, alte Holzteile in jahrzehntealten Gebäuden durch neue.
    Seligmann: Wir müssen es konservieren. Das ist wie bei jedem Bauwerk. Aber mich persönlich und, ich glaube, jeder der sich mit der Geschichte, mit der deutschen Geschichte auseinandersetzt, wird Ihnen bestätigen, dass diese Originalschauplätze wie ehemalige KZ viel beeindruckender und viel authentischer sind als Stein-Stelen. Das ist ein künstliches Denkmal und das andere sind die Originalplätze, und die sind mir zum einen an das Gedenken wichtig und zum anderen aber auch ein Hinweis, dass wir, wie der Bundespräsident vor kurzem sagte, inzwischen eine 65-jährige deutsch-jüdische Geschichte nach '45 haben, in der wieder Leben entsteht. Die dürfen wir darüber nicht vergessen.
    Armbrüster: Der Publizist und Politologe Rafael Seligmann war das live hier bei uns in den „Informationen am Mittag" mit seiner Sicht auf das Berliner Stelen-Feld. Dort entstehen nach Zeitungsangaben zahlreiche Risse. Vielen Dank.
    Seligmann: Danke.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.