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Human Challenge Studie
Gezielt anstecken für die Impfstoff-Entwicklung

Die Suche nach einem geeigneten Corona-Impfstoff braucht Zeit. Belastbare Daten liegen erst nach Monaten vor. Schneller geht es bei Human Challenge Studien: Hier werden Testpersonen erst geimpft und dann kontrolliert infiziert. In England soll nun eine solche Studie beginnen.

Von Volkart Wildermuth | 01.10.2020
Eine Spritze vor einem Arm (Symbolbild)
Eine Spritze vor einem Arm (dpa / picture alliance / SvenSimon)
Impfstoffstudien brauchen Zeit. Zehn Kandidaten befinden sich schon in der entscheidenden Phase drei, doch erste Zwischenergebnisse gibt es frühestens im Oktober. Endgültige Daten zu Sicherheit und Wirksamkeit dürften erst Monate nach Studienbeginn vorliegen. Währenddessen stecken sich weiter Menschen mit SARS-CoV-2 an und sterben an COVID-19. Die Gruppe "1Day Sooner" will deshalb eine Abkürzung einschlagen, sogenannte HumanChallenge Trials, bei denen gesunde Probanden absichtlich mit COVID-19 infiziert werden.

Wie funktionieren Human Challenge Studien?

Bei den normalen Phase-III-Studien dauert es lange – oft viele Monate - bis sich nach der Impfung zufällig genug Probanden mit SARS-CoV-2 angesteckt haben, um verlässliche Ergebnisse zwischen Kontrollgruppe und Impfgruppe zu bekommen. Bei den Human Challenge Studien nimmt man den Zufall aus dem Spiel: Deutlich weniger Probanden werden geimpft und dann unter kontrollierten Bedingungen mit SARS-CoV-2 infiziert. Schon nach zwei Wochen ist dann klar, ob es deren per Impfung gestärktes Immunsystem schafft, mit dem Virus fertigzuwerden.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)

Wieso werden nicht viel mehr dieser Schnellstudien gemacht?

Diese Studien werden eigentlich nur bei Krankheiten durchgeführt, für die es eine gute Behandlung gibt, zum Beispiel Helicobacter. Der Mikrobiologe Barry Marshall war überzeugt, dass dieses Bakterium der Grund für Magengeschwüre ist und nicht etwa Stress oder falsche Ernährung. Er schluckte Helicobacter, bekam erst ein Magengeschwür und später den Nobelpreis. Das Bakterium und damit auch das Magengeschwür konnten einfach durch Antibiotika beseitigt werden. Solch einen medizinischen Rettungsring gibt es bei COVID-19 aber nicht. Deshalb warnen Ethiker und auch die meisten Pharmafirmen davor.
Die Weltgesundheitsorganisation hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die schon im Juni einen Vorschlag gemacht hat, wie sich solche Human Challenge Studien organisieren ließen. Die Gruppe 1Day Sooner ist allerdings der Meinung, das Risiko sei bei jungen, gesunden Probanden zu vertreten, schließlich erkrankten die meist gar nicht oder nur leicht. Zwar gibt es auch da schwere, sogar tödliche Verläufe. Doch das Risiko sei niedriger als etwa bei einer Nierenspende, die schließlich auch erlaubt sei. Allerdings ist bei einer Nierenspende der Nutzen für den Empfänger klar. Das verhält sich bei einer Impfstudie schon deutlich indirekter. Trotzdem haben sich bei 1Day Sooner wohl schon mehr als 38.000 Menschen weltweit registriert, davon 2.000 in Großbritannien.

Wie läuft die Human Challenge Studie in England genau ab?

Das Projekt wird vom seriösen Imperial College London geleitet. Die eigentliche Impfung und später Infizierung wird wahrscheinlich bei hVivo gemacht, einem Studiendienstleister, der bereits Erfahrung mit Human Challenge Studien hat - wenn auch normalerweise mit Erregern, die man besser im Griff hat. Die Studie verläuft dann in zwei Phasen: Erst werden die Probanden geimpft, dann wartet man einen Monat, damit das Immunsystem Zeit hat, zu reagieren. Und dann folgt der entscheidende Schritt, die gezielte Infektion mit SARS-CoV-2. Zur Sicherheit bleiben die Probanden bei hVivo isoliert, auch damit sie niemanden anstecken können. Innerhalb von zwei Wochen sollte dann feststehen, ob es einen Schutz gibt. Noch ist unklar, wann die Studie genehmigt wird, wirklich los geht es vermutlich im Januar.

Wie geht man bei einer Human Challenge Studie mit gesundheitlichen Problemen um?

Bei großen Studien mit zehntausenden Teilnehmern ist es praktisch unvermeidlich, dass vereinzelt auch zufällig schwere Symptome auftreten. An einer Human Challenge Studie nehmen aber nur wenige Personen teil, da ist so ein zufälliges Problem unwahrscheinlich. Die Probanden werden nach der Impfung gut überwacht. Wenn der Prüf-Impfstoff schon in einer Phase-I-Studie war, dann sind eigentlich keine Schwierigkeiten zu erwarten. Wenn er aber zum allerersten Mal Menschen gegeben wird, dann würde man erst mal eine Person impfen und abwarten, bevor die nächsten drankommen. Das ist inzwischen Standard.
Eine Spritze steckt in einem Fläschchen mit der Aufschrift "Coronavirus-Impfstoff" und
COVID-19: Warum es so lange dauert, einen Impfstoff zu entwickeln
Die Entwicklung eines Impfstoffs ist ein komplexer, langwieriger Prozess. In der Regel dauert es mehrere Jahre, von den ersten Experimenten im Reagenzglas bis zu einer Zulassung eines Wirkstoffs. Unter dem Druck der aktuellen COVID-19-Pandemie soll nun alles etwas schneller gehen.
Bisher wurden alle COVID-19-Impfstoffe gut vertragen und haben nur die erwarteten Reaktionen einer Immunreaktion ausgelöst, Schmerzen an der Einstichstelle, Fieber und so weiter. Nach der Infektion werden die Patienten ständig überwacht. Wenn sie Symptome entwickeln, dann können Ärzte direkt gegensteuern, etwa mit dem Medikament Remdesivir. Besser kann man so etwas kaum organisieren, aber ein Restrisiko bleibt. Deshalb würden die Probanden wohl auch eine höhere Entschädigung bekommen, als die bei solchen Studien üblichen 3.700 Pfund.

Könnte ein Impfstoff aus einer Human Challenge Studie direkt in die Zulassung gehen?

Nein. Eine solche Studie kann nicht zur Zulassung führen. Eine Human Challenge Studie ersetzt keine Phase-III-Studie. Bei der Wirkung wird ja nur geprüft, ob eine verlässliche Immunantwort bei jungen, gesunden Menschen gegen einen konkreten Virenstamm ausgelöst wird. In der Praxis brauchen aber ganz unterschiedliche Personen einen Schutz, also auch alte mit einem schwächeren Immunsystem und zwar gegen all die verschiedenen Virenvarianten, die im Umlauf sind. Zweitens handelt es sich um eine kleine Studie. Um einen einigermaßen verlässlichen Überblick über die Nebenwirkungen eines Impfstoffs zu bekommen, muss er tausenden von Personen gegeben werden.
In England geht es um etwas anders. Es werden weltweit über hundert Impfstoffkandidaten erforscht. Die können unmöglich alle in Phase-III-Studien geprüft werden. Eine Human Challenge Studie könnte die Auswahl beschleunigen, weil sie zeigen kann, ob dieser Impfstoffkandidat unter idealen Bedingungen funktioniert. Die Studie in London beginnt allerdings erst im Januar. Derzeit laufen schon zehn Phase-III-Studien. Es könnte sein, dass die positiven Ergebnisse vorlegen, bevor die Human Challenge Studie startet.