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Iain Sinclair: "Der Rand des Orizonts"
Mit den Füßen denken

Iain Sinclair wanderte für sein Buch "Der Rand des Orizonts" die Strecke nach, die 170 Jahre vor ihm der Dichter John Clare bei seiner Flucht aus einer Nervenheilanstalt zurücklegte. Ein Weg voller Widersprüche, gepflastert mit Halluzinationen. Aber auch eine Erkundung, wie Landschaften unser Denken und Fühlen verändern.

Von Mithu Sanyal | 20.03.2017
    Ein Mann wandert am 7.1.2004 am "Old Man of Coniston" im Lake District in Cumbria, England.
    Das Wandern und Erkunden von Orten spielt in vielen Büchern Iain Sinclairs eine wichtige Rolle. (dpa / picture-alliance / PA Phil Noble)
    1841 floh der englische Dichter John Clare aus der Nervenheilanstalt, in die er eingeliefert worden war, und ging 120 Kilometer zu Fuß nach Hause. Ohne Geld, ohne Essen, sicher, dass die Straße ihn zurück zu Gesundheit und zu seiner toten Liebe Mary Joyce tragen würde. Rund 170 Jahre später wandert der englische Schriftsteller Iain Sinclair die selbe Strecke nach, da er mit John Clare die Überzeugung teilt, dass Orte einen Einfluss auf die geistige und emotionale Gesundheit haben.
    Berühmt wurde Sinclair mit seiner Umwanderung Londons auf dem Autobahnring M1. "Der Rand des Orizonts" ist intimer und persönlicher. Nicht nur ist Sinclair älter und schlechter zu Fuß als in seinen frühen Büchern, auch wird er von seiner lebenden großen Liebe begleitet, Anna Sinclair, mit der er seit fast 40 Jahren verheiratet ist. Glückliche Ehen sind so selten in der Literatur, dass sich allein dafür das Lesen lohnt.
    Vertreter der Psychogeografie
    Iain Sinclair ist einer der wichtigsten Vertreter der Psychogeografie in England. Mit seinen Büchern und Filmen verfolgt er stets das Programm, den öffentlichen Raum mit dem Seelenraum zu verbinden. Auf den Spuren des Geistes John Clares, der dem Gespenst Mary Joyce folgte, macht Sinclair Erinnerungsschichten lebendig, geistige Verwandtschaften über Zeit und Raum hinweg. Fußwege, Zaunübertritte, Brücken, erhalten Bedeutungen über ihren alltäglichen Gebrauch hinaus.
    Um an diesem Zauber teilzuhaben, braucht man die Landschaften und Dörfer auf seinem Weg nicht zu kennen. "Der Rand des Orizonts" ist eine Gebrauchsanweisung für eine eigene Psychogeografie. Nach der Lektüre geht man anders durch die Stadt.
    Mithu Sanyal hat das Buch gelesen und erzählt im Gespräch mit Dina Netz, was ihr an dem Buch gefallen hat und wo ihrer Meinung nach die Schwächen liegen.
    Iain Sinclair: "Der Rand des Orizonts. Auf den Spuren von John Clares 'Reise aus Essex'".
    Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017. 272 Seiten, 28 Euro.