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Ilse Aichinger
„Mich wundert, dass sich niemand wundert“

Ilse Aichinger galt als die große Außenseiterin der deutschsprachigen Literatur. Schon in der Gruppe 47 war sie eine Ausnahmeerscheinung. Anlässlich ihres 100. Geburtstags, der am 1. November gewesen wäre, würdigen verschiedene Neuerscheinungen die Schriftstellerin.

Von Dorothea Dieckmann | 01.11.2021
Ein Protrait der Schriftstellerin Ilse Aichinger und 4 Cover neuer Bücher zu ihrem 100. Geburtstag
Das Nicht-Schreiben verstand die 2016 verstorbene Ilse Aichinger als eigentlichen Teil ihrer Arbeit (Buchcover S. Fischer, Suhrkamp, Edition Korrespondenzen /Autorenportrait Imago)
Februar 1946 - noch ist der Krieg kein Jahr zuende, da sitzt Ilse Aichinger, gerade 25, in einer winzigen Wiener Wohnung am Küchentisch und schreibt an ihre Schwester, die sie seit sieben Jahren nicht gesehen hat.
"Die Tage fließen hier so ineinander, immer schneit es und der Wecker tickt ernst und selbstbewußt, Schritte gehen vorbei und es ist wieder still. So bleibt mir Zeit, zurückzutauchen in die Verfolgung und das Elend, das mich nicht loslässt und mir irgendwie zur Verpflichtung geworden ist (...) – mein Roman wird nicht fertig, denn ich zweifle an mir selbst und an allen meinen Worten – immer will ich viel mehr sagen, als ich dann sagen kann (...) – denk an mich, denn er muss fertig werden, sonst erstick ich dran! Manchmal glaub ich, man muss zuerst schweigen lernen, bevor man spricht. Sehr müd bin ich manchmal und gequält, es nimmt sehr her, das, was man Talent nennt, manchmal möcht ichs wegwerfen und kann doch nicht."

Befremden und Bewunderung

Der Roman, der am selben Tisch entsteht, widersetzt sich schon im Titel "Die größere Hoffnung" der Verfolgung, dem Leid, dem gewaltsamen Tod, von denen er erzählt. Er erscheint 1948, zeitgleich mit Celans erstem Gedichtband "Der Sand aus den Urnen", der die "Todesfuge" enthält. Beide Bücher, erste Zeugnisse einer "Literatur nach Auschwitz", werden zunächst wenig beachtet. Bei der Kritik löst "Die größere Hoffnung" ebensoviel Befremden wie Bewunderung aus. Nun schickt der Verleger Gottfried Bermann Fischer, der den Verlag über die Exilzeit gerettet hat, seiner Autorin einen Brief. Fast fünfzig Jahre später hört sich Ilse Aichinger den Wortlaut noch einmal an:
Richard Reichensperger: "1948. An die Ilse Aichinger. Gottfried Bermann Fischer: Sie müssen sich jetzt aber auch sehr fest disziplinieren und in die Hand nehmen. Die Freiheiten, die Sie sich bei Ihrem ersten Buch noch erlauben konnten, gewisse Abschweifungen und ein gewisses Sichgehenlassen in den Seitensprüngen der Phantasie, müssen Sie beim nächsten Buch abstellen."
Ilse Aichinger: "Das war nicht so wahnsinnig ermutigend. Aber ich hab’s auch nicht zu ernst genommen, ich hab’ mir nur gedacht: Der hat ja keine Ahnung."
Ilse Aichingers Werk beweist, dass der Begründer des Fischer Verlages damals die Bedeutung ihres Schreibens tatsächlich nicht begriffen hatte. Disziplin statt Freiheit, Verzicht auf die Abschweifungen der Phantasie: Die Ironie liegt darin, dass Aichinger gerade diese Ansprüche verfolgte, im Lauf der Jahre immer strenger auslegte und auf eben diesem Weg eine der großen Autorinnen der literarischen Moderne wurde.
"Also das Wort Dichterin, das Wort Phantasie, das hat mich schon als Kind wahnsinnig gemacht und immer zornig. Bis heute. Ich will keine Phantasie. Was ist das? Ich wollte genau sein, und das will ich auch jetzt noch. Ich habe zuallerletzt zwei Erinnerungen an das Kriegsende geschrieben (...). Das sind wirklich nur mehr genaue Berichte, oder Berichte über jetzige Situationen. Ich wollte präzis sein. Und wenn es jetzt auf Berichte hinausläuft, hab’ ich dann endlich erreicht, was ich wollte."

Poetik des Misstrauens

Richard Reichensperger, mit dem Aichinger dieses öffentliche Gespräch führte, war Kritiker für die Wiener Tageszeitung "Der Standard" und Herausgeber ihrer Werkausgabe. Als ihr "Lebensmensch" der späten Jahre hat er maßgeblich dazu beigetragen, dass sie wieder zu schreiben begann – nach Jahrzehnten kaum unterbrochenen Schweigens. Sprachskepsis ist das Signum ihrer Literatur. "Ilse Aichinger hat keine Themen. Sie hat eine Sprache", erklärt der Schweizer Literaturkritiker Samuel Moser: "Und sie hat nur eine Sprache. Die Sprache, der sie misstraut." "Aufruf zum Mißtrauen" heißt einer ihrer ersten Texte nach dem Krieg, und in der Erzählung "Meine Sprache und ich" wird das Misstrauen zur Poetologie:
"Meine Sprache und ich, wir reden nicht miteinander. Wir haben uns nichts zu sagen. Es müßte ihr mehr an mir liegen, schon lange. Ich habe sie im Verdacht, dass ihr nur an sich selbst liegt. Oder nichts an sich selbst. Oder beides, das trifft sich. (...) Man wird mit der Zeit nichts mehr von ihr wollen. Und ich werde das meinige dazutun. Ich werde hier und da einen Satz einflechten, der sie unverdächtig macht."
Die Radikalität dieser Literatur hat dazu geführt, dass weite Teile des Lesepublikums mit dem Namen Aichinger kaum mehr verbinden als jene Schriftstellerin, die zusammen mit Ingeborg Bachmann eines der wenigen weiblichen Mitglieder der Gruppe 47 war – und die Frau, die Günter Eich heiratete. Immer unerbittlicher und subversiver hat ihr Schreiben der herrschenden Wirklichkeit, der herrschenden Sprache das Einverständnis versagt. Ihre Hörspiele und Erzählungen zertrümmern gewohnte Festlegungen und Sinngebungen, und das auf äußerst sinnliche Weise, konkret, anarchisch, neuschöpfend. In den Worten von Peter Handke:
"Ilse Aichinger vertraut nur auf ihre eigene, tiefe – ja: Wildheit kann man sagen. Es ist eine sehr wilde Literatur, fast eine ursprüngliche Literatur. (...) Ein Wort genügt, und nicht nur die Seele des Lesers wird gesund, sondern die Seele dessen, der liest, die wird sehend. Das ist das, was über das Zauberhafte hinausgeht und im guten Sinn eine beständige Literatur erzeugt."

"Wult" wäre besser als "Welt"

Dem Ungenügen an den Worten, an ihrer Tendenz, die Wirklichkeit zu verbrämen statt zu bezeichnen, begegnet sie mit einer Neuvermessung des Sprachraums. Während man den Erzählungen in den Fünfzigern noch einen beschreibbaren Inhalt entnehmen konnte, verzichten die Hörspiele und Prosatexte der Sechziger und Siebziger darauf, Zusammenhänge zu stiften oder erlesene Wörter zu verwenden: "Ich gebrauche jetzt die besseren Wörter nicht mehr", heißt es in dem Band "Schlechte Wörter". Diese Negation trotzt der Macht falscher Gewissheiten, falscher Antworten, falscher Brauchbarkeit, falscher Zentralperspektive. Im äußersten Sprachzweifel, an den äußersten Orten finden sich neue Worte:
"Wult wäre besser als Welt. Weniger brauchbar, weniger geschickt. Arde wäre besser als Erde. Aber jetzt ist es so. Normandie heißt Normandie und nicht anders. Das Übrige auch. Alles ist eingestellt. Aufeinander, wie man sagt. Und wie man auch sieht. Nur Dover ist nicht zu verbessern. Dover heißt so wie es ist. Von diesem, wie viele sagen, unbeträchtlichen Ort sind alle Bezeichnungen und das, was sie bezeichnen, leicht aus den Angeln zu heben. Delft, Hindustan, auch beyond. Obwohl beyond kein Ort ist. Oder wahrscheinlich keiner ist. Aber Dover, beharrlich und sehr am Rand, nützt seine Macht nicht. Das eben ist sein Gütezeichen."
Die Entwicklung von Aichingers Literatur lässt sich als konsequenter Weg ins Schweigen kennzeichnen. Dass sie am Ende des Jahrhunderts wieder zum Schreiben zurückfand, betrachtete sie selber als "spätes Glück". Die letzten Texte sind ein serielles Spätwerk im flüchtigen Medium von Feuilletonkolumnen und -journalen, das sie in Buchform größtenteils der Wiener Edition Korrespondenzen anvertraute. Voraussetzung war die Rückkehr in die Stadt, in der Aichinger starb und in der sie vor heute hundert Jahren geboren wurde: Wien.

Zwei traumatische Daten

Zwei Daten innerhalb der eisernen Zeit nach dem Anschluss Österreichs haben ihr Leben und Schreiben gezeichnet. 1939 emigrierte ihre identische Zwillingsschwester Helga mit einem Kindertransport zu einer Tante nach England, während Ilse zum Schutz der jüdischen Mutter in Wien blieb. Den Plan, ihnen nachzufolgen, machte der Kriegsausbruch zunichte. Der durch Krieg und Zensur extrem erschwerte Briefwechsel der Schwestern Ilse und Helga in der langen Trennungszeit zwischen 1939 und 1947 ist nun in der Edition Korrespondenzen erschienen, mit Faksimiles versehen und von Nikola Herweg in bisher unerreicht sorgfältiger Weise biografisch kommentiert. In einem Weihnachtsbrief schreibt Ilse nach London:
"Der Himmel draußen wird immer tiefer und immer schwerer von Hoffnung und noch immer schneit es und die Gesichter der Menschen werden verhüllt und wenn irgendwo in der Auslage eines Friseurladens ein Spiegel ist, dann kann man sich entgegen gehen und man kann glauben, das Spiegelbild bist Du, mein Geliebtes!"
Im Mai 1942 dann sieht die Zwanzigjährige auf der Wiener Schwedenbrücke in einem Viehwagen die Großmutter, zusammen mit zwei Geschwistern der Mutter – zum letzten Mal. Sie werden bei Minsk ermordet. Diesen Moment hat Aichinger, wie sie später sagte, nicht überlebt. Die vom Roten Kreuz übermittelten Kurzbriefe, in denen nur das Fehlen der Namen den Verlust anzeigt, lassen sich nicht ohne Erschütterung lesen. Mit 75 erinnert sich Aichinger an ihre Angst, wenn die Mutter, eine Ärztin, auf Krankenbesuch war, und vergleicht ihre Abwesenheit im fernen Stadtteil Simmering mit dem Verschwinden der Großmutter:
"Das Gefühl, jemanden zu verlieren, das war früh. Das Gefühl zum Beispiel, dass sie aus Simmering nicht zurückkommt, war vielleicht so stark wie die irrsinnige Hoffnung, dass meine Großmutter, die mir der liebste Mensch auf der Welt war, was ich immer wieder betone – und noch ist –, dass die zurückkommt. Also die irre Vorstellung, dass jemand nicht zurückkommt, weil er sieben Stunden in Simmering ist, oder dass jemand zurückkommt, der auf einem Viehwagen nach Minsk deportiert wird und den man noch in dem Viehwagen sieht, über eine Brücke in Wien fahren – das sind so Paradoxien, die auch in einem selbst bleiben."

Schreiben vom Ende her

Diese Paradoxie prägt Aichingers Poetik als ein Schreiben "vom Ende her und auf das Ende hin", wo Verlust und Hoffnung, Abschied und Aufbruch zusammenfallen – am augenfälligsten in der berühmten "Spiegelgeschichte", die den Lebenslauf einer jungen Frau rückwärts erzählt. Im Gedicht "Winterantwort" verschränken sich die Stimmen der Großmutter und ihres Enkelkinds. Frage und Antwort, Tod und Leben überschneiden sich:
"Winterantwort
Die Welt ist aus dem Stoff,
der Betrachtung verlangt:
keine Augen mehr,
um die weißen Wiesen zu sehen,
keine Ohren, um im Geäst
das Schwirren der Vögel zu hören.
Großmutter, wo sind deine Lippen hin,
um die Gräser zu schmecken,
und wer riecht uns den Himmel zu Ende,
wessen Wangen reiben sich heute
noch wund an den Mauern im Dorf?
Ist es nicht ein finsterer Wald,
in den wir gerieten?
Nein, Großmutter, er ist nicht finster,
ich weiß es, ich wohnte lang
bei den Kindern am Rande,
und es ist auch kein Wald."
Und die 85jährige sagt:
"Man sollte die Stimmen derjenigen, mit denen man sich täglich unterhält, auch Fremder und auch die der Nächsten, so hören, als hörte man die Stimmen von aus dem Grab Wiedergekommenen. Denn eines Tages sind es solche Stimmen."

Eine andere Autobiographie

Aus dem Grab tönt inzwischen auch diese Stimme, die während Aichingers Schreibabstinenz oft in Interviews zu hören war, vor allem seit ihrer Rückkehr nach Wien im Jahr 1988. Dann erschienen vom Jahr 2000 an ihre "Viennale-Tagebücher" zum Wiener Filmfestival, die Kolumnen "Unglaubwürdige Reisen", "Journal des Verschwindens" und "Schattenspiele" in Wiener Zeitungen – fliegende Texte auf fliegenden Blättern. Straßen, Kinos und Kaffeehäuser sind die Orte, an denen Erinnerungen aufflackern und verschwinden – so wie "Steine dem Wasser anvertraut" werden, "damit sie darauf springen", wie es in dem Band "Film und Verhängnis" heißt, für den die Autorin einen Teil der Texte zusammenstellte. Der Untertitel "Blitzlichter auf ein Leben" verweist auf eine Autobiographie, die sich der Flüchtigkeit, der Plötzlichkeit verschreibt – statt einer chronologischen, auf ein stabiles Ich zentrierten Rückschau.
Im dunklen Kinosaal verbindet sich das Licht-Schatten-Spiel der Filmvorstellungen mit den Momentaufnahmen der Erinnerung. Schnitt und Montage, die präzise sprachliche Evidenz von Assoziationen und Déjà-vus kennzeichnen die Texte – ebenso wie die in den Büchern "Kurzschlüsse" und "Subtexte" gesammelten Notate. Zeiten und Orte bilden eine bewegte, durchlässige Raumzeit, unvereinbar mit der Konstruktion eines kohärenten Ich-war-einmal. Das Ich als solches steht in Frage und verschwindet zusehends aus den autobiographischen Miniaturen. Im "Journal des Verschwindens" erklärte Aichinger rückblickend:
"Vieles lernte ich langsam, aber ‚ich’ sagte ich bald und empfand es ebenso bald als daneben. Wie jede Anrede an Fremde, von denen man nicht weiß, wer sie sind. Zugleich wollte ich nicht zuviel von mir wissen, weder wieviel noch wie wenig dahinter."

Poetik des Verschwindens

Schon in der Erzählung "Die Maus" von 1965 ist das Beharren auf Unidentifizierbarkeit ein existenzieller Akt des Widerstands:
"Wer weiß, vielleicht beruht mein Jubel darin, dass ich unauffindbar bin."
Das Verschwinden – man kann es fast als Aichingers Credo bezeichnen – definierte sie als "Anlaufstrecke() für die Freiheit wegzubleiben." Es steht nicht im Widerspruch zum Engagement, sondern für eine Haltung, in der sich Ablehnung mit Auflehnung verbindet, ja sogar mit Humor:
Richard Reichensperger: "Würde die Welt anders ausschauen, wenn du bei der Schöpfung dabeigewesen wärst?"
Aichinger: "Ich hätte die Schöpfung untersagt. Und zwar sofort."
Reichensperger: "Du wärst dagegen gewesen?"
Aichinger: "Dagegen."
Reichensperger: "Ja ... dann säßen wir jetzt nicht hier."
Aichinger: "Ja, das hätte ich – ich hätte gesagt, nur unter der Bedingung, dass wir an diesem und diesem Tag in Berlin sind. (Lachen im Publikum). Aber sie bringt doch so viele Leiden mit sich und vor allem das Mitansehen von Leiden, dass man sie nur mit größter Skepsis betrachten muss. Und mich wundert, dass sich niemand mehr wundert. Über sich selbst und über alles."
Jetzt, zu ihrem 100. Geburtstag, werden weitere Spuren von Autorin und Person vor dem Verschwinden bewahrt. Der Fischer Verlag hat rund hundert über ihr gesamtes Schreibleben an verstreuten Orten veröffentlichte Texte zusammengestellt; die Edition Korrespondenzen versammelt erstmals Radioessays von 1957.

Der "dritte Zwilling" Ingeborg Bachmann

Das Ich eines Autors aufzufinden, das versprechen üblicherweise Briefe. Ein weiterer Briefband dokumentiert die Beziehung zwischen dem Paar Ilse Aichinger-Günter Eich und Ingeborg Bachmann. Während die Zwillinge einen Abgrund erzwungenen Schweigens zu überbrücken suchen, begleitet diese Korrespondenz eine gelebte Freundschaft. Hier erscheint Aichinger im privaten Alltag innerhalb ihrer Familie, in die Bachmann als "dritter Zwilling" aufgenommen wird, und übernimmt vornehmlich die Rolle der Trösterin und Ratgeberin. Ilse, vertraut mit der äußersten Verlassenheit, versichert schon im ersten Brief der von Alltagsnöten geplagten Freundin Inge,
"daß ich es mit Dir teile und das für wichtiger halte als vieles von dem Wirbel und dem Betrieb, den ich für gefährlich halte, sobald er einem keine Zeit mehr lässt Heimweh zu haben und diese Verlassenheit zu spüren, die mit uns allen identisch ist und die auf der anderen Seite den Glanz ausmacht, wenn wir ihn auch selbst in diesem Augenblick nicht sehen."
Allmählich werden Bruchlinien deutlich: Vom Literaturgetriebe, von dem sich Aichinger distanziert, lässt sich Bachmann zusehends einnehmen, und ihre persönlichen Krisen nehmen der Freundschaft den Raum. Sie zeigt sich verletzt über ein "Wir" Aichingers, das Günter Eich einschließt. Spätestens als aus ihr und Max Frisch ein "Wir" wird, verebbt der Briefwechsel. Wie tief auch die literarische Kluft ist, erweist sich Jahrzehnte später, als Ilse Aichinger, 82jährig, Bachmanns Begriff der "Todesarten" in Frage stellt: Er sei falsch wie das meiste, was sie geschrieben habe. Über ihr eigenes Schreiben verliert Ilse gegenüber Inge kaum ein Wort. Es findet sich lediglich eine Andeutung an die "Maulwürfe" getauften Prosagedichte, die sie später unter dem Titel "Kurzschlüsse" ordnete. Sie arbeite, heißt es 1954 bündig,
"an immer kürzeren Versuchen, die man auch nicht mehr Geschichten nennen kann. Das nächste werden wahrscheinlich Seufzer sein, um es noch kürzer zu machen."

Vorrang der Sprache

Seufzer – so könnte man viele der Briefe an Helga aus den vorangegangenen Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegsjahren nennen. Sie geben nicht nur Aufschluss über eine Jugend im Zeichen äußerster Bedrohtheit, sondern auch über die vor jeder Veröffentlichung angelegten Fundamente von Ilse Aichingers Poetik. Im Versuch, das Nichts zwischen Absenderin und Adressatin – und das Nichts angesichts der Vernichtung – zu durchdringen, wird ihr Misstrauen gegen die vorhandene Sprache, ja schon jenes gegen das Subjekt "Ich" vorweggenommen:
"Während ich schreibe, weiß ich, dass meine Worte nicht genügen, ich weiß das immer, aber ich schreib weiter und ich will, dass zuletzt das Wort ich wegfällt, das ist mein größter Wunsch, aber noch in weiter Ferne".
Tatsächlich hat Aichinger in der "weiten Ferne" des Alters der Sprache absoluten Vorrang vor der persönlichen Existenz eingeräumt. Gefragt, wie ihr denn ihre Worte einfielen, antwortete sie:
Aichinger: "Es ist tatsächlich so: Ich glaube, sie existieren. Und sie würden auch, wenn sie mir nicht einfallen – bin ich ganz überzeugt, dass sie jemand anderem einfallen würden."
Richard Reichensperger: "Aber mir nie!" (Lachen im Publikum).
Aichinger: "Doch, doch, natürlich! Gerade denen, die das nicht glauben ... Dass sie einfallen würden, weil sie da sind, weil sie präsent sind. (...) Ich hab bei mir eher das Gefühl, dass ich sehr zufällig bin, als bei Sätzen. Nicht nur bei meinen, schon gar nicht nur bei meinen, sondern überhaupt bei Sätzen, die stimmen, habe ich das Gefühl, die sind nicht zufällig. Die wären gekommen, ob sie durch mich – das ist nicht sehr wichtig – oder durch jemand anderen gekommen wären. Die wären da."
Helga und Ilse Aichinger: "Ich schreib für Dich und jedes Wort aus Liebe". Briefwechsel, Wien–London 1939–1947
Hrsg. von Nikola Herweg, mit Abbildungen
Edition Korrespondenzen, Wien 2021
380 S., 28 Euro
Ilse Aichinger: "Aufruf zum Mißtrauen. Verstreute Publikationen 1946–2005"
Hrsg. von Andreas Dittrich
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021
320 S., 25 Euro
Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Ilse Aichinger: "halten wir einander fest und halten wir alles fest!" Der Briefwechsel Ingeborg Bachmann – Ilse Aichinger und Günter Eich.
Hrsg. von Irene Fußl und Roland Berbig
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
379 S., 40 Euro
Ilse Aichinger: "Die Frühvollendeten". Radio-Essays
Hrsg. und mit einem Nachwort von Simone Fässler
Edition Korrespondenzen, Wien 2021
192 S., 22 Euro