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Im Sardellen-Paradies

Beim Urlaubsziel Türkei, da denken die meisten an das hippe, quirlige Istanbul oder an All-Inclusive-Urlaub in Antalya. Dass die Türkei auch eine Küste im Norden hat, wird dabei oft vergessen. Genau das aber ist der Vorteil derer, die sich aufmachen, diesen Geheimtipp zu erkunden.

Von Louise Sammann und Fatih Kanalici |
    Es ist Sonntagnachmittag - und ganz Istanbul ist auf den Beinen. Sonntags gehen die Istanbuler shoppen was das Zeug hält, drängeln sich in Restaurants und Kebap-Salons, spazieren mit ihren Familien durch verstopfte Straßen. Und: sie tanzen!

    Zumindest hier: Am Bosporusufer im Stadtteil Kadiköy tanzen knapp 50 Männer und Frauen im Kreis um einen tiefer gelegten weißen Opel mit roten Ledersitzen herum. Aus dem offenen Kofferraum wummert ein riesiger Lautsprecher, wie jeden Sonntag ... Denn immer dann treffen sich hier die Istanbuler, die eigentlich an der Schwarzmeerküste, im Norden des Landes zuhause sind. Alte Opas hüpfen neben grell geschminkten Mädchen auf und ab, dicke Kopftuchfrauen neben schlaksigen Jungs in nass geschwitzten T-Shirts. Nur eins haben sie alle gemeinsam: Sie sind karadenizli, Schwarz-Meer-Bewohner. Und darauf sind sie mächtig stolz! "Weil es die schönste Region der ganzen Türkei ist", schreit der 28-jährige Fatih und klinkt sich für eine Minute aus dem Kreis aus, um zu verschnaufen.

    "Das hier ist der traditionelle Tanz der Schwarzmeerküste. Er heißt Horon. Die Jüngeren lernen ihn auf Hochzeitsfeiern von den Älteren. Er sieht so aus, weil die Schwarzmeerbewohner nun mal hyperaktiv sind. Wir haben warmes Blut, bei uns sind alle so. Immer in Bewegung und niemals unglücklich!"

    Fatih zeigt zu den Tänzern hinüber. Über 100 sind es inzwischen, die sich Hand in Hand zur Musik im Kreis drehen. Nein, eigentlich zappeln sie eher! Sie schlackern und zucken mit Armen und Beinen nach einem System in der Luft herum, das wohl nur sie selbst verstehen.

    "Guck auf die Beine! Die bewegen sich wie schnelle Fische, wie Sardellen. Man sagt, bei denen haben wir uns das abgeguckt, und das stimmt genau. Wir sind alle so beweglich wie Sardellen. Und Sardellen sind auch unser berühmtestes Gericht. Nichts geht ohne sie! Es heißt, wir haben mindestens 66 verschiedene Sardellen-Gerichte bei uns. Und stell dir vor, wir haben sogar Sardellen-Nachtisch!"

    Nur ein paar Stunden dauert die Fahrt von Istanbul hinauf ans Schwarze Meer. Hunderttausende Schwarzmeerbewohner sind in den letzten Jahren nach Istanbul gezogen, wo es Arbeit und Fortschritt gibt. Doch wann immer es geht, nehmen sie den Bus nach Hause in ihre Dörfer. Dorthin, wo jeder Nachbar ihren zappelnden Tanz beherrscht, wo sich das halbe Leben um einen klitzekleinen, silbrig glänzenden Fisch dreht: die Sardelle.

    Immer sattgrüner färbt sich die Landschaft, die am Fenster vorbeizieht, je näher das Schwarze Meer kommt. Und dann plötzlich liegt es da, türkis-blau, wie aus dem Werbekatalog. Die schmale Küstenstraße schlängelt sich durch Haselnusswälder und Teeplantagen, durch verschlafene Fischerdörfer und einsame Buchten.

    Kurz hinter Samsun, der größten Küstenstadt, schaukeln in einem kleinen Hafen ein paar bunte Holzboote träge in der Nachmittagssonne auf und ab. Fischer hocken in Gummistiefeln am Ufer, flicken schweigend ihre Netze. Satilmiş Akdemir sitzt - eine Zigarette im Mundwinkel - in ölverschmierter Hose auf seinem Boot und entheddert mit rissigen Händen eine Nylonschnur.

    "Das hier ist die Makrelen-Angelschnur, mit ungefähr 40 schimmernden Haken dran. Wir lassen sie über die Wasseroberfläche gleiten während das Boot fährt. Wenn die Makrelen sie sehen, denken sie, dass es kleine Fische sind und fangen sie. Dann ziehe ich die Schnur heraus und lasse noch während der Fahrt gleich eine neue ins Wasser."

    Während er spricht, guckt Satilmiş auf seine Finger und die vertüdderte Schnur. 69 ist er, seit genau neun Jahren fährt er mit seinem kleinen Holzboot zum Fischen. Weil seine Rente nicht ausreicht, bessert er sie mit frischem Fisch auf. So machen es viele hier in der Region, die die Fischmärkte der ganzen Türkei versorgt.

    "Wenn wir mit dem Fisch zurückkommen, warten die Händler schon hier. Wir verkaufen ihnen unseren Fang und sie verkaufen den Fisch auf dem Fischmarkt. Aber natürlich verhandeln wir erst. Heute zum Beispiel kostet die Makrele fünf Lira."

    Seit heute morgen um fünf Uhr sitzt Satilmiş auf seinem Kutter. Die erste Ladung Fisch hat er längst verkauft, gleich will er noch einmal raus. Der Himmel ist bedeckt heute - da beißen die Fische gut. Vor allem aber, sagt Satilmiş und guckt zum ersten Mal von seinen Händen auf, vor allem hat jetzt die Sardellen-Saison angefangen.

    "Wenn die ersten Sardellen-Bote der Saison in den Hafen kommen, ist das für die Ärmeren ein riesen Fest. Alle kriegen dann etwas ab, tütenweise, während der Fang auf Lastwagen verladen wird. Ohne überhaupt zu fragen verteilen die Fischer die Sardellen an die Leute. Ein Kilogramm wäre schon genug für eine Familie, aber die Fischer verteilen oft Zehn-Kilogramm-Eimer, weil sie soviel gefangen haben."

    Satilmişs Augen leuchten jetzt. Die Schnur in seinem Schoß hat er für einen Moment vergessen. Unser Leben hier, sagt er, dreht sich um Sardellen seit ich denken kann.

    "Wir machen Reis damit oder Frikadellen. Und dann gibt es natürlich Sardellensuppe. Man kann sie auch grillen und dünsten. Das nennen wir Plaki: mit Petersilie, Zwiebeln, Tomaten und etwas Öl. Oft esse ich Sardellen an drei oder vier Tagen hintereinander. Wir können davon nie genug kriegen."

    Genug erzählt. Satilmiş rollt seine Schnur zusammen und schmeißt seinen 30 Jahre alten Dieselmotor an. Im Schneckentempo tuckert er aus dem kleinen Hafen, hinaus aufs offene Meer, wo sein Boot schon bald nur noch als winziger Punkt zu sehen ist .

    Einen Steinwurf vom Hafen entfernt verkaufen Marktschreier das, was Satilmiş und seine Kollegen jeden Tag aus dem Wasser ziehen. Umgeben von schiefen Holzständen, auf denen sich Fische in allen Größen stapeln, stehen ein paar kleine Tische auf dem Bürgersteig. Vorne beim kugelrunden Fischverkäufer Ahmed suchen die Gäste sich aus, was dann hinten in einer winzigen Küche frisch zubereitet wird. Ahmeds Empfehlung für heute: Sardellen - was sonst. Frittiert, mit frischem Salat dazu ...

    "Die Sardellen aus dem Schwarzen Meer sind lang, dünn und besonders lecker. Weil das Wasser hier kälter ist, haben sie mehr Geschmack. Die aus dem Marmarameer zum Beispiel sind fader, weil das Wasser dort zu salzig ist. Aber das gilt nicht nur für Sardellen, alle Fische aus dem Schwarzen Meer sind besser."

    Während Ahmed mit der Hand in einen Haufen frischer Sardellen greift, dreht am Nachbarstand jemand Musik auf. Nur eine Minute dauert es, dann hat sich ein Kreis gebildet: Fischverkäufer, Hausfrauen und ein paar Jugendliche drehen sich hüpfend im Takt der Musik, zappeln ihren Sardellen-Tanz - genau so, wie sie es jeden Sonntag am Bosporus in Istanbul tun. Fischverkäufer Ahmed grinst zufrieden: "Willkommen im Sardellen-Paradies!"