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Im Wahlkampf-Krisengebiet

Auf rund zwölf Prozent der Zweitstimmen kam die SPD bei der Bundestagswahl 2009 im Erzgebirge. Während Linke und CDU dort gut etabliert sind, kämpfen die Sozialdemokraten bei dieser Wahl erneut um jede Stimme.

Von Tim Belke | 19.09.2013
    "Schönen guten Tag" - "Ne danke" - "Hallo, guten Tag" - "Ohh, bitte nicht ..." - "Hallo, sind Sie auch für den Mindestlohn?"

    Andre Glöckner mag Schlagworte. Besonders im Wahlkampf: Mindestlohn und Altersarmut, das sind die beiden wichtigsten Themen für seine SPD im Erzgebirge. Zusammen mit fünf Genossen steht der Wahlkampfleiter unter roten Sonnenschirmen auf dem Marktplatz in Aue, mit 17.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt im Erzgebirgskreis. Die Wahlkämpfer sind hoch motiviert. Doch Interessierte gibt es kaum. Nur ab und zu schlendern Leute vorbei, kaum einer sucht das Gespräch. Viele hier erwarten nicht mehr viel von der Politik und besonders nicht von den Sozialdemokraten, erzählen die Wahlkämpfer und heben die Schultern: Da sei man ganz realistisch. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, diejenigen, die Arbeit haben, verdienen oft nur wenig. Zudem wählen hier in der Region die meisten konservativ. Bei der letzten Bundestagswahl 2009 kam die SPD nur auf rund 12 Prozent der Zweitstimmen. So wenige, wie in keinem anderen Wahlkreis in Deutschland. Doch an den schlechten Ergebnissen sei die eigene Partei nicht ganz unschuldig, erzählt der Kreisvorsitzende Gerd Habenicht selbstkritisch:

    "Natürlich haben wir hier gerade in dieser Region mit der Agenda 2010 zu kämpfen gehabt. Das hat uns auch sicherlich viele Stimmen gekostet."

    Deshalb spricht Habenicht die Agenda 2010 beim Straßenwahlkampf auch offen an, erzählt immer wieder von den Korrekturen, die die SPD jetzt vornehmen wolle, wie etwa die Rente nach 45 Versicherungsjahren. Verlorenes Vertrauen aufbauen – das ist die Devise in Aue. Aufbauarbeit nennen das Habenicht und seine Mitstreiter. Eine Arbeit, die von der Bundes-SPD nicht immer unterstützt wird, kritisiert Andre Glöckner:

    "Manche Themen, die passen einfach im Erzgebirge nicht, beispielsweise das Thema Kita-Plätze. Hier gibt es sehr wenige Kinder, Kita-Plätze sind im Osten ohnehin reichlich vorhanden. Da muss man dann den Schwerpunkt mehr auf Arbeit und Soziales legen."

    Doch die Themen rüberzubringen ist schwierig. "Mal eben einen Wahlkampfstand" organisieren, ist für die SPD im Erzgebirge nicht einfach. Es fehlt an Mitgliedern vor Ort. Der Wahlkreis ist riesig, manchmal müssen die Genossen fast 100 Kilometer fahren, um im nächsten Ort ihren Stand aufzubauen. In den letzten Jahren wurden immer wieder Ortsverbände zusammengelegt, denn die "Basis" fehlt – und der Nachwuchs sowieso. Ein Problem, das CDU oder Die Linke im Erzgebirge nicht kennen – sie sind hier ganz am Rande zur tschechischen Grenze viel besser organisiert erzählt der Kreisvorsitzende Gerd Habenicht, ursprünglich aus Lüneburg. Seit über 40 Jahren ist er SPD-Mitglied. Manchmal, da träumt er schon auch davon, dass es hier mal so eine SPD-Hochburg gibt wie im Westen:

    "Wenn ich hier unsere Gegend anschaue, da haben wir ganz andere Strukturen: Die CDU, die es schon früher gab, die FDP, die es schon früher gab. Es gab die Linken, die SED, aber es gab keine SPD. Also die SPD musste sich ganz neu entwickeln. Darin sehe ich schon den Unterschied."

    Und diese Struktur muss im Erzgebirge erst noch aufgebaut werden. Deswegen kommt es schon mal zu kleinen Missverständnissen mit der Bundes-SPD. Letztens habe das Willy-Brandt Haus angerufen und gefragt, welche Aktionen eigentlich die Jusos im Erzgebirge geplant hätten, erzählt Tobias Andrä vom Auener Ortsverein, grinst und schüttelt den Kopf. Jusos im Erzgebirge? Die gäbe es praktisch nicht, sagt er. Nicht nur die Jungen ziehen weg von hier – für die Arbeit oder das Studium. Auch das ist ein Thema im Wahlkampf.

    "Etwa 30 Prozent der Bevölkerung haben die Region verlassen und es muss sich etwas tun, bei den Gehältern, ansonsten werden immer weiter junge Leute die Region verlassen und damit nimmt dieses Ausbluten hier im Erzgebirge kein Ende. Und deshalb ist es ganz wichtig, hier ein Signal zu setzen und eine untere Lohngrenze einzuziehen."

    Und schon ist Andre Glöckner wieder beim Wahlkampfthema Nummer eins: dem Mindestlohn. Mittlerweile ist es in Aue später Nachmittag geworden, die letzten Luftballons werden ans Kind gebracht. Feierabend ist für die Wahlkämpfer der SPD aber noch lange nicht, den Haustürwahlkampf müssen sie hier auch noch übernehmen: Martin Seifert hat in den letzten Tagen schon etliche Klinken geputzt und gibt seinen Mitstreitern noch ein paar nützliche Tipps:

    "...die machen öfter auf, weil sie ja auch manchmal Pakete entgegennehmen und so. Dann gehen wir die Etagen hoch und klingeln dort, und wenn niemand da ist, lassen wir entweder einen Flyer da..."

    Der Kontakt mit den Bürgern ist wichtig, sagt Seifert: Sich einfach mal vorstellen. Gerade die Unentschlossenen sollen so noch überzeugt werden. 175 Türen schaffen die Genossen heute, nur die Hälfte macht auf.

    "Schönen guten Tag, mein Name ist Martin Seifert. Ich bin von der örtlichen SPD und wollte sie an die Bundestagswahl erinnern. Wissen Sie denn schon, ob Sie wählen gehen?" - "Das weiß ich nicht, nein." - "Gibt es etwas, was die Politik tun müsste?" - "Sie müsste glaubwürdiger werden. Ich würde mich mehr um die Menschen kümmern. Um die, die schlecht bezahlt werden, um die die keine Arbeit, die die andere Sorgen haben..."

    Vielleicht schaffen Martin Seifert und die anderen Wahlkämpfer es, den älteren Herrn und die vielen Unentschlossenen in Aue noch zu überzeugen. Vielleicht auch nicht. Es bleibt schwierig für die SPD im Wahlkreis 164, Erzgebirgskreis I: Dennoch: Der Ehrgeiz der Genossen ist groß, dieses Mal nicht mehr der Wahlkreis zu sein, in dem die SPD chancenlos ist.