
Lauterbach: Nutzen größer als Risiken
Das vollständige Interview im Wortlaut:
Die EU-Behörde EMA hat bisher vier Corona-Impfstoffe zugelassen – von Biontech/Pfizer, Moderna, AstraZeneca und Johnson & Johnson. Wie die Impfstoffe wirken, was über Nebenwirkungen bekannt ist und welche Impfstoff-Kandidaten es noch gibt – ein Überblick. May: Halten Sie es für möglich, dass die EMA am Ende doch zu dem Schluss kommt, Astrazeneca ist nicht sicher, und die Zulassung auf die eine oder andere Art möglicherweise zumindest beschränkt? Lauterbach: Ich könnte mir vorstellen, dass es klare Warnhinweise gibt und dass man, wenn man die Fälle genauer prüft, zu Empfehlungen kommt für bestimmte Patientengruppen. Wir haben ja jetzt zum Beispiel gesehen, dass die Patienten, die hier betroffen sind, oder die Geimpften – es sind ja keine Patienten zunächst gewesen, sondern erst mal nur Geimpfte – , eher jüngere sind, auch ohne Risikofaktoren. Frauen scheinen häufiger betroffen zu sein. Ich könnte mir vorstellen, dass man eine Empfehlung zu erwarten hat, die bestimmte Patientengruppen hier warnt. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass der Impfstoff, wenn man so will, vom Markt genommen wird, weil dafür reichen diese Komplikationsfälle nicht. Ich gehe daher davon aus, dass wir das Vertrauen in den Impfstoff auch wiederherstellen können. <h2>"Gerade jetzt die Impfreihenfolge besonders beachten"</h2> May: Viele befürchten jetzt einen weiteren Vertrauensverlust von Astrazeneca, den es ja ohnehin schon gibt in der Bevölkerung. Muss man deswegen jetzt möglicherweise die Impfstrategie insgesamt ändern und auch die Priorisierung aufweichen - so fordert es ja zum Beispiel Markus Söder – und mehr oder weniger jedem, der Astrazeneca haben möchte, auch geben? Lauterbach: Das hielte ich für falsch, und zwar deshalb: Wir müssen ja gerade bei einem Impfstoff, wo das Risiko von schweren Nebenwirkungen besteht, den Impfstoff so einsetzen, dass er den größten Nutzen bringt. Der größte Nutzen ist ja mit großem Abstand bei den älteren Menschen, die jetzt in der dritten Welle stark gefährdet sein können. Dort haben wir den großen Nutzen. Der Nutzen, um den Tod zu verhindern, ist bei 80-Jährigen 600mal so hoch wie bei 30-Jährigen. Wenn ich einen 600fachen Nutzen habe, dann kann ich auch ein etwas höheres Risiko in Kauf nehmen. Von daher müssen wir gerade jetzt die Impfreihenfolge besonders beachten. Und ich glaube auch, dass genug ältere Menschen das gut verstehen und bereit sind, diesen Impfstoff zu nehmen. May: Was heißt das Ganze denn jetzt für die Impfkampagne in Deutschland? Wie groß ist der Rückschlag? Haben wir noch die Chance, diese dritte Corona-Welle wegzuimpfen? Lauterbach: Wenn der Impfstoff nach Prüfung durch die Europäische Zulassungsbehörde wieder genutzt wird und das ist nur eine kurze Unterbrechung, dann sind ja keine Chargen verloren gegangen. Dann hätten wir nur etwas Impftempo verloren. Das könnten wir aber sehr schnell wieder aufholen. Das ist ja auch ein Impfstoff, der später in den Praxen sehr gut eingesetzt werden kann. Dann wäre der Rückschlag tatsächlich gut verkraftbar gewesen. Wenn es wirklich so wäre, was ich nicht glaube, dass der Impfstoff vom Markt genommen wird – davon gehe ich aber auf keinen Fall aus -, dann wäre das ein sehr gravierendes Problem, weil das ist in Deutschland der zweitwichtigste Impfstoff und von der Gesamtverfügbarkeit weltweit wahrscheinlich der bisher wichtigste Impfstoff, der auf dem Markt ist. <h2>"Einem Lockdown entgehen wir nicht mehr"</h2> May: Können wir durch die Impfung, wenn es gut läuft, möglicherweise noch einem neuerlichen Lockdown entgehen? Lauterbach: Einem Lockdown entgehen wir nicht mehr. Wir sind jetzt in einer dritten Welle. Und offen gesagt wäre es jetzt günstiger, früh die Lockerungen wieder zurückzunehmen. Die Einschränkungen, die wir bis zum 7. März gehabt haben, sollte man wieder einführen, weil wir sehen jetzt schon, dass wir vor Anfang April, möglicherweise Anfang April die Inzidenz von 100 bundesweit überschreiten werden, so dass wir dann ohnedies wieder zurück müssten in den Lockdown, den wir bis zum 7. März gehabt haben. Je später man das macht, desto mehr Fälle hat man nachher, desto länger dauert das Ganze. Daher wäre es eigentlich vernünftig, wieder auf die Regelungen vom 7. März zurückzukommen und nicht abzuwarten, bis wir über die 100 Neuinzidenz pro sieben Tage hinweggegangen sind. May: Wobei die Todeszahlen ja schon deutlich sinken, weil auch große Teile der über 80-Jährigen, der wirklich vulnerabelsten Gruppen, die ja nun mal ein Großteil der Todesopfer ausmachen, die sind schon geimpft. Bedeutet das nicht auch, dass eine Inzidenz von 100 oder auch von 200 heute etwas ganz anderes ist als schon an Weihnachten? Können wir uns da nicht möglicherweise auch ein bisschen mehr Lockerheit und ein bisschen mehr Toleranz erlauben, oder ist das ein Trugschluss? Lauterbach: Gar nicht! Das wäre ein großer Irrtum. Zunächst einmal: Viele von denjenigen, die jetzt erkrankt sind, die sind so schwer erkrankt, dass sie zum Schluss auch sterben werden. Die Zahl der Intensivpatienten ist nach wie vor hoch. Es sind jetzt im Durchschnitt Menschen, die sind 60 Jahre alt. Nur 25 Prozent sind über 80. Aber von den Beatmeten stirbt zum Schluss doch die Hälfte. Wir haben die Behandlungserfolge nicht wesentlich verbessern können. Das dauert nur bei jüngeren Menschen oft länger, bis sie nach Beatmung sterben, als bei älteren Menschen, die oft eine solche Beatmung nur kurze Zeit in einer solchen schweren Erkrankung durchhalten. Somit werden wir erst, was die Neuinfektionen von heute angeht, eine deutliche Steigerung der Sterblichkeit in fünf Wochen erwarten, und das ist diese Verzögerung, die so tückisch ist. Curevac-Mitgründer über Corona-Mutationen - "Es ist zu kurz gedacht, wenn wir nur die westliche Welt immunisieren"
Der Impfstoffentwickler und Mitbegründer des Biopharmaunternehmens Curevac, Ingmar Hoerr, sieht "eine ganz große Chance", mit Impfungen auch die Mutationen des Coronavirus in den Griff zu bekommen. Dafür müssten aber auch die Länder Impfstoff bekommen, aus denen die Mutationen kämen, sagte Hoerr im Dlf. May: Ist das tatsächlich so? Man hört ja zum Beispiel, dass durch den Einsatz von Kortison oder von Asthma-Sprays auch Behandlungserfolge mittlerweile verbessert worden sind. Oder spielt das tatsächlich keine signifikante Rolle? Lauterbach: Es gibt Behandlungserfolge, aber wenn der schwere Verlauf erst einmal eingetreten ist – das ist bei den Patienten, die auf der Intensivstation beatmet werden müssen -, dann liegt die Sterblichkeit nach wie vor bei 50 Prozent. Das ist deshalb auch sehr beeindruckend im negativen Sinne, weil es ja heute jüngere Menschen sind als in der ersten Welle. Der durchschnittliche Intensivstationspatient ist heute 60 Jahre alt und wenn von den beatmeten jeder zweite stirbt, kann man sich ein Bild davon machen, wie schwer die Krankheit weiterhin verläuft. Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
