Dienstag, 19. März 2024

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Impfstoffmangel
WHO zu Corona in Afrika: "Noch langen Weg vor uns"

In Afrika sind erst rund drei Prozent der Menschen geimpft. Im Dlf warnte die Medizinerin und WHO-Mitarbeiterin Fiona Braka, dass die niedrige Impfquote auch ein Risiko für die Entstehung neuer Varianten darstellt: "Wir müssen uns erinnern, dass niemand sicher ist, solange nicht alle sicher sind."

Fiona Braka im Gespräch mit Lennart Pyritz | 17.09.2021
Mitarbeiter eines Impfzentrums in Germiston, Südafrika, mit dem Impfstoff von Pfizer
Bei uns im Überfluss, woanders rar: In Afrika sind gerade einmal drei Prozent der Menschen geimpft. (Michele Spatari / AFP)
Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat sich erneut besorgt wegen einer möglichen weiteren Corona-Welle in Afrika gezeigt. Ein Grund ist die nach wie vor sehr geringe Impfquote von nur rund drei Prozent. Fiona Braka, Programmmanagerin für Notfallmaßnahmen der WHO in Afrika macht die ungleiche Situation anhand weiterer Zahlen deutlich: "Wenn wir uns die Statistiken ansehen, wurden in den Ländern mit hohem Einkommen 155 Impfdosen pro 100 Menschen verabreicht. Im Vergleich dazu sind es in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara nur vier Dosen pro 100 Menschen."

WHO: "Booster" nur für Risikogruppen

Braka wiederholt im Deutschlandfunk-Interview deswegen die Forderung nach einem Moratorium. Auffrischungsimpfungen sollten in Ländern wie Deutschland wirklich nur für Risikogruppen in Frage kommen. Sonst sei das globale WHO-Ziel nicht zu erreichen, dass bis Ende des Jahres mindestens 40 Prozent der Bevölkerung in jedem Land geimpft sind.
Für die WHO-Notfallmanagerin ist es nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit: "Die ungleiche Verteilung der Impfstoffe öffnet nur den Weg für weitere Mutationen des Virus." Das habe weltweit Folgen: "Wir müssen uns alle daran erinnern, dass niemand sicher ist, solange nicht alle sicher sind." Allerdings gebe es inzwischen auch Fortschritte, zum Beispiel bei der Überwachung der Erreger oder bei der Impfstoffproduktion vor Ort, etwa in Ägypten, Südafrika und Marokko.

Reichere Länder müssten mehr tun

Ein Problem sei auch in Afrika die "Pandemiemüdigkeit". Maßnahmen würden schlechter eingehalten, vor allem dort, wo es aufgrund der Lebens- und Arbeitsbedingungen sehr schwierig ist, Menschenansammlungen zu vermeiden. Für die WHO kommt es jetzt auch dort darauf an, auf innovativen Wegen den Menschen deutlich zu machen, dass alle wachsam bleiben müssen. Und gleichzeitig Tests, Kontaktnachverfolung und Fallmanagement so vorhanden aufrechtzuerhalten. Die Bitte an die reicheren Länder lautet vor allem: dringend zusätzliche Impfdosen bereitzustellen.
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Das gesamte Interview im Wortlaut:
Lennart Pyritz: Bis heute sind nur etwa drei Prozent der Bevölkerung Afrikas vollständig geimpft. Was sind die Gründe für diesen langsamen Fortschritt?
Fiona Braka: Die größte Herausforderung war, dass erwartete Impfstoff-Lieferungen aus anderen Teilen der Welt nicht verfügbar waren. Ein Teil des Problems war dabei die Situation in Indien. Die Lieferungen kommen jetzt wieder in Gang, dank der Impfstoff-Plattform COVAX-Facility und Spenderdosen aus wohlhabenden Ländern. Aber wir benötigen noch viel mehr. Und wir bitten die reicheren Länder dringend darum, zusätzliche Dosen bereitzustellen, um das aufzustocken, was bereits für den Kontinent zur Verfügung gestellt wurde, um das Impfziel der WHO zu erreichen. Außerdem gibt es in Afrika die komplexe Situation, dass neun Impfstoffe im Umlauf sind, darunter die von Astrazeneca, Biontech/Pfizer, Johnson and Johnson, Moderna und Sinopharm. In einigen Ländern gibt es bis zu vier verschiedene Impfstoffe. Das bringt auch nochmal besondere logistische Herausforderungen mit sich.
Lennart Pyritz: Seit Mai hat Afrika eine dritte Infektionswelle erlebt, zwischenzeitlich mit einer Rekordzahl an wöchentlichen Covid-19-Todesfällen. Warum ist diese dritte Welle so heftig verlaufen?

Aktuell Rückgang der Neuerkrankungen

Fiona Braka: In der dritten Welle in Afrika gab es tatsächlich mehr Infektionen und Todesfälle im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Wellen. Dazu hat die Delta-Variante beigetragen, die am stärksten übertragbare Mutante, die auch mit schwereren COVID-19-Fällen verbunden ist. Dazu kommt, dass die Bevölkerung müde ist und dass die Präventionsmaßnahmen schlechter eingehalten wurden. Vor allem dort, wo es aufgrund der Lebens- und Arbeitsbedingungen sehr schwierig ist, Menschenansammlungen zu vermeiden. All diese Faktoren haben zur dritten Welle beigetragen. In den letzten acht Wochen ist aber ein Rückgang der wöchentlichen Zahl der Neuerkrankungen und Todesfälle zu verzeichnen. In der letzten Woche ist die Zahl der neuen Fälle um 23 Prozent gesunken – der stärkste Rückgang seit Juli. Auch die wöchentlichen Covid-Todesfälle haben in der letzten Woche abgenommen.
Lennart Pyritz: Sie haben gerade erwähnt, dass die Fallzahlen aktuell sinken. Allerding dürfte die Infektionsdynamik bei den niedrigen Impfraten in Afrika hoch bleiben. Wie schätzen Sie das Risiko ein, dass neue, möglicherweise resistente und besser übertragbare Corona-Varianten auftauchen, wie z.B. C.1.2, die ursprünglich in Südafrika identifiziert wurden, die sich dann weltweit ausbreiten könnten?
Fiona Braka: Neu auftretende Varianten bleiben immer ein Risiko, solange die Pandemie besteht und die Impfraten nicht so hoch sind, wie wir sie gerne hätten. Weltweit ist die C.1.2-Variante bislang in zehn Ländern nachgewiesen worden. Fünf dieser Länder liegen in Afrika. Bis heute wurden 131 Fälle dieser neuen Variante gemeldet, die ursprünglich in Südafrika identifiziert wurde. Dort gibt es auch die meisten dieser Fälle, aber wir wissen, dass die Mutante auch in der Schweiz, in England, in China, Portugal und Neuseeland gemeldet wurde. Allerdings scheint ihre Verbreitung derzeit nicht zuzunehmen. Die WHO beobachtet sie weiter, um sie möglicherweise in die Liste der Varianten aufzunehmen, die von Interesse oder besorgniserregend sind.

Überwachung zirkulierender Erreger ausbauen

Lennart Pyritz: Welche konkreten Maßnahmen sollten jetzt ergriffen werden, um die Infektionsdynamik in den Griff zu bekommen und die Impfraten in ganz Afrika steigen zu lassen?
Fiona Braka: Wir haben die Mittel zur Verfügung, die sich in Ländern mit umfassenden Maßnahmen bewährt haben. Damit meine ich die allgemeinen Präventionsmaßnahmen, die eine Übertragung von Mensch zu Mensch verhindern. Wir stellen fest, dass sich eine gewisse Müdigkeit einstellt. Wir brauchen also innovative Wege, um diese Botschaften zu verstärken, damit die Menschen wachsam bleiben. Außerdem ist eine Ausweitung der Impfungen von entscheidender Bedeutung, damit wir mehr Menschen schützen können, insbesondere die Risikogruppen. Natürlich in allen Ländern gleichermaßen. Dabei müssen wir Tests, Kontaktnachverfolgung und Fallmanagement aufrechterhalten. Und es ist überaus wichtig zu wissen, welche Varianten zirkulieren und wo, um effektiv zu reagieren. Deshalb arbeiten wir mit Ländern in der Region zusammen, um die Genomsequenzierung zur Überwachung der Erreger auszubauen.
Lennart Pyritz: In Deutschland und den USA gibt es eine Debatte über Auffrischungsimpfungen. Also eine Booster-Impfung für besonders gefährdete Gruppen oder sogar die gesamte Bevölkerung. Wie bewertet die WHO diese Pläne – auch angesichts der niedrigen Impfraten in Afrika, über die wir gesprochen haben?
Fiona Braka: Wir sorgen uns aus der Perspektive der Gerechtigkeit. Wenn wir uns die Statistiken ansehen, wurden in den Ländern mit hohem Einkommen 155 Impfdosen pro 100 Menschen verabreicht. Im Vergleich dazu sind es in den afrikanischen Ländern südlich der Sahara nur vier Dosen pro 100 Menschen. Da besteht also ein großer Unterschied bezüglich der Verfügbarkeit von Impfstoffen. Die dritte Dosis sollte deshalb vorrangig für die gefährdeten Bevölkerungsgruppen eingesetzt werden. Die Daten zeigen, dass immungeschwächte Personen von einer dritten Dosis profitieren können, wenn sie auf die ersten Dosen nicht ausreichend ansprechen oder keine Antikörper mehr bilden. Die WHO hat daher ein Moratorium für Auffrischungsimpfungen gefordert. Sie sollten wirklich nur für Risikogruppen in Frage kommen, damit alle Länder gleichmäßig versorgt sind, und wir das globale WHO-Ziel erreichen können, das vorsieht, dass bis Ende des Jahres mindestens 40 Prozent der Bevölkerung in jedem Land geimpft sind.

Ägypten soll Drehkreuz für Impfstoffe werden

Lennart Pyritz: Die WHO fordert die lokale Produktion von Impfstoffen in Afrika. Wie weit sind solche Produktionsanlagen in Afrika inzwischen vorangeschritten? Wann könnten sie große Mengen an Impfstoffen liefern?
Fiona Braka: Die Pandemie hat deutlich gemacht, dass die lokale Produktion von Impfstoffen und Therapeutika in Afrika verstärkt werden muss. Es wurden und werden Schritte in die richtige Richtung unternommen, aber wir haben noch einen langen Weg vor uns. Um ein paar Beispiele zu nennen: Vor kurzem hat Ägypten einen Vertrag mit Sinovac unterzeichnet, der die Produktion des in China entwickelten Impfstoffs in Ägypten vorsieht. Die Produktion soll noch weiter ausgebaut werden, damit das Land als Drehkreuz für Impfstoffexporte in andere Teile Afrikas fungieren kann und um die eigene Bevölkerung vor weiteren Infektionen zu schützen. Im Juni haben die WHO und ihre COVAX-Partner die Einrichtung des ersten Technologie-Transferzentrums für mRNA-Corona-Impfstoffe in Südafrika bekannt gegeben. Wir haben auch das bio-pharmazeutische Unternehmen Biovac in Südafrika, das mit Biontech/Pfizer kooperieren will. Wir haben eine Initiative in Marokko, die einen Vertrag mit Sinopharm unterzeichnet hat. Das sind positive Schritte in die richtige Richtung, die uns helfen werden, die ungleiche Herstellung und Verteilung von Impfstoffen anzugehen.
Lennart Pyritz: Lange hieß es, die afrikanischen Länder kämen besser durch die Pandemie als zu Beginn befürchtet. Trifft das in Ihren Augen noch zu, wenn Sie die Entwicklung in den letzten anderthalb bis zwei Jahren der Pandemie rekapitulieren?
Fiona Braka: Im Laufe der Pandemie haben sich die Kapazitäten in den Ländern verbessert, um auf die pandemiebedingten Notlagen zu reagieren. In diesem Sinne sehen wir also die positive Seite dessen, was die Pandemie für die Notfallkapazitäten gebracht hat. Es wurde in das Gesundheitssystem investiert, um Lücken in der Intensivpflege und den Behandlungskapazitäten zu schließen. Das sind positive Trends, aber wir wissen, dass die bestehende Impfsituation die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass afrikanische Länder eine vierte Welle erleben. Die ungleiche Verteilung der Impfstoffe öffnet nur den Weg für weitere Mutationen des Virus. Das hat nicht nur für die afrikanischen Länder Folgen, sondern weltweit. Wir müssen uns alle daran erinnern, dass niemand sicher ist, solange nicht alle sicher sind.