Freitag, 29. März 2024

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Impfstreit zwischen EU und Großbritannien
"AstraZeneca verhält sich intransparent"

Beliefert AstraZeneca Großbritannien bevorzugt mit Impfstoff? Der CDU-Europaparlamentarier Christian Ehler wirft dem Impfstoff-Hersteller und auch der britischen Regierung mangelnde Transparenz von Lieferverträgen vor. Notwendig seien Solidarität und eine faire Impfstoffverteilung, sagte Ehler im Dlf.

Christian Ehler im Gespräch mit Christoph Heinemann | 11.03.2021
Box mit AstraZeneca-Impfstoff in einem Kühlschrank
Beliefert AstraZeneca Großbritannien bevorzugt mit Impfstoff? (pictura alliance/ ANSA/ Riccardo Antimiani)
EU-Ratspräsident Charles Michel hat eine angebliche Sperre für den Export von Corona-Impfstoffen aus Großbritannien kritisiert. Die britische Regierung spricht von einer Falschbehauptung und hat die derzeitige Vertreterin der Europäischen Union ins Außenministerium einbestellt.
Hintergrund ist die Weigerung des Impfstoffherstellers AstraZeneca, Impfstoffe in die EU zu liefern, die in seinen britischen Werken hergestellt werden mit der Begründung, sie seien für Großbritannien reserviert. Gleichzeitig hatte AstraZeneca die vertraglich zugesagte Liefermenge an die EU im ersten Quartal drastisch gesenkt und damit für großen Unmut gesorgt. Der CDU-Europapolitiker Peter Liese stellte fest, Großbritannien habe offensichtlich einen "Großbritannien first"-Vertrag mit Impfstoffherstellern. EU-Ratspräsident Michel sprach von einem britischen Exportverbot und forderte London auf offenzulegen, wie viel Impfstoff bislang von Großbritannien in die EU importiert wurde.
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Handelsstreit über Vakzine "absurd"

Auch in der EU wird nun verstärkt über ein Exportverbot nachgedacht. Im Januar wurde bereits ein System zur Exportkontrolle eingeführt. Danach müssen Pharmakonzerne, die Lieferverpflichtungen gegenüber der Europäischen Union haben, Ausfuhrgenehmigungen für in der EU produzierte Impfstoffe beantragen. Wenn Hersteller die EU bei Liefermengen unrechtmäßig benachteiligen, können Genehmigungen verweigert werden. Bislang ist nur ein einziger Export blockiert worden: Die Ausfuhr von 250.000 Dosen Impfstoff von AstraZeneca aus Italien nach Australien.
Christian Ehler (CDU) ist Koordinator der Europäischen Volkspartei im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie des Europäischen Parlaments – einer der fünf Abgeordneten, die das Land Brandenburg in Straßburg und Brüssel vertreten. Er betonte im Deutschlandfunk, über die Vakzine in Handelsauseinandersetzungen mit Großbritannien zu geraten, wäre vor dem Hintergrund der Herausforderungen "geradezu absurd".
Der CDU-Europaabgeordnete Christian Ehler
Der CDU-Europaabgeordnete Christian Ehler (picture alliance / dpa )

Das Interview im Wortlaut:
Christoph Heinemann: Herr Ehler, hortet London Impfstoff?
Christian Ehler: Nein, die Briten horten keinen Impfstoff, aber die britische Regierung fährt seit Monaten einen populistischen Kommunikationskurs. Und wir haben das Problem, dass die Firmen, auch Firmen, die an Großbritannien liefern, sich sehr intransparent verhalten und uns wenig Auskünfte darüber geben – zum Beispiel AstraZeneca -, wohin eigentlich die bestellten Impfstoffe gehen. Also ob die niedrigeren Produktionskapazitäten, die vorher zugesagt worden sind, jetzt als gleichmäßig verteilt werden, also jeder weniger bekommt, oder ob diese geringeren Kapazitäten nur nach Großbritannien gehen oder präferiert in andere Länder. Dieser Mangel an Transparenz führt zu dieser Auseinandersetzung.

"Äußerungen wenig von Solidarität geprägt"

Heinemann: Hatte Charles Michel also Unrecht?
Ehler: Nein, das würde ich nicht sagen, weil das Ganze hat ja eine Vorgeschichte. Wir haben auch keinen Streit mit Großbritannien, aber durchaus mit einer sehr populistischen Regierung, die ja begonnen hat, überhaupt zu bezweifeln, dass Covid ein Thema ist. Ich erinnere an Boris Johnson, der im Grunde genommen sagte, das sei die Schwäche der Europäer und jetzt sei man ja frei aus Europa und da würde einem Covid nichts tun.
Dann hat man schon bei den Zulassungen das sehr rhetorisch gefahren. Man hat eine Notzulassung gemacht für AstraZeneca, wo eigentlich noch nicht alle Daten vorlagen, und hat dann gesagt, aber die Europäer, da sähe man ja, die seien zu langsam, und jetzt sei man frei von Europa und könne das schnell tun. Insofern stellt sich diese Auseinandersetzung natürlich in eine Reihe von Äußerungen, die wenig von Solidität geprägt sind und sehr stark geprägt sind von einer Regierung, die populistische Aussagen tut und das auch immer als Rechtfertigung natürlich nimmt für den Brexit, der sich als problematisch erweist.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)

"Impfdosen werden auch in Europa produziert"

Heinemann: Herr Ehler, bleiben wir bei der Sache: Boris Johnson hat gesagt, seine Regierung habe nicht einmal den Export einer einzigen Covid-19-Impfung blockiert. Haben Sie Beweise für das Gegenteil?
Ehler: Ich glaube, es geht nicht darum, ob die britische Regierung was blockiert hat.
Heinemann: Aber darum ging es doch bei Charles Michel.
Ehler: Nein, nein! Es geht darum, ob AstraZeneca einen Vertrag mit Großbritannien hat und den nicht offenlegt, wo Großbritannien darauf besteht, dass AstraZeneca präferiert Großbritannien beliefert, und die Engpässe, die es hat, auf den Schultern Europas zurücklässt.
Heinemann: Das ist aber doch nicht die Schuld der britischen Regierung.
Ehler: Na ja, man muss einfach sagen, die britische Regierung, wenn sie einen solchen Vertrag macht und darauf bestehen würde, dass AstraZeneca präferiert nach Großbritannien liefert, dann haben wir natürlich ein Problem. Denn diese Dosen werden ja auch in Europa produziert.

"Wir liefern Lipide für die Impfstoffproduktion"

Heinemann: Boris Johnson ist dafür gewählt, seine Bürgerinnen und Bürger auf der Insel bestmöglich mit Impfstoff zu versorgen. Was gibt es daran zu kritisieren?
Ehler: Da muss man schon sagen, das Ganze ist komplizierter, weil wir reden davon, dass wir industriell gesehen in einem globalen Markt sind, wo wir ganz starke Abhängigkeiten voneinander haben, wer liefert eigentlich zu. Wir haben keine nationalen Impfstoff-Industrien mehr. Jetzt ist es natürlich so, dass diese Solidarität notwendig ist, denn wir liefern ja auch zum Beispiel Lipide, Grundstoffe für die Produktion nach Großbritannien, auch in andere Teile der Welt. Wenn jetzt einzelne sagen, wir kannibalisieren das System, wir machen "Britain first", "America first", dann ist natürlich die Frage: Was löst das aus? Denn das kann nur auf dem Rücken der anderen gehen. Das heißt, wir müssen zurückfinden zu einem multilateralen System, wo wir uns überlegen, was sind die Produktionskapazitäten, wie können wir die aufbauen, und was gibt es für eine faire Teilungsmöglichkeit. Ich glaube, das ist wichtig. Sonst geraten wir da über die Vakzine in Handelsauseinandersetzungen. Das wäre vor dem Hintergrund der Herausforderungen geradezu absurd.

"Offenlegen, ob man exklusive Verträge hat"

Heinemann: Was erwarten Sie denn von der britischen Regierung?
Ehler: Schlicht und einfach Transparenz. Offenzulegen, ob man exklusive Verträge hat, auch wieder einen gemeinsamen Angang zu sagen, es geht ja nicht nur vordergründig um die erste Welle von Impfungen, sondern wir werden ja auch damit umgehen müssen, dass wir wahrscheinlich die Varianten des Virus‘ bekämpfen müssen mit weiteren Impfstoff-Kampagnen. Wenn man da die Produktionskapazitäten teilt, dann sollte man die Herausforderungen und Chancen teilen, aber auch natürlich die Probleme, und nicht in der Öffentlichkeit den Eindruck erwecken, man könne eine "UK first"-Strategie fahren, die aber in Wirklichkeit darauf beruht, dass Europa auch bereit ist, solidarisch die "supply chain" und auch die Grundstoffe zu teilen und auch die Produktionsstätten in Europa.

"Zurückfinden zu einem multilateralen Ansatz"

Heinemann: Wie sollte die EU auf diese Strategie reagieren?
Ehler: Ich glaube, wir müssen uns jetzt wieder zurückfinden zu einem multilateralen Ansatz. Es hat ja erste Gespräche gegeben zwischen der EU-Kommission und Joe Biden, wo ja auch deutlich wird, dass das nicht so weitergehen wird, denn wir werden gemeinsam im Herbst vor der Herausforderung stehen, dass wir die nächsten Wellen sehen werden. Wir werden uns auch nicht nur auf uns kaprizieren können, sondern wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie wir den Rest der Welt impfen, denn wir sehen ja, dass die Varianten aus Südafrika kommen, aus Brasilien. Wenn jetzt Europa, Großbritannien, Amerika sich nur um jeweils die eigene Bevölkerung kümmert, dann werden die Mutanten, die aus den nichtgeimpften Ländern in der Dritten Welt kommen, uns einfach vor monatliche, jährliche weitere Herausforderungen stellen. Das heißt, wir müssen sowieso raus aus dieser Strategie und Behauptung, der einzige Weg sei, jetzt zunächst mal die eigene Bevölkerung zu impfen, denn die Varianten des Virus und die Tatsache, dass der Rest der Welt nicht geimpft ist, die werden auch zur gesundheitspolitischen Herausforderung für die eigene Bevölkerung.
Heinemann: Sollte es aber dabei bleiben in Großbritannien und auch in den USA, würden Sie dann Exportverbote von Impfstoffen oder von Grundstoffen, die für die Impfstoffgewinnung wichtig sind, befürworten?
Ehler: Ich glaube, wir müssen uns jetzt an einen Tisch setzen, und die Frage ist, was bringt die Beteiligten an einen Tisch. Ich glaube, wir sind jetzt in einer Situation, wo wir sagen müssen, wenn es nicht die an sich logische und epidemiologisch richtige gemeinsame Strategie gibt, dann wird das allen schaden. Ich glaube, dass es schon die Beteiligten an einen Tisch führen wird, wenn man sagt, wir werden das nicht weiter akzeptieren, dass man nationale Strategien zu Lasten Europas fährt.

Produktionsengpässe bei Johnson & Johnson

Heinemann: Der Impfstoff von Johnson & Johnson, der nichts mit Boris zu tun hat, steht jetzt kurz vor der Zulassung. Rechnen Sie damit, dass die bestellten 36,7 Millionen Dosen zügig nach Deutschland gelangen werden?
Ehler: Was heißt zügig?
Heinemann: Schnell.
Ehler: Ich glaube, dass es nicht in den nächsten Wochen sein wird. Ich denke, dass Johnson & Johnson ja jetzt schon deutlich gemacht haben, dass man nicht die gesamten bestellten Dosen in den nächsten Wochen nach Europa und nach Deutschland bringen wird. Mittelfristig ja bis zum Sommer, aber nicht so schnell, dass, was man an sich annehmen könnte, wir haben bestellt und dass man in der Zwischenzeit auch die entsprechende Produktionskapazitäten hat. Das ist schon absehbar, dass es auch da in der Produktion zunächst mal kurzfristig Engpässe geben wird.
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"Notfallzulassung hat erhebliche Nachteile"

Heinemann: Stichwort Impfen. Herr Ehler, warum gelingt der britischen und der US-Regierung, was die Bundesregierung bisher nicht schafft?
Ehler: Na ja, so groß ist der Vorsprung nicht. Der kommt ja einfach deshalb, weil man die Vakzine in Amerika und in Großbritannien mit einer Notfallzulassung versehen hat. Das hat erhebliche Nachteile. Sie sehen das bei AstraZeneca, wo es jetzt bereits in Deutschland eine große Skepsis gibt, die übrigens unberechtigt ist. Die aber daher kam, dass nicht das den normalen Zulassungsprozess durchlaufen hat, wie bei der EMA, der europäischen Zulassungsagentur, sondern man Notfallzulassungen gemacht hat, wo die letzten empirischen Daten nicht vorlagen.
Heinemann: Ich habe das nicht ganz verstanden, wieso der Unterschied nicht so groß sein sollte. In den USA und in Großbritannien sind viel mehr Menschen und ein viel höherer Anteil der Bevölkerung geimpft als in Deutschland.
Ehler: Großbritannien und die Vereinigten Staaten haben Notfallzulassungen für die Vakzine gemacht. Damit hatten sie die Vakzine etwa zwei Monate vorher zugelassen als in der Europäischen Union.
Heinemann: Mit dem Ergebnis, dass mehr Menschen geimpft sind.
Ehler: Mit dem Ergebnis, dass früher geimpft wurde, aber mit dem Risiko, dass wenn sich jetzt herausgestellt hätte, dass diese Notfallzulassungen nicht funktionieren, weil die Daten nicht nachgeliefert worden wären, dann hätte man mit dem Impfen im Grunde genommen von vorne beginnen müssen. Insofern ist uns Amerika und Großbritannien jetzt etwa sechs Wochen bis zwei Monate voraus.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.