
In der Begründung des Gerichtshofes heißt es, die Richterin hätte zunächst eine Beschwerde vor dem türkischen Verfassungsgericht einreichen müssen. Laut Artikel 35 der Europäischen Menschenrechtskonvention kann sich der Straßburger Gerichtshof mit einer Angelegenheit erst "nach Erschöpfung aller innerstaatlicher Rechtsbehelfe befassen".
Die Juristin hatte nach ihrer Festnahme lediglich vor einem Schwurgericht Beschwerde eingelegt, die abgewiesen wurde. Auf eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof in Ankara verzichtete sie. Sie verwies darauf, dass zwei Mitglieder des Verfassungsgerichts nach dem Putschversuch ebenfalls ihres Amtes enthoben wurden. Unter diesen Umständen sei das Verfassungsgericht nicht in der Lage, unparteiisch zu urteilen. Zudem verhindere der Ausnahmezustand in der Türkei eine wirksame Beschwerde.
Mehr als 3.000 Beschwerden seit dem Putschversuch
Doch das Straßburger Gericht sah die Unparteilichkeit des türkischen Verfassungsgerichtshofs nicht als erwiesen an. Er habe die notwendigen Kompetenzen, um Beschwerden der Bürger gegen mögliche Grundrechtsverletzungen zu prüfen. Es gebe "keinerlei Grund" für die Annahme, dass eine Verfassungsbeschwerde aussichtslos gewesen wäre. Nur weil die Klägerin selbst daran zweifele, könne sie nicht von der Verpflichtung zur Ausschöpfung aller nationalen Rechtsmittel befreit werden. Der Menschengerichtshof verwies zudem auf eine Beschwerde zweier Journalisten vor dem Verfassungsgerichtshof im Februar, die erfolgreich gewesen sei.
Die in der Stadt Giresun am Schwarzen Meer lebende Richterin war zwei Tage nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli festgenommen und in Untersuchungshaft genommen worden. Die Beschwerde ist die erste im Zusammenhang mit dem Putschversuch und den anschließenden Massenentlassungen und -Verhaftungen, die vom Gerichtshof für Menschenrechte geprüft wurde. Einem Sprecher zufolge sind seit dem Putschversuch am 15. Juli mehr als 3.000 Beschwerden aus der Türkei in Straßburg eingegangen.
(cvo/jasi)