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Ins Licht geschrieben (3/3)
Dunkelkammer - Über den Fotografen Daniel Schwartz

Einige Bilder des Fotografen Daniel Schwartz zeigen schmelzende Gletscher. In ihnen spiegelt sich das Sterben der Erde insgesamt. Navid Kermani nimmt die Fotografien zum Anlass nachzudenken: über die Vergänglichkeit und das Hell-Dunkel unserer Existenz.

Von Navid Kermani | 13.04.2020
Blick auf die verschneiten Berge in der Provinz Parwan in Afghanistan.
In der Weite und Helligkeit der Natur Freiheit und Ewigkeit erfahren - ein quasi religiöser Moment (AFP / Shah Marai)
Über mehrere Monate hat Navid Kermani in seinem Tagebuch Notizen zum Fotografen Daniel Schwartz gemacht. Seine Werke, unter anderem Bilder aus Afghanistan, sind für den Schriftsteller Sinnbilder der Vergänglichkeit. Im dritten Essay an den Osterfeiertagen entfaltet Navid Kermani einen Assoziationsraum, in dem es um existenzielle Fragen ebenso geht wie um weltpolitische Fragen.
Zum einen entfacht beispielsweise das ausbleibende Wasser der Gletscherschmelze in der Region Verteilungskämpfe. Zum anderen erscheinen dem Schriftsteller die Gletscher, bar des Schnees, entblößt wie einst der sterbende Vater im Krankenhaus. Und die riesigen, monochromen Bergpanoramen lassen Wanderer dort geradezu demütigend winzig erscheinen.
Mit Licht Kunst erschaffen
Es ist vielleicht derjenige der drei Oster-Essays, der am meisten von mystischer Erfahrung kündet: Der Fotograf Daniel Schwartz erschafft mit Licht Kunst; in seiner Dunkelkammer erspürt Navid Kermani eine Aura, wie es sie in kaum einer Kirche noch gibt. So sind es bestimmte Orte, an welchen Kermani zufolge Extase, Freiheit und Ewigkeit erfahren werden können, ganz unabhängig von der Frage, ob man an Gott glaubt: Die Weite und Helligkeit der Natur kann eine regelrechte Trance erzeugen.
Navid Kermani, geboren 1967 in Siegen, lebt als freier Schriftsteller in Köln. Er ist habilitierter Orientalist und Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie des 1. FC Köln. Für seine Romane, Essays, Reportagen und Monografien wurde er vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Kleist-Preis, dem Joseph Breitbach-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zuletzt erschien von ihm „Morgen ist da. Reden“ sowie seine Auswahl aus dem Werk von Friedrich Hölderlin, „Bald sind wir aber Gesang“, beide im Verlag C. H. Beck.

Ende Februar 2018
Es sind Sterbende oder schon Gestorbene. Nichts hättest du wissen müssen, nichts von Klimawandel, Bergen, Geologie, um zu erkennen, dass etwas zu Ende geht mit der Erde, schließlich die schöne Erde selbst: Die Gletscher, die Daniel Schwartz auf vier Kontinenten schwarz-weiß fotografiert hat, sind von solcher Traurigkeit, dass du weinen möchtest, schmutzig, weil selbst die massivsten Eisschichten mit Erde vermischt sind, runzlig, wo aus Schnee und Stein Straffuren entstehen, entblößt wie dein Vater im Krankenhaus, wenn der Fels nach Jahrmillionen plötzlich nackt daliegt. Sie kollabieren, meint Daniel mit seinem Schweizer Akzent, durch den der Satz noch alarmierender klingt, weil die vorletzte Silbe meist hoch und lang gesprochen wird, als kündige sie sein dunkles Ende an; sie schmelzen nicht mehr, sie kollabieren gerade, gleichzeitig auf vier Kontinenten, ob in Uganda, Peru, Pakistan oder wo seine Reise begann. Du kommst nach einem Jahr wieder, und schon sind aus dem einen Gletscher mehrere kleine entstanden, Reste nur noch, Trümmerlandschaften. Abgesehen davon, dass die Gemälde von eigener Bannkraft sind, halten seine Aufnahmen den historischen Moment fest, an dem ein Geschöpf alle Schöpfung zerschlägt. Einer der Gletscher gleicht einem riesigen Vogel mit Kopf und Schnabel, die Augenhöhle leer, ein anderer: ein Totengesicht, ein dritter: die geöffneten Schenkel einer Greisin, in deren Scheide du ungern schaust. Ihr kommt alle daher.
Anfang März
In der Zeitung steht, dass es am Nordpol wärmer sei als in Wien, und zwar nicht nur ein bisschen wärmer, sondern ein Unterschied wie zwischen Sommer und Winter: plus sechs Grad am Nordrand Grönlands, der nördlichsten Messstelle überhaupt, minus zwölf hier.
Im Mai
Es geht ums Licht, erinnert Daniel. Fotografie ist Belichtung. Von den "bildschaffenden Eigenschaften des Lichts", las ich bei Péter Nádas, der ebenfalls Fotograf ist, "natürliches Licht, künstliches Licht, scharfes Licht, Streulicht, direktes Licht, reflektiertes Licht, Streiflicht, kaltes Licht, warmes Licht, also die Lichtquellen und die reflektierenden Oberflächen, der indirekt ausgeleuchtete tiefe Schatten, die Farbe und die Farbtemperatur des jeweiligen Lichts". Jedesmal die Stille und Intimität in der Dunkelkammer, egal was draußen passiert, ansteckend, wenn du nur als Besucher dabei bist, eine Aura wie kaum in einer Kirche mehr. Automatisch flüsterst du. Im Film erzählt Daniel von einer indischen Kollegin, die während einer Reportagereise jeden Nachmittag, wenn es dämmerte, den Fahrer anwies zu halten. Dann stieg sie aus und dankte der Sonne. Seine erste richtige Kamera, eine Contax, schenkte ihm ein Unbekannter mitsamt den Objektiven, ein Freak an der Straße, genau gesagt in einer Raststätte, der dem jungen Mann den Auftrag gab: Mach etwas damit. Die digitalen Geräte verachtet er nicht, er nimmt sie einfach nicht wahr, haben nichts mit Fotografie zu tun, also mit Licht. Stimmt: Jetzt, da jeder alles immer knipst, schaut sich niemand mehr die Bilder an. Stellt sich selbst den ganzen Tag an die richtige Straßenkreuzung in Kabul, habe es selbst beobachtet, und kehrt mit genau zwei Fotografien zurück, von denen eine hoffentlich über die eigenen Ränder hinausweist, in die Vergangenheit, in die Zukunft. Teleobjektive benutzt er nie, sondern geht einfach näher ran. Macht kein Porträt von niemandem, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen.
Eine Laufbahn wie seine sei heute nicht mehr vorstellbar, beantwortet er meine Frage, es gebe gar nicht mehr die Zeitschriften, die solchen Aufwand finanzierten. Hat rechtzeitig den Sprung in die Galerien, in die Museen geschafft. Je weniger du siehst, desto mehr entdeckst du, erklärt er am Anfang dieses Films, und am Ende: Je mehr du weißt, desto mehr erfährst du. "Denn ein Bild wird gut, mein Junge, wenn du es vorher durchdenkst", sagt der Lehrer zum Fotografen in dem neuen Roman des Ungarn Attila Bartis "Die Ruhe". "Wenn du den Auslöser drückst, musst du schon genau wissen, was drauf sein wird. So genau, dass du es beschreiben könntest. In der Mitte ein Nussbaum, links ein Zaun, rechts die Kaninchenbuchte, aber natürlich ist das für ein gutes Bild noch zu wenig. Du musst auch genau wissen, warum gerade der Nussbaum in der Mitte ist. Was du damit ausdrücken willst."
Es sei nicht leicht gewesen, einen Film über einen Fotografen zu machen, berichtet nach der Vorführung der Regisseur Vadim Jendreyko. Warum? Weil ein Fotograf sich stets bewusst ist, was die Aufnahme zeigt. Ja, natürlich, schmunzelt Daniel: Wenn man's schon zeigt, will ich halt gut aussehen. Achtet noch auf dem Gletscher darauf, dass er lässig schreitet, wenn die Kamera auf ihn gerichtet ist. Den Film davor hat Vadim über Swetlana Geier gemacht, die für meinen verstorbenen Verleger Egon Ammann alle Romane Dostojewskis neu übersetzt hat (so ergeben sich immer neue Kreise, weil diejenigen, die du liest oder deren Werke du anschaust, wiederum selbst Leser und Betrachter sind, so klein und groß ist eure Parallelwelt der Literatur beziehungsweise der Kunst). Als Clou hatte er sich ausgedacht, mit ihr im Zug nach Russland zu fahren, wo sie noch nie oder seit Jahrzehnten nicht mehr war. Ganz Polen hindurch las Frau Geier nur in ihrem Puschkin. Als sich der Zug der Grenze näherte, wies Vadim den Kameramann flüsternd an, die Linse auf ihr Gesicht zu halten und den Moment einzufangen, wenn sie Russland erblickt. Sie waren schon weit hinter der Grenze, es war Abend geworden, da hatte Frau Geier nicht einmal von dem Buch aufgesehen. Obwohl Daniel selbst Bilder macht, hat Vadim über Swetlana Geier einen noch besseren Film gedreht.
Mitte Juli
Du denkst, bei dieser Hitze ist bestimmt niemand da, und dann führt die Adresse auch noch weit aus der Stadt hinaus in eine Eigenheimsiedlung mitten zwischen Deutschlandfahnen und offenen Garagen mit Motorrädern von BMW. Du denkst, sie freuen sich, wenn jemand klingelt, und das Visum werden sie mit einem Kranz versehen. Aber dann hörst du schon von der Einliegerstraße aus den Tumult und triffst auf ganze Großfamilien, die vor dem Konsulat campieren. Riechst den Safranreis aus den Plastikdosen und die diversen Soßen. Ach, welche Kräuter. Lächelst über die Kinder, die zwischen den ausgebreiteten Decken der Wartenden im Hof toben. Blickst auf die vielen jungen Männer, die sich gegenseitig Glauben gemacht haben, dass Deutschland sie willkommen heißt. Die Flüchtlingskrise setzt sich unbemerkt von der Öffentlichkeit in einem Bonner Vorort fort, die Nachbarn haben sich sicherlich schon oft beschwert. Unter allen Nationalitäten scheinen die Afghanen auch in Deutschland am meisten verloren, zerstreut, irgendwie überflüssig, nirgends zugehörig, ohne Zukunft und nicht gewollt. Mit 40 Jahren Krieg im Gepäck, wie könnte es anders sein? Aber hier, in einem properen Vorort der ehemaligen Hauptstadt, wo ihr Staat, als er noch einer war, ein Haus gebaut hat, vermutlich eine ruhige Residenz für den Botschafter, sind die Afghanen unter sich und es herrscht ein Tohuwabohu wie auf einem Kabuler Amt. Ohne erkennbare Ordnung bemüht sich jeder verzweifelt, an die Reihe zu kommen und sein Anliegen einem der Beamten zu erklären, die sich aufführen wie die Götter. Ob die Bittsteller eine Bescheinigung benötigen, um hierzubleiben, oder alle zurückwollen?
Einen Tag später
Die Ventilatoren sind ausverkauft, selbst in den großen Warenhäusern. Du brauchst gar nicht erst suchen, sagte der Afghane im Export-Import, nein, auch nicht bei Saturn. Während ich im Schatten einzunicken versuche, freue ich mich an jeder Brise, ja, sehne sie während der langen Windstillen herbei. Es braucht nicht viel, ein Hauch genügt für kleine Ekstasen auf der Haut.
Anfang August
Die Hitze verändert die Farben in der Stadt. Das Blau des Himmels, an das ihr euch schon gewöhnt habt, als gäbe es Wolken nur in Filmen, frischt das vorherrschende Grau der Häuser auf, besonders zum Nachmittag hin. Jede Nacht die funkelnden Sterne und der ausgerechnet dieser Tage auch noch volle, im Sommer noch größere Mond. Die Gelbtöne nehmen von Tag zu Tag zu durch das Ausgedörrte und vorzeitig Vergilbte wie in Afrika, sind an vielen Stellen längst übergegangen ins Ocker und Braun. Beinah farblos hingegen die Mittage, wenn die Straßen, Geschäfte, selbst die Bäume grell wie auf einem überleuchteten Foto sind. Die bunte Kleidung der Bewohner, sofern man noch von Bekleidung sprechen kann, die viele Haut fast wie an einem Strand. Plötzlich seht ihr, seht es auf den Armen und Beinen, wie farbig die Stadt geworden ist, bestimmt die Hälfte der Bewohner braun, cremig, gelb, rötlich oder schwarz, und selbst die Deutschen sind nach vier Monaten Sonne nicht mehr so blass. Spektakulär aber ist das ungewöhnlich tiefe Rot, das die Stadt mit jeder Abenddämmerung einhüllt. Mindestens am Rhein, in den sich der blutende Himmel jeden Augenblick anders, sanft glitzernd ergießt, wenn du auf die eingefärbte Silhouette mit dem ewigen Dom und dem freundlichen Turm von Groß St. Martin blickst, ist Köln für eine halbe Stunde die schönste Stadt der Welt.
Ende August
Seit der Erkrankung der Tochter überlege ich hin und her, ob ich die Wanderung durch den Hindukusch absage, so wichtig sie zumal für dieses Jahr wäre, das bisher um die eigenen, nun einmal kleinen Nöte kreist. Mit der Redaktion habe ich vereinbart, gegebenenfalls im letzten Moment zu stornieren, das finanzielle Risiko trägt sie, Flüge, Zelt, Schlafsäcke, die Daniel bereits besorgen ließ. Das Abschmelzen der Gletscher und dass der inzwischen Vierzigjährige Krieg auch mit dem knapp werdenden Wasser zu tun hat, weiter gefasst: die Wechselwirkung von Natur und Politik – das ungefähr wäre der Beitrag, den ich gerade beizusteuern hätte, statt einer weiteren Meinung oder einem Aufruf, dem Rassismus zu widerstehen. Die gesamte Ökonomie des Hindukusch und der umliegenden Ebenen hängt von der Versorgung durch Schmelzwasser ab, das noch die Nachbarländer versorgt. Bleibt es aus, fliehen die Menschen in die Gebiete, die vorläufig noch fruchtbar sind, in die Städte, in die Fremde, und so entstehen wie überall auf der Welt mit den Alteingesessenen Konflikte.
Zudem stachelt mich der professionelle Ehrgeiz an, einen Auftrag zu erfüllen, den ich angenommen habe, und keine Kosten zu verursachen, ohne die Leistung zu erbringen; diese unbedingte, geradezu sture Pflichterfüllung ist vielleicht das Deutscheste überhaupt an mir. Die Pflicht auch gegenüber dem Freund, dessen Auftrag ebenfalls futsch wäre, dazu die Vorfreude, nach Jahren wieder mit ihm unterwegs zu sein. Die Tochter sagt, ich solle fliegen, allerdings seit ein paar Tagen nicht mehr ganz so entschieden, und der Vater bemerkt das Zögerliche, ihrerseits Pflichterfüllende, und freut sich insgeheim, wenn er gebraucht wird. Andererseits wäre ich spätestens am übernächsten Tag zurück, wenn wirklich etwas passiert, und der Arzt versichert, dass jetzt nichts mehr passieren wird, außer dass die Geduld der Tochter zu Ende geht. Aber auch dafür, für die Geduld, bräuchte es vielleicht den Vater, und damit sie Schritt für Schritt in ihren Alltag zurückfindet, oder nicht? Und so weiter und so weiter, hin und her in meinem Kopf.
Das alles wäre nicht weiter der Rede wert außer für Daniel, den Redakteur, mich und allenfalls die Tochter, wenn darin nicht eine Aporie läge, die grundsätzlich für die Literatur gilt: Eben das Leben, das tägliche Leben in seiner Banalität und Erhabenheit, mit Liebesstreit, Steuerbescheiden und Politik, eben dieses Leben, von dem der Schriftsteller zehrt, hält ihn vom Schreiben ab. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Denn anders als der Arzt, Professor oder Ingenieur ist der Schriftsteller Tag für Tag in der Lage und fühlt bei rechtem Verstand auch die Verpflichtung, da er sich die Pflichten ohnehin selbst auferlegt, alles beiseite zu stellen, wann immer es etwas Wichtigeres im Leben gibt als sein Buch, Wichtigeres als jeder professionelle Ehrgeiz, als die Freundschaft sogar und jede Aufgabe in der Welt. Ausgerechnet er, dessen Beruf strenggenommen nicht mit einer bürgerlichen Familie, überhaupt einem geregelten Leben zu vereinbaren ist und immer wieder in Konflikt mit allen möglichen Privatsphären gerät, ausgerechnet der Schriftsteller hat die ganz praktische Freiheit, nur Verwandter, Freund oder Aktivist zu sein. Vielleicht ist es keine Aporie, sondern die Lösung. Morgen fahre ich zum Konsulat, um den Pass abzuholen mit Visum oder nicht.
Ende September
Daniel, der Montag ebenfalls "Alexis Sorbas" im Fernsehen wiedersah – tolles Schwarz-Weiß! –, sagt so oft "unglaublich", dass ich anfange, über das Wort nachzudenken, während er am Telefon von der Wanderung am Hindukusch berichtet. Nicht einfach nur schön, herrlich oder grandios, also eine ästhetische Eigenschaft, auch nicht bezaubernd, berückend oder überwältigend, also eine transzendente Erfahrung, sondern ein ums andere Mal, in beinah jedem Satz: "unglaublich". Das soll wohl so viel sagen: Ich hätte es nicht geglaubt, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte; niemand glaubt es, der es nicht selbst erlebt. So verstanden, wäre jegliche Offenbarung "unglaublich" und Glaube nicht das Gegenteil, vielmehr die Folge von Wissen.
Er selbst geriet gegen Ende des Tages in Trance, ausgelöst durch die "unglaubliche" Schönheit der Natur, das Bewusstsein, als erster seit Eric Newby entlang des Gletschers zu laufen, einen Gletschersee sogar zu entdecken, der auf keiner Karte eingezeichnet ist, und das Glück zu fotografieren, aber sicher auch ausgelöst physiologisch durch die Auszehrung – vergaß zu essen und zu trinken – und die Anstrengung. Bekanntlich rufen chemische Stoffwechsel im Gehirn den Eindruck hervor, durch eine andere, normalerweise nicht wahrnehmbare Welt zu schreiten. Der Himmel ist blauer, die Luft riecht frischer, der eisige Wind wird zum Gesang, eine unbekannte Wonne strömt durch den Leib. Es braucht nicht den Glauben an eine andere, jenseitige Welt, um außer sich zu geraten, Amphetamine oder auch nur der Saft des Pexotl-Kaktus genügen. Selbst Verliebtsein kann chemisch eine solche Verzückung hervorrufen, dass sich die Sinneswahrnehmung nachweisbar verändert, eintrübt oder umgekehrt schärft, die sexuelle Ekstase sowieso.
Das Gefühl, nicht nur mit dem oder der Geliebten ein gemeinsamer Körper zu sein, sondern mit der Umgebung, den Gegenständen im Zimmer oder, noch herrlicher, auf einer Wiese mit der Natur oder nächtens am Strand mit dem All eins zu werden, hat jeder hoffentlich schon einmal erlebt.
Es gibt noch mehr: Bei dem französischen Neuropsychiater Boris Cyrulnik habe ich heute gelesen, dass du auch ohne den Nahtod erleben kannst, wie du von oben auf dich herabblickst, von der Decke in der Vorstellung des Patienten, vom Himmel in der Vorstellung der Religionen, deshalb sicher auch der wiederkehrende Topos der Himmelsfahrt. Auch misshandelte Kinder, vergewaltigte Frauen oder Überlebende von Konzentrationslagern erzählen, wie sich das Bewusstsein vom Körper löst und sie mit erstaunlicher Gleichgültigkeit von oben die Gewalt verfolgen, die ihnen angetan wird. Autoskopie nennt man das in der Neuropsychiatrie, ein offenbar geläufiger Begriff. Noch in der Erinnerung an eine solche Erfahrung wird ein Neuronennetz im linken Schläfenlappen aktiviert, und wenn du ein entsprechendes Bild betrachtest, verbraucht der Hinterhauptlappen, der für die visuelle Verarbeitung zuständig ist, Energie. Bei einem ausreichend starken Wonnegefühl wird außerdem der limbische Schaltkreis aktiviert.
Neuronennetz, Schläfenlappen, Hinterhauptlappen, limbischer Schaltkreis, für Neuropsychiater werden das ebenfalls geläufige Begriffe sein. Es ist alles zu erklären, und wenn nicht, hat die Menschheit noch nicht genug geforscht. Spricht das gegen Gott? Boris Cyrulnik wurde über die Wissenschaft zum gläubigen Menschen. Daniel sackte in sich zusammen, als das Licht keine guten Fotos mehr zuließ, und musste beim Abstieg zum Basislager halb gestützt, halb getragen werden wie ein alter Mann. Er hat mir ein Foto geschickt, dass einer der Begleiter aufgenommen hat gegen Abend. Er sieht darauf ziemlich belemmert aus, also Daniel, nicht der Begleiter, der sehr fromm gewesen sei.
Mitte Dezember
Was ist das für ein Gedudel? frage ich, als Daniel mir zur Vorbereitung seiner Fotografien die Videoclips von der Wanderung im Hindukusch zeigt. Ringsum nur Felsen, Steine, Geröll, Eis, Schnee, soweit der Bildschirm reicht, und mit dem Himmel eine weitere Unendlichkeit über den schweigsamen, angestrengten Männern mit Gewehren und Packpferden, die hintereinander dieses wüste Land durchqueren – dazu aus dem Off fröhliche Popmusik. Jemand hatte sich ein Transistorradio umgehängt, erklärt Daniel, sonnenbetrieben, deshalb lief es permanent. Die Begleiter gehörten alle derselben Familie an, weil du dich nach 40 Jahren Krieg auf niemanden anderen verlassen kannst, unter ihnen zwei Beamte aus dem Sicherheitsapparat. Die letzte SMS, die einging: "dear client, kindly informing you that today we had convoy movement from ghazni towards qalat, unfortunately there was an insurgent attack on convoy in mavrah. one APPF soldier was wounded. convoy moved from incident area." Danach war mit dem Funknetz auch der Krieg verschwunden, der seit dem Einmarsch der westlichen Truppen nicht mehr so blutig war mit 400 getöteten Soldaten und Polizisten innerhalb einer Woche. Für die übrigen Opfer gibt es keine Statistik.
Die Dimensionen dieses friedlichen, weil unwirtlichen Afghanistans erkennst du daran, wie klein auf den monochromen Hängen die Menschen und Pferde sind, winzige Striche nur. Am schwersten haben sie es auf den schwarzen Flächen, die immens sind und mit messerscharfen Schiefertrümmern bedeckt. Die Reihe aufgelöst, tastet sich jeder, auch die Pferde, allein von Fels zu Fels. Unglaublich – "unglaublich!" – auch die rechteckigen, bis zu sechs Meter hohen Steinplatten, die wie von einem monströsen Landschaftsgärtner hochkant aufgestellt worden sind. Tagsüber werden sie heiß wie Öfen, erklärt Daniel, weil Schiefer wie kaum ein anderer Stein die Wärme speichert und das Eis zum Schmelzen bringt.
Weiter unten, wo es noch Gräser gab, hätten sie einmal fast den Koch verloren, der Kräuter sammeln ging; der Koch sei der wichtigste Mann bei einer solchen Expedition, auf alle anderen könnest du verzichten, aber vom Koch hänge die Fitness ab. Daniel verließen am letzten Tag des Aufstiegs dennoch die Kräfte, deshalb setzten ihn die Männer auf eines der Pferde, als wäre er Gepäck. Zum Glück hat ihn Vadims Kamera nicht gekrümmt im Sattel ertappt, die Augen halb geschlossen, den Kiefer aufgeklappt. Am Fuße des Mir Samirs, auf knapp 5.000 Metern, erreichten sie das Tor zu Nuristan, wo die Anthropologen des Dritten Reiches nach den reinen Ariern suchten und es heute nicht mehr weitergeht. Denn Nuristan, das den Islam erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts annahm, sympathisiert 17 Jahre nach dem Einmarsch der westlichen Truppen mit dem Islamischen Staat. Die Fotos, die der Engländer Eric Newby in den Fünfzigerjahren am Tor gemacht hat, bezeugen den gewaltigen Gletscher. Geblieben ist von ihm so gut wie nichts. Eben das ist die Geschichte, sagt Daniel: Du gehst unter tausend Mühen hin, aber der Protagonist ist nicht mehr da. Dennoch musst du hin, denn von unten kannst du sein Verschwinden nicht sehen. - Das heißt, du fotografierst eine Abwesenheit? – Ja, das meine ich. – So ähnlich ließe sich Theologie definieren.
Dann holt er die Bilder aus den Umschlägen hervor, die weiß und durchsichtig sind wie Milchglas. Die Schieferfelder gewinnen erst auf den schwarzweißen Fotografien die Anmutung vom Ende der Welt; dasselbe Motiv auf dem Laptop, digital, hat keine Tiefe, keine Finsternis und bedeutet nichts. Das Foto der sechs Meter hohen Steinplatte mit den 1.000 Steinbrocken davor und der kahlen Steilwand dahinter gleicht einem abstrakten Gemälde, und das ist die Erde ja von oben auch; dass seine Geschöpfe lebendig sind, Hunger und Durst haben, Einsamkeit und Schmerz empfinden, ihre Kinder lieben und sich vor dem Sterben fürchten, scheint Gott in Afghanistan seit 40 Jahren zu ignorieren. Der Gletschersee, der auf keiner Karte eingezeichnet ist: Du bist eigentlich schon am Ziel, auch mit der Kraft längst am Ende, aber dann schleppst du dich ohne Absicht, fast bewusstlos, noch ein paar Meter weiter um einen Felsen herum – und triffst auf dieses Türkisauge, das dich aus tiefster Mattheit heraus vollkommen enthusiasmiert. Eine Sekunde vorher fühlst du dich wie erschlagen, aber sobald du das Bild siehst (er meint den See, aber sagt Bild, als ob es unabhängig vom Betrachter existierte), funktioniert alles wieder, deine Sinne werden überscharf, dein Verstand absolut klar (heilignüchtern), wenn sich der Ausschnitt von selbst bestimmt, das Objektiv von selbst scharf stellt, der Atem von selbst anhält und du genau im richtigen Moment auf den Auslöser drückst. Und schließlich das finale Bild der Wanderung, das er im Endorphinrausch entdeckte: Ein majestätischer Gletschertisch vor einem Abhang aus Geröll, über den weitere, kleinere Tische verstreut sind. Sie entstehen, wo große Felsen das Eis vor der Sonne schützen, während ringsherum alles schmilzt.
Daniel sagt nichts, damit ich selbst auf das Detail stoße, von dem sein Foto erst lebt: Auf der großen Platte sitzen – winzig! – die sechs Begleiter mit verschränkten Beinen, als ob der Gletscher unter ihnen ein Tier wäre, das sie erlegt haben. Anhand der Körper rechnen wir aus, wie hoch der Tisch ist: drei Meter das Podest aus Eis, anderthalb Meter dick die Platte. In der Schweiz ist es ein bekanntes, längst kitschiges Motiv: die ersten Naturforscher oder heutigen Touristen, die auf einem Gletschertisch thronen. Durch die Gewehre wird es zu einem Sinnbild für den Krieg um die natürlichen Ressourcen, der sich auf der Erde ausbreitet. In Afghanistan, auch und gerade in Afghanistan, hat er vor 40 Jahren begonnen, um Seltene Erden, um Mineralien, um Opium, um Pipelines für Gas und Öl, aber vor allem um die erste und letzte Ressource des Lebens, das Wasser.
Beim Essen frage ich Daniel nach seinen Vorhaben für das anstehende Jahr. Ausstellungen, Agenturprojekte, Workshops, außerdem hofft er, ein paar Fotografien zu verkaufen. – Und dann mache ich mich auch irgendwann an die Arbeit für die Retrospektive. – Jetzt schon? frage ich. Du musst das machen, solange du die Arbeiten selbst auswählen kannst, antwortet er wie Neil Young, der gerade ein fantastisches Stück nach dem anderen aus seinem Archiv herausbringt: Ansonsten werden nur die Highlights versammelt, aber nicht die Zusammenhänge erkennbar, die Zwischenschritte, also das, was zwischen den bekannten Bildern entstanden ist. Nun, auf der jüngsten Reise nach Afghanistan, hat er seine beiden großen Themen noch einmal zusammengebracht wie in seinem frühen Buch über die chinesische Mauer, Geologie und Geschichte, oder "While the Fires Burn" und "Travelling through the Eye of History", wie die beiden letzten Bücher hießen. Speziell auf dem finalen Foto der Männer auf dem Gletschertisch sind beide Themen vereint zu einem Bild. – 1972 habe ich mein erstes Negativ gehabt, 2022 wäre ein gutes Jahr, um zurückzuschauen.
Durch meine Absage ist es noch mehr zu seiner Reise geworden, denke ich: Ich hätte meine eigenen Anforderungen gehabt, ich hätte mit den Menschen sprechen müssen, ich wäre länger in den Dörfern geblieben, ich hätte ein, zwei Tage auch in Kabul selbst verbringen wollen. Die Reise wäre nicht so verlaufen, vielleicht hätten wir es nicht einmal bis zum Gletscher geschafft. Was hätte ich denn da oben schreiben sollen tagelang ohne Strom? Dass der Stein sechs Meter hoch und rechteckig ist? Das siehst du auf dem Bild. Wie anstrengend es war? Das kann sich jeder denken. Ich kann nicht schreiben, wenn ich niemandem begegne, und eine Steckdose für den Laptop brauche ich außerdem. Durch die Absage konnte er sich auf seine Motive konzentrieren, für die er weite Wege gehen muss, und ich war zurückgeworfen auf das Private, das dieses Jahr bestimmt.
Auf dem Weg zum Hotel bemerkt Daniel die festliche Beleuchtung in Solothurn: Oh, Weihnachten steht an, ruft er amüsiert. – Wo wirst du Heiligabend sein? frage ich. Ich denke, in der Dunkelkammer. Das ist ein perfekter Schlusssatz, weiß ich sofort. Ob er ihn deshalb gesagt hat? Schließlich inszeniert er auch seine Bilder, damit sie wahrer als der Augenschein sind: Daniel Schwartz wird Heiligabend in der Dunkelkammer sein.