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Insel der wilden Männer

Auf der norwegischen Insel Karmoey sind nicht nur zu Festivalzeiten die bärtigen Kettenhemdträger interessant. Die Insel hat eine wechselvolle Geschichte, von den wilden Wikingern über die goldene Zeit der Heringe bis hin zur Schiffsglocke des Ausflugsdampfers "Dresden".

Von Franz Lerchenmüller | 23.01.2011
    Pelzhändler aus Russland sind gekommen, britische Weberinnen hängen ihre frisch gefärbten Wollstränge zum Trocknen auf, der Schmied schärft eiserne Pfeilspitzen und die Spielleute aus dem fernen Germanien blasen und trommeln unermüdlich zum Tanz: Die Wikinger von Karmoey haben zum Fest geladen, und aus ganz Europa sind bärtige Kettenhemdträger, schmeichelnde Schmuckverkäufer und Frauen mit blonden Zöpfen und härenem Gewand angereist.

    Wenn überhaupt irgendwo, ist dies der richtige Platz für ein Wikinger-Festival. Karmoey ist hochhistorischer Boden. Auf der 30 Kilometer langen und bis zu acht Kilometer breiten Insel vor der Westküste Norwegens waren schon früh Fürsten und Häuptlinge zuhause. Von dem ausgesetzten Vorposten aus überwachten sie den Nordvegen, die Schiffsverbindung nach Norden, und den Verkehr nach Britannien und zum europäischen Festland. Im Jahre 885 geschah ganz in der Nähe etwas Entscheidendes, erzählt Harald Ottoey, einer der Organisatoren des Festivals

    "Bei Stavanger schlug Harald Schönhaar die unbedeutenden anderen Könige und vereinte die vielen kleinen Herrschaftsgebiete zu einem großen Königreich Norwegen. Er machte Avaldnes zum Königssitz und Karmoey damit zum Geburtsort Norwegens."

    Bis Ende des 13. Jahrhunderts blieb Avaldsnes das Machtzentrum des Landes. König Olav der Heilige setzte das Christentum blutig durch. König Hakon Hakansson brachte Norwegen zur größten Blüte. Aber es ist Harald Schönhaar, der die Besucher im Geschichtszentrum "Nordvegen" per Film und als Puppe durch die frühe Historie des Landes geleitet.

    Da ist viel die Rede von Schlachten, bei denen Blut das Meer rot färbte, von der Weltenesche Yggdrasill und den Walküren, die mit dem Winde ritten, und von Magiern, die, an Klippen gefesselt, der Flut überlassen wurden. Raue Gesellen rauften sich da zusammen - höchst feinfühlig aber haben ihre Nachfolger das moderne, mit allerlei virtuellen Schikanen ausgestattete Zentrum in die Erde versenkt, um den Blick auf die danebenliegende Olavskirche aus dem Jahr 1250 nicht zu verstellen.

    Kriegerische Burschen waren sie, die "Nortmanni", die Nordmänner. Von Norwegen aus unternahmen sie Raubzüge nach ganz Europa, eroberten Paris und überfielen Trier. Aber sie besiedelten auch Schottland, entdeckten Island und gingen lange vor Kolumbus in Amerika an Land. Mut, Unbeugsamkeit und Kampfeslust bestimmten sogar den Inhalt ihrer Lieder:

    Wovon dieses Lied handelt? Ach, das Übliche. Da fährt ein Mann morgens hinaus zu seinem Fischplatz, findet einen Konkurrenten vor, der unerhörterweise an diesem, seinem Fischplatz angelt, er erschlägt ihn kurzerhand mit der Axt und ist darüber so fröhlich gestimmt, dass er das einfach alle Welt wissen lassen muss.

    Versteht sich, dass ein so kriegerisches Volk stets auch die Rache seiner Feinde fürchten musste. Schon die Kinder waren gehalten, Augen und Ohren aufzusperren. Was man heute nur noch als harmlosen Kinderreim kennt, war einst eine wichtige Überlebensregel, weiß der Hobbyhistoriker Leiv Vooge:

    "Das Feuer brennt auf dem Berg. Es sagt dir: Draußen am Horizont kommen zwei Schiffe. Sie segeln Richtung Karmoey. Renn sofort zu deinen Eltern auf dem Feld und sag ihnen Bescheid. Sonst ist es im Handumdrehen aus mit euch."

    Im 14. Jahrhundert verlor Norwegen an Bedeutung und wurde ein Teil Dänemarks. In das Blickfeld Europas trat Karmoey erst wieder 1808. In diesem Jahr kam der Hering in großen Schwärmen, und es begann die goldene Epoche der Fischerei. Das Städtchen Skudeneshaven ist ein Produkt der Heringsfischerei. Wer immer mit dem Fisch mittelbar oder unmittelbar Geld verdiente - und man konnte sehr viel Geld damit verdienen - ließ sich eines der blitzend weißen Häuser bauen, von denen heute noch 30 gut erhalten und reich mit Geranien, Tagetes und arktischem Mohn geschmückt sind. Ein Punsch-Set aus Riga, Leuchter aus Frankreich, Seidentapeten und bombastische Uhren erinnern in der guten Stube des Museums "Maelandsgarden" den Kurator, Oerjan Iversen, an den einstigen Wohlstand:

    "Hier wohnten wohlhabende Leute. Sie hatten eine Hausmagd und ein Kindermädchen, hatten modische Tapeten an den Wänden und schöne Möbel aus dem Baltikum."

    1843 wurde das heutige Museumsgebäude als Laden eröffnet, für die bis zu 60 000 Fischer, die während der Saison in den Hafen kamen. Hier fanden sie Netze, Stiefel, Öllampen und Zinkeimer. Die Wirtschaft florierte: Der Küfer, dessen Werkstatt ebenso erhalten ist wie die des Kupferschmieds oder die Zahnarztpraxis von 1928, stellte im Lauf der Jahre 40 000 Heringsfässer her, jedes für exakt 488 Heringe und 40 Liter Salz. Die Firma Christian Hansen baute Nebel- und Signalhörner, 30 000 an der Zahl, die - als Warninstrumente vor Sandstürmen - bis nach Afrika verkauft wurden. Und es war nicht nur die Fischerei allein, die Geld auf die Insel brachte:

    "Von 1865 bis 1895 fanden auch in der Kupfermine in Visnes viele Leute Arbeit. Bis zu 3000 Menschen lebten zu der Zeit in der Gemeinde."

    Doch Ende des 19. Jahrhunderts war plötzlich Schluss: Der Hering verschwand, die Kupfervorkommen waren erschöpft. Der letzte Ausweg für viele hieß: Emigration.

    "Zwischen 1880 und 1915 wanderten fast 6000 Menschen von Karmoey nach Amerika aus - knapp ein Viertel der gesamten Bevölkerung. Viele ließen sich in New Bedford an der Ostküste als Fischer nieder. Einige wenige wurden Bauern in Minnesota."

    Viele kamen auch wieder zurück. Manche waren ärmer als zuvor. Andere wiederum hatten es zu einem gewissen Wohlstand gebracht.

    "Sie kamen in Cadillacs und Chevrolets, sie brachten Waschmaschinen mit, Beleuchtung für den Weihnachtsbaum und besondere Küchenmöbel, im amerikanischen Diner-Stil."

    Geir Kalstoe, der auf Karmoey aufgewachsen ist, erinnert sich noch an seinen Opa:

    "Als mein Großvater in den 30er-Jahren zurückkam, hatte er ein Grammofon dabei, mit großen Walzen, auf denen die Musiktitel gespeichert waren. Es war das erste Grammofon in der Gegend, und weil die Leute so ungeheuer interessiert waren, fuhr er herum und führte den Apparat in Gemeindesälen und Bethallen vor. Die Menschen kamen in Scharen, sie sperrten Mund und Ohren auf und konnten einfach nicht verstehen, wie so ein Wunderding funktionierte."

    Auch zwischen Deutschland und Karmoey finden sich ungewöhnliche Beziehungen. Die Schiffsglocke gehört zum Ausflugsdampfer "Dresden", und sie hängt heute im Hafen von Kopervik. Am 20. Juni 1934 lief das Kraft-durch-Freude-Schiff vor Karmoey auf Grund. 975 Passagiere und 323 Besatzungsmitglieder waren an Bord. Und alle wurden sie von norwegischen Schiffen und Fischerbooten gerettet. Allein Kapitän Pallesen brachte mit seiner "Kronprinsesse Martha" rund 600 Menschen an Land. Dafür erhielt er eine Medaille und ein Anerkennungsschreiben von Hitler persönlich.

    Als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg Norwegen besetzten, ging sein Sohn Lars in den Widerstand. Er wurde 1943 verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen geschickt. In ihrer großen Sorge schrieb die Familie einen Brief an Reichskommissar Terboven: "1934 habt ihr 600 deutsche Leben von uns erhalten - können wir ein einziges zurückbekommen?" Und tatsächlich wurde Lars 1944 freigelassen."

    Aber die "Dresden" kam den Inselbewohnern noch auf andere Weise zugute.

    "Als die Dresden auflief, strömten die Leute hinaus und holten heraus, was nicht niet- und nagelfest war: Geschirr, Möbel, Besteck, Bettwäsche, Tischtücher - alles schaffte man weg. Noch viele Jahre flatterten, wenn Waschtag war, auf Karmoey große weiße Handtücher auf den Leinen - mit der Inschrift Dresden. Ein Freund von mir hat einen Stuhl im Wohnzimmer stehen. Und auch auf dessen Lehne steht: Dresden."

    Karmoey heute - das ist die am dichtest besiedelte Insel Norwegens. Und doch finden sich verschwiegene Felsbuchten, stille Heidelandschaften und dunkle Seen, um die weißes Wollgras wächst und das Heidekraut rot blüht. Wirtschaftlich geht es Karmoey blendend, sagt Brit Kalstoe, die Lehrerin:

    "Heute hat Karmoey rund 40 000 Einwohner. Der größte Arbeitgeber ist das Aluminiumwerk 'Hydro Karmoey'. Einige Leute sind auch in der Erdgasanlage beschäftigt: Nordseegas kommt hier aus verschiedenen Pipelines zusammen und wird weiterverteilt. Im Süden haben wir eine Reederei, Landwirtschaft und Handwerk gibt es auch immer noch. Aber mehr Menschen arbeiten heute offshore, in der Ölindustrie, auf den Plattformen oder den Versorgungsschiffen. Und dann haben wir noch die Fischerei. Aber da sind es immer weniger Kutter, die hinausfahren. Das Geschäft konzentriert sich auf ein paar große Fangschiffe."

    Die Wirtschaft blüht, die Arbeitslosigkeit liegt bei zwei Prozent, vom Flugplatz gehen Maschinen nach London, Kopenhagen und Bremen. Scheinbar sind wieder einmal goldene Zeiten angebrochen auf Karmoey. Die heutigen Insulaner unternehmen keine kriegerischen Feldzüge mehr. Sie verkaufen lieber ihren Nachbarn ganz friedlich Öl, Sportboote, Aluminium-Karosserien und gefrorenen Dorsch. Das mag weniger aufregend sein als die Ausflüge vor tausend Jahren - aber vielleicht sind sie damit sogar noch ein wenig erfolgreicher als ihre ungestümen Vorfahren.