Dienstag, 19. März 2024

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Institut für Menschenrechte
Inklusion vorerst gescheitert

Zehn Jahre nach Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention habe sich das Modell des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht behinderten Kindern nicht flächendeckend durchgesetzt, sagte Valentin Aichele vom Institut für Menschenrechte im Dlf. Damit Inklusion gelinge, müssten bessere Rahmenbedingungen her.

Valentin Aichele im Gespräch mit Manfred Götzke | 20.03.2019
An einem Gruppentisch im Klassenraum stehen zwei Holzstühle und ein Kinderrollstuhl.
In dieser Grundschule wird gemeinsam unterrichtet (dpa/Maurizio Gambarini)
Manfred Götzke: Vor ziemlich genau zehn Jahren hat Deutschland die UN-Behindertenkonvention unterzeichnet. Die sieht vor, Sie wissen es, die Inklusion umzusetzen – in Schule, Hochschule und auch auf dem Arbeitsmarkt. Zehn Jahre, das ist nicht unbedingt so eine kurze Zeit, und zumindest ein Teil der Schulen in Deutschland hat ja die Inklusion auch umgesetzt oder es zumindest versucht. Aber wie inklusiv ist Bildungsdeutschland jetzt geworden in den letzten zehn Jahren? Das Institut für Menschenrechte hat jetzt in einer Studie Bilanz gezogen. Autor ist Valentin Aichele. Herr Aichele, wie inklusiv arbeiten die Schulen in Deutschland zehn Jahre nach Inkrafttreten der Konvention?
Valentin Aichele: Wir gehen davon aus, dass eben das Modell des gemeinsamen Unterrichts von behinderten und nicht behinderten Kindern in der Schule sich flächendeckend nicht durchgesetzt hat. Und das war erstrebenswert, das war das Ziel, in zehn Jahren das zu schaffen – das ist nicht gelungen. Wenn wir auf die Statistik schauen, dann sehen wir, dass der Bereich der Sonder- und Förderschulen sich kaum reduziert hat, also im Jahr 2008 bis zum Jahr 2016 – soweit liegen die Zahlen vor – ist es lediglich gelungen, den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung, die außerhalb der Regelschule unterrichtet werden, um 0,6 Prozentpunkte zu senken, und das ist zu wenig.
An den Rahmenbedingungen arbeiten
Götzke: Ist die Inklusion gescheitert in Deutschland?
Aichele: Die Inklusion ist nicht gescheitert, die Inklusion ist das verbindliche Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention, die Kinder mit und ohne Behinderung haben auch ein Recht darauf. Es ist nur so, dass in den zehn Jahren eben auch schlechte Erfahrungen gemacht worden sind und dass wir die Erfahrung gemacht haben, dass man an den Rahmenbedingungen entscheidend arbeiten muss, damit Inklusion gelingen kann.
Götzke: Hakt es denn vor allem an den Rahmenbedingungen oder am Willen der Lehrerinnen und Lehrer und der Eltern mit nicht behinderten Kindern?
Aichele: Wir haben verschiedene Schaltstellen, an denen wir arbeiten müssen. Das Modell "Inklusive Schule" muss eben für eine breite Mehrheit der Leute akzeptiert und erstrebenswert sein. Das gilt natürlich einschließlich auch für die Gymnasien, und um das hinzubekommen, muss man den guten Unterricht erst mal hinbekommen. Dafür braucht man die Rahmenbedingungen, die Lehrerinnen und Lehrer, die ausgebildet sind, man braucht andere Konzepte. Die Schule, die inklusive Schule – ich kann mich nur wiederholen –, die sieht anders aus als die Regelschule von heute.
Götzke: Sie fordern nun einen Pakt für Inklusion, der ähnlich sein soll, sagen Sie, wie der Digitalpakt. Was soll der konkret beinhalten?
Aichele: Der Digitalpakt sieht ja eine Förderung der Schulen auf Landesebene vor für den Ausbau von Digitales, und entsprechend könnte eben der Bund die Länder unterstützen beim Aufbau der inklusiven Schule. Wir haben ja erkannt in den letzten zehn Jahren, dass es auch eine Frage von Ressourcen ist, und die Länder, die die inklusive Schule aufbauen wollen, die sollten eben auch die Möglichkeit haben, Unterstützung vom Bund zu erhalten. Das ist natürlich eine politisch heikle Frage, die diskutiert werden muss, aber ich denke, im Grundsatz ist das auch ein Vorstoß, der dieses Projekt der UN-Behindertenrechtskonvention entscheidend befördern könnte.
"Auch eine Frage von Ressourcen"
Götzke: Entsprechend auch fünf Milliarden Euro?
Aichele: Über die Höhe würde ich mich jetzt nicht äußern wollen. Das müssen natürlich Summen sein, die auch über längere Zeiträume fließen, weil der Aufbau des inklusiven Bildungssystems und dann sukzessive entsprechend der Abbau der Sonder- und Förderschulen auch noch mal Zeit in Anspruch nehmen wird, insbesondere wenn man anerkennt, an welcher Stelle wir eigentlich immer noch stehen zehn Jahre nach Umsetzung der UN-BRK in der Schule.
Götzke: Das eine sind Schulen und Hochschulen, aber die beste inklusive Bildung, die hilft ja wenig, wenn Menschen mit Behinderung dann am Ende doch nur in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten. Wie steht es denn um die Inklusion auf dem regulären Arbeitsmarkt, sind wir da etwas weiter als vor zehn Jahren?
Aichele: Wir sind weitergekommen. Es gibt viele Menschen mit Behinderung, die es auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft haben, als Fachkräfte sich dort eben auch zu integrieren. Wir haben auch die Zahlen der arbeitslosen Menschen mit Behinderung reduziert. Zwar sind es immer noch mehr Menschen mit Behinderung, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind, als die nicht behinderten – also der Unterschied ist sogar signifikant, der liegt bei 4,5 Prozentpunkten –, aber das sind Erfolge: also Integration auf dem ersten Arbeitsmarkt und eben Reduktion der Zahl von arbeitslosen Menschen mit Behinderung. Gleichzeitig erleben wir, dass mehr Menschen in Werkstätten arbeiten, und die Zahlen haben sich gesteigert um 45.000 Personen, die eben jetzt, 2017, in Werkstätten sind, wo sie 2008 noch nicht waren.
Götzke: Wie passt das zusammen?
Aichele: Das ist eine paradoxe Entwicklung, so würden wir das versuchen zu fassen. Das ist jedenfalls mit der UN-Behindertenrechtskonvention so schwer in Einklang zu bringen, dass es eben diese Sonderstrukturen gibt, und mit der Zielsetzung der Inklusion, also Überführung von Menschen in den ersten Arbeitsmarkt, wir offenbar nicht weitergekommen sind, im Gegenteil auch das Werkstattwesen sich weiter stabilisieren konnte.
Götzke: Inklusion vorerst gescheitert, sagt Valentin Aichele – zehn Jahre nach Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention durch Deutschland.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.