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Integration als Wahlkampfthema
Burka, Doppelpass und Leitkultur

Markige Sprüche dominieren derzeit die öffentliche Debatte zur Integration. Mit der Realität und einem Bemühen um Integration ausländischer Mitbürger haben sie zwar wenig zu tun - eignen sich aber gut als Wahlkampfslogan.

Von Benjamin Dierks und Michael Watzke |
    Ein Flüchtling in einem Sprachkurs
    Ein Flüchtling in einem Sprachkurs (dpa / picture-alliance / Karl-Josef Hildenbrand)
    "Ramon war auf dem Amt, warum? Richtig, der Führerschein war nicht gültig. Was machen wir noch auf dem Amt?"
    Was tun, wenn ich aufs Amt muss. Und wozu sind Behörden in Deutschland überhaupt da? Wenn Zuwanderer im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg einen Deutschkurs an der Volkshochschule besuchen, geht es häufig um praktische Angelegenheiten.
    "Was machen wir noch auf dem Amt? Na ja gut, alle waren dort, um die Wohnung anzumelden. Sie müssen sich registrieren, sie müssen die Anmeldung machen, ganz genau."
    Mit einem Gang aufs Amt wird es jeder zu tun bekommen, der neu nach Deutschland kommt. Das Thema bietet sich also an. Nützliche Beispiele aus dem Alltag sind aber nicht das einzige, was die Volkshochschule vermitteln will. Leiterin Bärbel Schürrle hat sich noch ein anderes Ziel gesetzt:
    "Ein Bereich, der eine besondere Rolle spielt, der in den letzten anderthalb Jahren, seit wir ganz stark eben auch mit Geflüchteten arbeiten, sich entwickelt hat, ist der Bereich eines Austausches zu Wertevorstellungen."
    Nicht nur Werte lernen - sondern auch darüber austauschen
    Die Volkshochschule in Friedrichshain-Kreuzberg war die erste, die einen eigenen Deutschkurs für Flüchtlinge angeboten hat. Die anderen Bezirke ziehen nun nach. Schürrle und ihre Mitarbeiter wollten von Anfang an nicht nur die Sprache lehren, sondern auch zur Integration beitragen – oder zum friedlichen Zusammenleben, wie Bärbel Schürrle es lieber nennt. Deswegen sprechen die Deutschlehrer in Friedrichshain-Kreuzberg auch Themen an, die in den meisten Lehrbüchern mit Rücksicht auf kulturelle Unterschiede ausgespart werden.
    "Unterschiedliche Familienformen, das Geschlechterrollenverständnis, das Thema Homosexualität, Bisexualität, Transsexualität, gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften mit Kindern, also Familien, die bestehen aus gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften etc."
    Für viele Menschen, vor allem aus traditionellen muslimischen Gesellschaften, sei das neu und sorge auch für Kontroversen im Unterricht. Aber Schürrle ist es wichtig, dass die Kursteilnehmer nicht nur Werte vermittelt bekommen, wie oft verlangt, sondern dass sie sich darüber austauschen können. Wenn Menschen erst einmal angefangen haben, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, davon ist Schürrle überzeugt, sei ein erster Schritt schon gemacht.
    "Wenn es einen friedlichen Dialog zu unterschiedlichen Rollenvorstellungen in einem Deutschkurs von uns gibt, ist das schon ein absoluter Erfolg."
    So vorsichtig formuliert es die Leiterin einer Volkshochschule, eine, die täglich mit Menschen zu tun hat, die neu in Deutschland ankommen. Und dann gibt es diejenigen, die sich in der Debatte um Integration in Deutschland derzeit besonders Gehör verschaffen:
    "Es gibt eben zu viele, die eigentlich neben uns her leben, schon seit 30 Jahren oder von denen, die neu gekommen sind. Und da reichen dann auch drei Wochen Sprachkurs nicht."
    Jens Spahn profiliert sich mit kantigen Aussagen
    Das sagt Jens Spahn. Er sitzt im Präsidium der Bundes-CDU, ist Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium und profiliert sich seit einiger Zeit besonders mit kantigen Aussagen in der Integrationsdebatte. Er forderte ein Burkaverbot und sorgte dafür, dass der CDU-Parteitag im vergangenen Dezember einen Beschluss wider die doppelte Staatsbürgerschaft fasste – gegen den Willen von Bundeskanzlerin Angela Merkel.
    Spahn sprang auf die Debatte über eine Leitkultur auf, die Innenminister Thomas de Maizière vor einigen Wochen angezettelt hatte, und Spahn forderte ein Islamgesetz. Damit wären die Themen umrissen, die die Diskussion über Integration derzeit dominieren. Der Wahlkampf hat begonnen in Deutschland und mit ihm sprechen Politiker wieder besonders eifrig über die Probleme beim Zusammenleben in Deutschland. Um einen Austausch, wie er Volkshochschulleiterin Bärbel Schürrle vorschwebt, geht es dabei selten. Eher darum, wie Zuwanderer sich an die deutsche Gesellschaft anpassen sollen.
    "Ich finde, man darf von jemandem erwarten, der nach Deutschland kommt, um hier zu leben oder auch, um hier Zuflucht zu suchen, dass er vielleicht zuerst mal fragt, wo kann ich mich mit einbringen. Und nicht zuerst die Frage ist, wo kann ich zuerst einen Antrag auf dem Sozialamt stellen. Es muss auch niemand den Goethe und den Schiller auswendig gelernt haben, aber so ein bisschen Interesse für die Geschichte, die Kultur dieses Landes, finde ich, darf man erwarten von jemandem, der sagt, ich möchte nicht mehr in der Türkei oder in Griechenland oder in Jordanien sein, sondern in Deutschland Zuflucht finden oder dahin zuwandern."
    Zwei Frauen überqueren am Berliner Kurfürstendamm die Straße. Sie tragen einen Niqab.
    Zwei Frauen in Niqab am Berliner Kurfürstendamm. (imago / Stefan Zeitz)
    Ob das Zusammenleben von Herkunftsgesellschaft und Zuwanderern sowie deren Nachkommen gelingen kann, wird in der Öffentlichkeit wieder stärker infrage gestellt. Das macht sich besonders am vermehrten Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland fest. Allerdings bezieht sich die Skepsis nicht nur auf die Zuwanderer der vergangenen rund zwei Jahre, sondern es wird längst auch wieder die Integrationsbereitschaft derer hinterfragt, die schon seit Generationen in Deutschland leben.
    "Weil natürlich durch die Flucht- und Migrationsbewegungen der letzten zwei Jahre da auch Themen hochgekommen sind, die immer schon da waren, aber jetzt noch mal mit einer Wucht präsent sind."
    Wobei diese Wucht wohl vor allem daran liegt, wie Politiker wie Spahn die Themen in die Öffentlichkeit bringen – das Islamgesetz etwa. Hinter Spahns Forderung steckt durchaus ein Problem: In Moscheen predigen häufig Imame, die aus dem Ausland kommen und neben ihrer Religionslehre auch politische Ansichten und Konventionen propagieren, die mit hiesigen Vorstellungen und Gesetzen mitunter kollidieren. Das hat jüngst der Streit um die Rolle des Moscheevereins Ditib gezeigt, der der türkischen Religionsbehörde untersteht.
    Politiker geben Zurückhaltung auf
    Nur waren Politiker bislang sehr zurückhaltend, dagegen mit Gesetzen vorzugehen, weil sie Eingriffe in die Religionsfreiheit vermeiden wollten. Ebenso groß war die Zurückhaltung, dem Islam eine ähnlich offizielle Stellung wie dem Christentum oder Judentum einzuräumen. Deswegen hatte Spahns heutiger Chef Wolfgang Schäuble, als er noch Bundesinnenminister war, die Islamkonferenz ins Leben gerufen, um eine freiwillige Lösung zu erzielen.
    "Mir ist auch egal, wie das heißt, das muss nicht Islamgesetz heißen. Mir ist nur wichtig, dass wir das Problem endlich besprechen und gemeinsam lösen wollen. Und dafür ist Debatte halt auch nötig, da gibt es auch mal Reibung."
    Beim CDU-Dauerbrenner Doppelpass wirft Jens Spahn bisherige Entscheidungen über den Haufen. Ende 2014 hatte die Große Koalition beschlossen, dass in Deutschland geborene Kinder sich als Erwachsene nicht länger zwischen dem deutschen Pass und dem ihrer Eltern entscheiden müssen, sondern beide behalten können. Davon will der CDU-Politiker wieder wegkommen.
    "Ich finde, von einem jungen Menschen, Erwachsenen in der zweiten, dritten, eher vierten Generation kann man erwarten, wenn er hier aufgewachsen ist, seine Freunde hat, seine Zukunft sieht, dass der sagt, ich möchte jetzt Deutscher sein oder ich fühle mich doch eher dem Land meiner Eltern verbunden."
    Doppelpass als symbolische Politik
    Ob es in der Debatte allerdings tatsächlich allein um diese individuelle Entscheidung geht, ist fraglich. Joachim Trebbe ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Er glaubt, dass hinter der Debatte um den Doppelpass mehr steckt.
    "Diese Doppelpass-Sache ist symbolische Politik, weil sie dafür steht, wie die Integrationsprozesse mit migrierten gesellschaftlichen Gruppen laufen sollen. Und ich glaube, der Doppelpass steht in der öffentlichen Diskussion für das Nebeneinander, also dass man sagt, man erlaubt allen möglichen gesellschaftlichen Gruppen aus verschiedenen nationalen Herkünften das Weiterbestehen gewisser nationaler Teilidentitäten."
    Insbesondere bei den türkischen Einwanderern sei dieser Teil ihrer Identität und Tradition mittlerweile als Teil der deutschen Gesellschaft akzeptiert worden. Die aktuelle Diskussion zeige nun, dass die Bereitschaft abnimmt, dies weiterhin zu akzeptieren.
    Eine junge Frau hält einen türkischen und einen deutschen Reisepass in den Händen.
    Türkischer und deutscher Pass: Neue Diskussionen vor der Bundestagswahl. (picture alliance / dpa / Daniel Bockwoldt)
    "Und wenn man heute den Doppelpass aufgeben will, bedeutet das einfach, man ist gegen das Nebeneinander von mehreren nationalen Herkünften und Kulturen, sondern man will das sofort auflösen und wenn man sagt, nein, wir wollen das etwas langsamer angehen, hat man eher die Idee, zu sagen, wir wollen mehr Freiräume, wir wollen eher Möglichkeiten offenlassen, seine nationale Identität weiter zu pflegen."
    Nachdem Sigmar Gabriel den Parteitagsbeschluss seines Koalitionspartners zur Doppelstaatsbürgerschaft in seiner ehemaligen Rolle als SPD-Chef noch hart kritisiert hatte, scheinen mittlerweile auch die Sozialdemokraten einzuschwenken. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz stellte Anfang Juni ein Diskussionspapier zur inneren Sicherheit vor, gemeinsam mit dem niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius, der im Bundestagswahlkampf für die SPD innenpolitisch harte Kante zeigen soll.
    In dem Papier sprechen sie sich dafür aus, einen sogenannten Generationenschnitt zu prüfen. Dieser soll festlegen, ab welcher Generation sich die Nachkommen von Einwanderern für einen Pass entscheiden müssen. Ein beachtlicher Schritt, weil sich die Sozialdemokraten bisher vorbehaltlos für die doppelte Staatsbürgerschaft ausgesprochen hatte – und ein Schritt, der bei einigen in der Partei für Entsetzen sorgt.
    "Die Diskussion ist einfach symbolisch ganz schwierig. Wir beschweren uns, dass Leute einem fremden Despoten hinterherjubeln und setzen doch immer wieder Zeichen, dass sie nicht hierher gehören."
    Migrationspolitiker sind entsetzt
    Aziz Bozkurt, Migrationspolitiker der SPD, spielt auf das Verfassungsreferendum in der Türkei an, bei dem auch Türken in Deutschland mitstimmten und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit ihrer mehrheitlichen Zustimmung zur Verfassungsänderung zu mehr Macht verholfen haben. Bozkurt kritisiert auch, dass Pistorius den Doppelpass zu einer Frage der Inneren Sicherheit gemacht hat.
    "Staatsbürgerschaftsrecht mit innerer Sicherheit zu vermischen, ist hoch gefährlich, weil es das Bild festsetzt, als sei jeder Doppelstaatler, also auch ich, der sich für diese Gesellschaft sehr engagiert, ein Sicherheitsrisiko."
    In den Debatten über die doppelte Staatsbürgerschaft und die Leitkultur werde suggeriert, dass Deutschland sich in der derzeitigen Form bewahren oder sich gar in einen Zustand vor dem Zuzug etwa der Gastarbeiter versetzen ließe, kritisiert der Kommunikationswissenschaftler Joachim Trebbe. Das sei aber nicht der Fall. Integration bedeute, aufeinander zuzugehen.
    "Damit können sich viele in den Mehrheitsgesellschaften nicht anfreunden, dass man akzeptiert, dass am Ende dieses Integrationsprozesses nicht einfach das Fortbestehen der alten Mehrheitsgesellschaft und der alten Leitkultur steht, sondern dass diese Leitkultur sich auch verändert. Und natürlich, das ist Gegenstand von gesellschaftlichen Diskursen, das muss verhandelt werden und da hat jeder – auch der Innenminister – das Recht zu sagen, wir wollen an bestimmten Regeln festhalten und an bestimmten anderen Regeln werden wir nicht festhalten."
    Der Vorsitzende der CSU-Grundsatzkommission, Markus Blume, steht hinter einem Rednerpult beim CSU-Parteitag in München
    Markus Blume (CSU): Leitkultur als Richtschnur. (picture alliance /dpa /Sven Hoppe)
    Mit der Veränderung der Mehrheitsgesellschaft und der Leitkultur hat man in Bayern offensichtlich besondere Probleme. Hier werden Tradition und Kultur besonders hochgehalten. Und hier hat die CSU schon vor einem Jahr Thesen zur Leitkultur aufgestellt. Das Wort gehört für die Christsozialen zum politischen Wertekanon.
    "Auch auf dem Parteitag im vergangenen Jahr haben wir Leitkultur zentral im neuen Grundsatzprogramm verankert. Insofern freuen wir uns, dass diese notwendige Debatte nun auch in Berlin stattfindet."
    Markus Blume ist stellvertretender CSU-Generalsekretär. Dass allerdings ausgerechnet Thomas de Maizière die Leitkultur in Berlin wieder aufgebracht hat, beobachtet man in Bayern genau. Vielen hier gilt das als Versuch, seinen Anspruch auf den Posten des Bundesinnenministers zu behaupten. Denn diesen Anspruch dürfte im Falle eines Wahlsiegs der Union auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann erheben. Der zieht als Spitzenkandidat der CSU in die Bundestagswahl und gibt sich in der Sicherheits- und Integrationspolitik als Hardliner.
    "Wir haben in Bayern die Leitkultur. Jeder, der auf Dauer in unserem Land leben will, muss sich wirklich integrieren. Muss unsere Spielregeln akzeptieren. Und das ist ein Angebot an alle, die zu uns kommen. Aber es ist auch eine Erwartung. Und es muss notfalls auch durchgesetzt werden."
    Und im Vergleich mit den Thesen zur Leitkultur, die de Maizière in einem Zeitungsartikel aufschrieb, formuliert die CSU in ihrem Grundsatzprogramm deutlich härter:
    "Wir müssen der Selbstrelativierung unserer Kultur, Tradition und christlichen Prägung entgegentreten. Falsch verstandene Toleranz, die unsere christlich-jüdisch-abendländisch geprägten Werte infrage stellt, lehnen wir ab."
    Verfassungsgericht prüft bayrisches Integrationsgesetz
    Und in Bayern ist dieses Verständnis von Leitkultur nicht nur Teil einer Debatte, sondern bestimmt die Integrationspolitik bereits als Gesetz. Vize-Generalsekretär Markus Blume:
    "Wir haben Leitkultur ganz konkret zur Grundlage, zur Richtschnur für die Integration gemacht und sie entsprechend im bayerischen Integrationsgesetz verankert."
    Dieses Gesetz ist im Freistaat seit Jahresanfang in Kraft. Wer demnach als integrationsunwillig gilt, wird bestraft. Wer sich weigert, Deutsch zu lernen, muss mit Sanktionen rechnen. Auch wer die deutsche Rechts- und Werteordnung missachtet, wird darin unterrichtet oder muss ein Bußgeld zahlen. Allerdings kann das zuständige Sozialministerium bislang keine Fälle nennen, bei denen das neue Integrationsgesetz bereits zu Sanktionen geführt hätte. Von einem Schaufenstergesetz sprechen deshalb die oppositionellen Freien Wähler. Und die bayerische SPD geht noch weiter. Fraktionschef Markus Rinderspacher nennt das Integrationsgesetz der CSU ...
    "... ein Desintegrationsgesetz. Es setzt auf Abschottung. Es ist eine Sonderregelung für Ausländer. Und deshalb ist es im Kern in weiten Teilen verfassungswidrig."
    Deshalb haben SPD und Grüne Klage beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof eingereicht. So will die Opposition im bayerischen Landtag das Gesetz kippen. Markus Rinderspacher:
    "Es gibt ein Bundes-Integrationsgesetz, deshalb brauchen wir eigentlich gar kein bayerisches mehr. Die CSU will hier nur einen eigenen Akzent setzen, Ausländer härter an die Kandare nehmen. Die machen hier gefälligst das, was wir ihnen vorgeben. Das kommt an auch bei den Stammtischen. Aber sorry, so kann's nicht gehen. Bitte auf dem Boden der bayerischen Verfassung bleiben. Das ist bei diesem Gesetz nicht der Fall."
    Abendaufnahme Berlin Friedrichshain-Kreuzberg mit Modersohnbrücke auf den S- und Fernbahnverkehr im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg Richtung S-Bahnhof Warschauer Straße.
    Abendaufnahme Berlin Friedrichshain-Kreuzberg (dpa - picture alliance / zb)
    Ihr Urteil fällen die bayerischen Verfassungsrichter voraussichtlich erst im kommenden Jahr. Sie müssen klären, ob die Staatsregierung in Integrationsfragen überhaupt Gesetzgebungskompetenz hatte. Markus Blume:
    "Ein überwältigender Teil der Bevölkerung will Leitkultur und will, dass sich Zuwanderer an unseren Spielregeln orientieren und nicht wir die Spielregeln an die Zuwanderer anpassen. Insofern zeigt, wer gegen die Leitkultur klagt, dass er ein gestörtes Verhältnis zu Bayern, zu Deutschland und vor allem zur Lebenswirklichkeit der Menschen hat."
    Ob es allerdings tatsächlich der Integration und einem konfliktfreien Zusammenleben dient, wenn man darauf beharrt, dass "wir" die Spielregeln bestimmen und die Zuwanderer sich anzupassen haben, sei fraglich, sagt Bernd Ladwig. Der Berliner Professor für politische Theorie und Philosophie fürchtet, dass dies eher das Gegenteil bewirken könne.
    "Ich glaube, wenn man mit so simplen Wir-Sie-Unterscheidungen operiert, dann macht man es sich natürlich zum einen zu einfach und übersieht dabei, wie umstritten auch dieses "Wir" ist. Und auf der anderen Seite erzeugt man auf der Gegenseite, spiegelbildlich gesprochen, ein Gefühl: Wir sind eigentlich höchstens Objekte der Fremddefinition, wir sind gar nicht mit unseren eigenen Sichtweisen gefragt."
    Wie wenig angekommen und aufgenommen sich auch die Nachkommen von Einwanderern häufig fühlen, merkt Nihat Sorgec täglich. Der Unternehmer leitet das Bildungswerk Kreuzberg, kurz BWK. Hier kommen junge Menschen unter, die keinen Ausbildungsplatz finden. Das BWK bildet mit Partnerunternehmen entweder selbst aus oder gibt den Teilnehmern das nötige Rüstzeug mit, um sich auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt eigenständig einen Platz zu suchen. Die Schüler kommen meist aus Familien, in denen Bildung keine große Rolle spielte. Nicht alle, aber viele haben einen Migrationshintergrund.
    "Wir müssen erst mal ihre Persönlichkeit stärken. Das ist auch ein Problem, weil sehr viele Menschen mit Migrationshintergrund sind in ihrer Persönlichkeit in eine Ecke gedrängt, wo sie sich noch nicht so angekommen fühlen."
    Bikulturalität auch ein Vorteil
    Das Bildungswerk von Nihat Sorgec ist auch ein Beispiel dafür, dass über Integration nicht nur gesprochen, sondern diese auch in die Hand genommen wird. Hier können sich junge Menschen mit Einwanderungsgeschichte zum Beispiel auf einen Beruf im Öffentlichen Dienst vorbereiten lassen. Viele hielten es bis dahin nicht für möglich, dass sie für einen so hochoffiziellen Job in Deutschland überhaupt in Frage kommen, sagt Sorgec.
    "Sie sollen dieses Gefühl bei uns erfahren, dass sie sich tatsächlich nicht mehr als Ausländer fühlen, sondern als Deutsche mit ausländischen Wurzeln."
    Und noch etwas will Sorgec ihnen mitgeben: Die fremde Herkunft der Eltern, die andere Sprache im Elternhaus – und womöglich auch der zweite Pass – müssen kein Nachteil sein, wie es die aktuellen Debatten nahelegen, sondern können auch helfen.
    "Man hat die deutsche Kultur hier angenommen, man hat aber auch noch die ausländische Kultur. Und das ist dann eine Bikulturalität und das ist dann keine Benachteiligung."
    Für solche Zwischentöne sei im Wahlkampf aber nicht viel Platz, sagt Kommunikationsexperte Joachim Trebbe.
    "Die Lösungsansätze, wenn sie denn kommen, die müssen später kommen. In Wahlkämpfen muss polarisiert werden."
    Und ohnehin lasse sich Integration nicht durch ein Gesetz oder politische Entscheidungen herbeiführen.
    "Letztendlich ist das natürlich nur über Generationenwandel zu lösen. Der Großvater hat die Migrationserfahrung gemacht, der Enkel weiß das nur noch aus Erzählungen und über den Kontakt in der Familie. Und in the long run wird sich das mit oder ohne Doppelpass ausmendeln. Nur muss man sich klar machen, wir werden über diese Migrationsprozesse nicht in einer Gesellschaft ankommen, die der Gesellschaft in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts ähnelt, sondern es wird eine neue Gesellschaft sein, die sehr viel vielfältiger sein wird und andere Muster hat als die, die wir heute haben."
    Einige Lösungen kommen möglicherweise also von selbst, allerdings nicht so, wie manch ein Verfechter von Leitkultur es sich erhoffen mag.