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Integration an Schulen
"Flüchtlingskinder sind eine Bereicherung"

Während der letzten Jahre seien an seine Schule mehr Kinder mit Fluchterfahrungen gekommen, sagte Ralph Kuhn, Leiter der Gesamtschule Rodenkirchen, im DLF. Mit den verschiedenen Hintergründen der Kinder umzugehen, sei für Lehrer eine Herausforderung. Die Kinder würden sich in seiner Schule aber relativ schnell integrieren und seien eine Bereicherung.

Ralph Kuhn im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 03.03.2016
    Kinder sitzen in einem Klassenraum und hören der Lehrerin zu.
    Kinder sitzen in einer Essener Schule in einer sogenannten Seiteneinsteigerklasse. (dpa/ picture-alliance/ Caroline Seidel)
    Tobias Armbrüster: März 2016 - viele Schulen in Deutschland, viele Lehrer, viele Schulleiter blicken in diesen Tagen zurück auf einige bemerkenswerte Monate und viele machen sich Gedanken darüber, wie es wohl im nächsten Schuljahr weitergeht. Denn die Flüchtlingskrise, die hat den Alltag an vielen Schulen bei uns im Land deutlich verändert. Zehntausende von Flüchtlingskindern sind in die Klassen gekommen, für Vorbereitung war wenig Zeit. Dabei geht es häufig um Kinder, die besondere Betreuung und besondere Förderung brauchen. Viele Konferenzen befassen sich in diesen Tagen mit diesem Thema, unter anderem der Schulleiter-Kongress, der heute in Dortmund beginnt, aber auch zahlreiche andere Treffen von Lehrern und Pädagogen. - Bei mir im Studio ist jetzt Ralph Kuhn, der Schulleiter der Gesamtschule Rodenkirchen bei Köln, außerdem stellvertretender Landessprecher der Schulleitungsvereinigung der Gesamtschulen in NRW. Schönen guten Morgen, Herr Kuhn.
    Ralph Kuhn: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
    "Wir haben seit über 20 Jahren schon Vorbereitungsklassen haben"
    Armbrüster: Herr Kuhn, was hat sich im vergangenen Schuljahr für Sie durch die Flüchtlingskrise geändert? Was ist an Ihrer Gesamtschule anders geworden?
    Kuhn: An unserer Gesamtschule ist es so, dass wir seit über 20 Jahren schon Vorbereitungsklassen haben. Immer wieder sind Kinder aus Flüchtlingsgebieten zu uns gekommen, sodass wir jetzt nicht ganz bei null anfangen müssen, wie vielleicht einige andere Schulen. Was ein bisschen anders ist jetzt in den letzten Jahren, vor allem jetzt in den letzten beiden Jahren, dass mehr Kinder wirklich aus Flüchtlingsgebieten gekommen sind. Wir haben mehr Kinder aus Syrien zum Beispiel, aus Bosnien nach wie vor, aus dem Kosovo, und damit stellen sich noch mal ganz neue Herausforderungen. Während es in den letzten Jahren davor häufig Kinder waren, die mit ihren Eltern gekommen sind, weil sie den Arbeitsplatz gewechselt haben und Deutsch lernen mussten erst einmal, sind es jetzt wirklich Kinder mit Fluchterfahrungen und mit nahezu keinen Deutsch-Kenntnissen.
    Armbrüster: Was heißt das, wenn Sie von Fluchterfahrungen sprechen? Was macht diese Fälle so anders?
    Kuhn: Was macht es anders? Die Kinder sind teilweise traumatisiert durch ihre Flucht aus ihren Herkunftsländern, also einmal die Erfahrung aus ihren Herkunftsländern. Die Kinder kommen ja aus schwierigen Situationen in der Regel, Bürgerkriegsgebiete sind das zum Beispiel. Sie haben eine sehr harte Flucht hinter sich übers Mittelmeer, über welche Routen auch immer. Sie sind jetzt angekommen über viele Stationen, sind möglicherweise vorübergehend in Turnhallen untergebracht worden, in irgendwelchen Übergangswohnheimen, haben noch gar nicht richtig Fuß gefasst, haben ihre Freunde, ihre Familie nicht bei sich und müssen jetzt ein neues Leben anfangen.
    Armbrüster: Wie prägt das dann den Alltag in der Schule oder in einem Klassenzimmer oder auf dem Pausenhof? Wie macht sich das bemerkbar, auch möglicherweise bei den Schülern, die hier in Deutschland groß geworden sind?
    "Die Flüchtlingskinder fallen jetzt nicht besonders auf im Alltag"
    Kuhn: Erst mal bin ich ganz überrascht - ich habe neulich noch zwei Stunden in der Vorbereitungsklasse mir angesehen -, mit welcher Freude, auch Lebensfreude und Lernfreude diese Kinder da sind. Man sieht es ihnen erst mal gar nicht an, was sie alles durchgemacht haben. Die sind, glaube ich, wirklich einfach froh, dass sie in Sicherheit sind und dass sie jetzt hier sich ein neues Leben aufbauen können. Für die Lehrerinnen und Lehrer stellt sich einmal die Herausforderung, mit diesen verschiedenen Hintergründen umzugehen. In der Klasse sind bis zu 18 Kinder und die haben alle unterschiedliche Erfahrungen. Das ist für die Lehrerinnen und Lehrer eine Riesenherausforderung.
    Für die Mitschülerinnen und Mitschüler, da kann ich jetzt erst mal nur für meine Schule sprechen. Wir sind eine sehr vielfältige Schule mit einer sehr heterogenen Schülerschaft. Das ist eine Bereicherung, sozusagen eine Erweiterung der Heterogenität. Die Kinder fallen jetzt nicht besonders auf im Alltag. Die integrieren sich relativ schnell, erst mal in der Vorbereitungsklasse, aber dann ist ja unser Ziel auch, dass sie in den Regelunterricht, in die Regelklassen gehen, und das klappt erfreulicherweise relativ unproblematisch. Da werden schnell Freundschaften geschlossen.
    Armbrüster: Ich frage das auch deshalb, weil ich mich an mehrere Zeitungsartikel, die ich gelesen habe in den vergangenen Tagen, erinnere, wo unter anderem so etwas gesagt wurde wie: Kinder, die diesen Fluchtalltag hinter sich haben, die so eine wochenlange, möglicherweise monatelange Flucht hinter sich haben, die gehen völlig anders um mit Themen wie beispielsweise Aggressivität, Streit, die sind möglicherweise aggressiver, allein aufgrund dieser Erfahrungen. Können Sie so etwas bestätigen?
    Kuhn: Das kann ich aus der Praxis jetzt in der Dimension nicht unbedingt bestätigen. Was wir natürlich auch haben an den Schulen, wenn sie gut ausgestattet sind, das sind Sozialarbeiter, die zur Beratung da sind, Beratungslehrerinnen und Beratungslehrer, die die Kolleginnen und Kollegen auch beraten können, die mit den Kindern Gespräche führen können. Ich habe jetzt da keinen Anstieg an Gewalt oder ähnlichen Dingen feststellen können. Da wird sehr konstruktiv mit umgegangen.
    Armbrüster: Dann lassen Sie uns reden über die Vorbereitungsklassen, die Sie auch abhalten, auch in Ihrer Schule. Was genau passiert da? Wenn ich das richtig verstehe, sind da tatsächlich nur Kinder drin, die diesen Fluchthintergrund haben und die auch tatsächlich noch nicht Deutsch sprechen.
    Kuhn: Ja, es sind Kinder, die kein Deutsch sprechen. Die können aus verschiedenen Gründen, wie gesagt, kommen. Jetzt tendenziell natürlich mehr Kinder mit Fluchterfahrungen. Diese Kinder sind erst mal in diesen Vorbereitungsklassen für maximal zwei Jahre und das Ziel ist, dass sie soweit Deutsch lernen, dass sie am normalen Unterricht, am Regelunterricht in den Regelklassen teilnehmen können. Das heißt natürlich, dass im Stundenplan hauptsächlich Deutschunterricht vorgesehen ist. Da gibt es natürlich auch unterschiedliche Konzepte, aber in den meisten Schulen ist es so, dass auch Fachunterricht erteilt wird, denn man muss Fachsprache lernen, Bildungssprache lernen, naturwissenschaftlicher Unterricht zum Beispiel. Auch Sport, Musik, Kunst, Englisch ist ein Thema. Nicht alle Kinder können Englisch. Aber wenn sie hier am Unterricht teilnehmen wollen und einen Schulabschluss machen möchten, müssen sie auch Englisch können. Das heißt, da kommt ganz viel auf die Kinder zu: Erst mal Deutsch zu lernen, dann auch sich in die anderen Fächer einzuarbeiten. Das wird in den Vorbereitungsklassen gemacht. Wenn es klappt - bei uns an der Schule geht es, bei meiner Schule geht es häufig noch, zukünftig wird es ein bisschen schwieriger -, dann werden die Kinder nach und nach in die Regelklassen integriert und nehmen da zunehmend auch am normalen Unterricht teil, und sobald sie in der Lage sind, das komplett zu machen, gehen sie aus der Vorbereitungsklasse raus.
    Armbrüster: Warum wird das schwieriger?
    Kuhn: Es wird deswegen schwieriger, weil viele Schulen gerade hier im Kölner, Bonner, Düsseldorfer Raum, in den Großstädten ohnehin voll besetzt sind und gar keine freien Plätze da sind. Das ist eine weitere Herausforderung. Im Moment ist die erste Herausforderung, glaube ich, dass Vorbereitungsklassen eingerichtet werden. Danach wird sich dann in vielen Gemeinden die Frage stellen, auf welche Schulen gehen die Kinder denn, wenn sie nicht mehr in der Vorbereitungsklasse sind. Das ist vielleicht nicht so ein großes Thema in Gemeinden, in denen noch Schulplätze frei sind, auf dem Land, sage ich mal ganz allgemein, aber in den Großstädten ist das natürlich schon ein Problem, denn dann braucht man möglicherweise auch neue Schulen.
    Armbrüster: Da sind wir schon beim Thema, was in diesen Tagen natürlich auch viel diskutiert wird. Wie groß sehen Sie da die Bereitschaft der Politiker, daran etwas zu ändern, möglicherweise Zehntausende von neuen Lehrern einzustellen? Da ist, glaube ich, immer die Rede von 20.000 neuen Lehrern, die Deutschland in den kommenden Jahren braucht, von Schulgebäuden noch gar nicht zu sprechen.
    Kuhn: Ja, das ist, glaube ich, auch ganz unterschiedlich. In Nordrhein-Westfalen kann man sagen, dass das Land schon Mittel investiert in erheblichem Maße, um Lehrerinnen und Lehrer einzustellen. Gerade in den letzten Monaten und im letzten Jahr sind Lehrerinnen und Lehrer eingestellt worden, explizit, um in diesen Vorbereitungsklassen zu unterrichten, möglichst Lehrerinnen und Lehrer mit Erfahrungen im Unterricht, Deutsch als Zweitsprache oder Deutsch als Fremdsprache. Das war teilweise auch eine Einstellungsvoraussetzung. Da wird schon viel investiert. Da wird sicherlich noch einiges auf die Länder zukommen.
    Die finanzielle Frage ist die eine. Die andere ist, haben wir dafür auch genug Lehrerinnen und Lehrer, oder müssen da nicht noch mehr ausgebildet werden, denn da ist einfach großer Bedarf.
    "Nicht einfach Töpfe umwidmen"
    Armbrüster: Wir hören jetzt ja auch in diesen Tagen immer häufiger, dass es da eine weitere Debatte gibt in dieser Flüchtlingskrise, die ungefähr so geht: Schaut her, mit diesen vielen Flüchtlingen, die nach Deutschland kommen, ist die Politik auf einmal bereit, sehr viel zu ändern. Offenbar ändert sich auch an den Schulen jede Menge. Aber dabei gibt es doch eigentlich schon jetzt auch an Deutschlands Schulen beispielsweise jede Menge Schüler, die eigentlich zusätzliche Förderung bräuchten und für die in den vergangenen Jahren doch relativ wenig getan wurde. Kann es sein, dass sich da manche Familien, wenn sie das sehen, was da getan wird, in Zeiten wie diesen ein bisschen an den Rand gedrängt fühlen, verdrängt fühlen von den Flüchtlingskindern, die jetzt in den Schulen sind?
    Kuhn: Ich glaube, da muss man genau hingucken und aufpassen. Es gibt ja an vielen Schulen auch schon seit vielen Jahren Stellen für Sprachförderung zum Beispiel. Das wäre so ein Bereich, Sprachförderung von Schülerinnen und Schülern, die ohnehin schon an unseren Schulen sind. Wenn jetzt die Förderung der Flüchtlingskinder auf Kosten dieser Fördermaßnahmen ginge, dann wäre das nicht so gut. In letzter Zeit ist allerdings zu bemerken, dass doch mehr Mittel auch in die Schulen gehen, damit genau das nicht passiert, dass von den einen Kindern, die schon da sind, die Förderung abgezogen wird, um neue Kinder zu fördern. Ich glaube, da muss man einfach gemeinsam hingucken und auch darauf achten, dass da nicht einfach Töpfe umgewidmet werden. Das müssen zusätzliche Ressourcen sein.
    Armbrüster: Aber wenn ich Sie da richtig verstehe, gehen Sie davon aus, dass es dort in den kommenden Jahren deutliche Zuwächse an Geldern geben wird für die Schulen, dass die Schulen in Deutschland sehr, sehr gut versorgt werden?
    Kuhn: Es wird da Zuwächse geben müssen. So würde ich das gerne formulieren.
    Armbrüster: Eine deutliche Forderung?
    Kuhn: Ja. Es sind zusätzliche Schülerinnen und Schüler da, die einfach einen erhöhten Bedarf auch auslösen, sowohl an Lehrerinnen und Lehrern als auch an Gebäuden möglicherweise. Wie gesagt: Je nach Standort gibt es da natürlich Unterschiede.
    "Das lebenslange Lernen gilt da auch für Lehrerinnen und Lehrer in dem Bereich"
    Armbrüster: Was sind das eigentlich für Lehrer? Was für Qualifikationen brauchen die, die in so einer Vorbereitungsklasse unterrichten, die Schülern gegenüberstehen, die möglicherweise tatsächlich kein Wort Deutsch können?
    Kuhn: Erst mal ist es natürlich gut, wenn man Lehrerinnen und Lehrer im Kollegium hat, die Deutsch als Zweitsprache oder Deutsch als Fremdsprache auch gelernt haben. Das ist nicht immer der Fall. In Zukunft wird das immer mehr werden, weil dieser Bereich auch in der Lehrerausbildung natürlich eine große Rolle spielt. Viele Schulen müssen jetzt erst mal gucken, dass sie mit den Lehrerinnen und Lehrern, die ansonsten auch Deutsch-Unterricht gegeben haben, dass sie in diese Klassen gehen und sich fortbilden. Da gibt es auch entsprechende Angebote, vor allem der Bezirksregierung zum Beispiel, Lehrerinnen und Lehrer fortzubilden. In der Stadt Köln, kann ich sagen, gibt es sehr gute Angebote dafür, dass die Lehrerinnen und Lehrer in Vorbereitungsklassen sich vernetzen, unabhängig von ihren Schulen. Da gibt es regelmäßige Fortbildung, regelmäßige Treffen, um sich auszutauschen und gemeinsam an diesem Thema zu arbeiten und Menschen, Lehrerinnen und Lehrer zu qualifizieren, die bisher noch nicht so viele Erfahrungen in diesem Bereich haben. Das lebenslange Lernen gilt da auch für Lehrerinnen und Lehrer in dem Bereich.
    Armbrüster: Ein schönes Schlusswort war das. - Ralph Kuhn war das, der Schulleiter der Gesamtschule Rodenkirchen bei Köln, außerdem stellvertretender Landessprecher der Schulleitungsvereinigung der Gesamtschulen in NRW. Vielen Dank, Herr Kuhn, dass Sie die Zeit hatten, heute Morgen hier zu uns ins Studio zu kommen.
    Kuhn: Sehr gerne. Danke schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.