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Integration der Flüchtlinge
Künast: Fehler wie bei den Gastarbeitern nicht wiederholen

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Renate Künast hält es für erforderlich, dass Deutschland im Zuge der Flüchtlingsintegration seine "Identität weiterentwickelt". Sie sagte im DLF, die harte Arbeit fange jetzt erst. Um Länder und Kommunen zu entlasten, forderte Künast eine systematische finanzielle Unterstützung durch den Bund.

07.09.2015
    Renate Künast im Bundestag am 22.5.2015
    Renate Künast, Vorsitzende des Bundestags-Rechtsauschusses, Renate Künast (Grüne) (picture alliance/dpa/Rainer Jensen)
    Vor allem im Bereich Gesundheit und Erstaufnahme müsse sich der Bund finanziell engagieren, verlangte die Grünen-Politikerin - und zwar "nicht nur einmal mit x Milliarden Euro". Nötig sei vielmehr pro Flüchtling eine Summe X, betonte Künast. In diesem Punkt würden sich die Grünen die Beschlüsse des Koalitionsausschusses aus der Nacht genau ansehen.
    Die Spitzen von CDU, CSU und SPD hatten sich darauf geeinigt, insgesamt sechs Milliarden Euro zusätzlich für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge bereitzustellen. Die Hälfte davon ist für die Länder und Kommunen vorgesehen.
    Künast sagte, sie glaube, dass Deutschland gerade "die Spitze der Flüchtlingsbewegung" sehe. "Jetzt fängt die harte Arbeit erst an." So müssten früh Sprachkurse organisiert und Kinder in die Schule geschickt werden. "Deutschland wird sich dadurch auch ein Stück verändern." Künast betonte jedoch, die Anstrengung werde sich lohnen. "Fehler, die wir damals mit den Gastarbeitern gemacht haben, sollten wir jetzt nicht wiederholen."

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Christoph Heinemann: Am Telefon ist Renate Künast (Bündnis 90/Die Grünen), die Vorsitzende des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages. Guten Tag.
    Renate Künast: Guten Tag, Herr Heinemann.
    Heinemann: Frau Künast, mehr Geld, schnellere Verfahren, pragmatische Lösungen. Kann sich die Bundesregierung auf die Unterstützung der Grünen verlassen?
    Künast: Eher hatte ich den Eindruck, die Bundesregierung ist von den Grünen längst getrieben. Wir haben ja seit vielen Monaten schon gesagt, dass es so nicht weitergehen kann. Auf Bundesebene, auch auf kommunaler Ebene sind wir Teil der, ich sage mal, ehrenamtlichen Unterstützung. Unsere Verantwortungsträger suchen verzweifelt Gebäude, die auch hygienisch herzustellen sind. Ich sage Ihnen mal: Wir wollen, dass wir diesen Flüchtlingen eine gute Unterkunft geben und eine gute Integration: und wir werden uns in dem Papier der Bundesregierung alles sehr detailliert und genau ansehen. Das ist ja ein Paket, das auf der einen Seite Geld verspricht. Aber wann fließt es? Fließt es im Rahmen eines Nachtragshaushalts noch in diesem Jahr? Die Kommunen brauchen das. Wann gibt es endlich mehr Bundesliegenschaften auf einem guten Hygienestand? Aber es ist eben auch die Frage, was ist eigentlich die allgemeine Asylpolitik. Soll jetzt über das Thema sichere Herkunftsländer eine individuelle Prüfung für viele abgeschafft werden? Für so was würden wir dann nicht die Hand reichen, außer einer sagt uns, das macht überhaupt Sinn, was in der Vergangenheit gar nicht so war.
    Heinemann: Sprechen wir zunächst einmal übers Geld. Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow hat heute früh bei uns im Deutschlandfunk einen Integrations- und Flüchtlings-Betreuungssoli ins Gespräch gebracht. Wir hören ihn:
    O-Ton Bodo Ramelow: "Wir hätten alle, alle Länder und alle Kommunen hätten wir mehr davon und es wäre für die Bevölkerung transparenter und ehrlicher, wenn wir tatsächlich den nächsten Schritt noch gehen würden und würden den Soli umfirmieren."
    Heinemann: Solidarität per Soli. Sollten die Kosten so dauerhaft finanziert werden?
    Künast: Herr Ramelow hat ja offensichtlich gesagt, den alten Soli umfirmieren. Davon geht jetzt noch ein Teil sowieso in die neuen Bundesländer. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, mir ist egal, was Sie wie nennen. Ich würde jetzt nicht den Soli umbenennen, sondern es muss klar und systematisch eine Finanzierungsregel getroffen werden. Nicht nur eine, die sagt, wir geben akut eine bestimmte Summe, sondern die Länder müssen sich auch für die Zukunft darauf verlassen können.
    Heinemann: Warum nicht per Soli?
    Künast: Weil der Soli mit vielen anderen Dingen belegt ist, Herr Heinemann, dass eigentlich das Geld in die neuen Bundesländer fließt. Dann sagen die alten, wir haben auch schon Strukturprobleme. Das ist ein Nebenkriegsschauplatz, wie Sie das konkret nennen. Wichtig ist, dass es eine systematische finanzielle Unterstützung durch den Bund gibt, dass er sich in den Bereich Gesundheitsfinanzierung begibt - da sind oftmals schwerverletzte und traumatisierte Menschen -, dass er die Erstaufnahme finanziert und nicht nur sagt. Wir geben jetzt einmal X Milliarden Euro und man danach wieder verhandeln muss, sondern dass es eine klare Aussage gibt, pro Flüchtling gibt es die Summe X. Damit hätten Sie eine Struktur geschaffen, die verlässlich ist.
    Heinemann: Frau Künast, viele abgelehnte Asylbewerber sind in den vergangenen Jahren im Land geblieben. Muss sich das ändern?
    Künast: Eins sage ich Ihnen klar: Wir müssen bei abgelehnten Asylbewerbern uns natürlich ansehen, ob sie sonstige Fluchtgründe haben. Das ist ja ein schwieriges juristisches Terrain. Man kann als Asylbewerber nicht anerkannt sein, aber trotzdem Flüchtling sein, den man gar nicht abschieben kann in ein Land, weil da immer noch Unsicherheit herrscht oder das Land ihn nicht aufnimmt. Aber im Prinzip ist schon klar - das sagen ja auch Grüne landauf, landab, die Menschen, die eine Anerkennung nicht bekommen, die auch sonst nicht als Flüchtling anerkannt werden können, die müssen dann auch wieder mit rechtlichen Mitteln in ihre Länder zurückgebracht werden. Aber da, sage ich Ihnen mal, muss der Bundesinnenminister auch seine Hausaufgaben machen, nämlich diesen Riesenstau, den es schon lange gibt, von weit über 200.000 Asylverfahren beim Bundesamt, der muss einfach mal abgearbeitet werden.
    Heinemann: Aber dieser Stau hat doch damit auch zu tun, dass viele Antragsteller überhaupt gar keine Chancen haben. Man könnte doch dadurch schon mal die Anzahl der Asylbewerber deutlich verringern, wenn man zum Beispiel die drei Länder Albanien, Kosovo, Mazedonien zu sicheren Staaten erklärte.
    Künast: Unser Ministerpräsident, Herr Kretschmann, hat ja darauf hingewiesen und andere auch, dass das, was man bisher gemacht hat an sicheren Herkunftsländern, gar nicht zu einer Reduzierung oder großen Veränderung geführt hat. Und trotzdem muss es ja noch eine individuelle Prüfung geben. Ich sage Ihnen mal: Gerade bei diesen Ländern, wo man erwarten kann, dass vielleicht sehr, sehr wenige überhaupt eine Anerkennung bekommen - und wie ich das bei Serbien oder anderen Ländern sehe: Die, die legal hier bleiben konnten, konnten in Wahrheit hier bleiben, weil sie familiär geächtet waren, weil sie krank waren. Aber da hilft ihnen ja nicht irgendeine rechtliche Erklärung, sondern sie müssen das Verfahren trotzdem bearbeiten. Es gibt, wenn auch eine grobe, aber Überprüfung. Ja, man kann trotzdem einen Asylantrag stellen; der muss bearbeitet werden. Über 200.000 mehr als ein Jahr laufende Verfahren. Es ist einfach nicht genug Personal da. Wir müssen einfach zeitnah Anhörungen machen, gucken, ob es individuell einen substantiierten Vortrag gibt, und dann müssen Sie eine Zusage oder eine Ablehnung schreiben.
    Heinemann: Zu wenig Personal oder zu viele Flüchtlinge? Muss die Politik jetzt nicht dafür sorgen, mit allen möglichen Kräften, dass die Zahl zurückgeführt wird?
    Künast: Wissen Sie, das Wort "zu viele Flüchtlinge" würde ich gar nicht so benutzen, weil Menschen haben Gründe für die Flucht. In Syrien wissen wir es alle, die Situation dort im Nahen Osten ist ja so, dass die Menschen wirklich um ihr Leben rennen und wandern. Das werden wir sicherlich nicht kritisch sehen. In anderen Ländern muss sich die Europäische Union fragen, wie sie eigentlich direkt neben sich bei potenziellen Beitrittsländern hilft, demokratische Strukturen aufzubauen und eine wirtschaftliche Entwicklung zu machen. Da braucht man nicht nur irgendwelche Assoziierungsgespräche, sondern man muss konkret Hilfe leisten. Und wir brauchen sowieso Arbeitskräfte. Warum gibt es kein geordnetes Einwanderungsgesetz, das die Möglichkeit schafft, dass Leute hier herkommen?
    Heinemann: Dann kämen noch mehr!
    Künast: Bitte?
    Heinemann: Dann kämen noch mehr Menschen.
    Künast: Na ja. Aber es geht ja nicht nur um die Frage, wie viele kommen, sondern wie wir sie hier integrieren.
    Heinemann: Und wie viele wir aufnehmen können und, wie Sie richtig gesagt haben, wie man sie integriert. Und das gelingt ja nicht von alleine. Es reicht nicht, von Multikulti zu träumen.
    Künast: Wer träumt schon von Multikulti? Das ganze Land ist bunt und voller Regenbogenfarben. Das ist doch eine feine Sache. Ich glaube, wenn schon das Handwerk und die Industrie uns sagen, wir würden gerne mehr aus dem Ausland haben, dann wissen Sie auch, dass es hier nicht um, sage ich mal, den Kampfbegriff Multikultiträume geht. Wenn im Großraum Berlin 200 Lehrstellen frei sind, dann ist doch klar, dass wir mindestens ganz gezielt zum Beispiel auch an den Westbalkan die Devise geben können, kommt hierher, macht euren Schulabschluss und macht hier eure Lehre und strengt euch hier an. Warum denn nicht, weil wir brauchen die Fertigung. Deutschlands Stärke ist eine gute Fertigung. Also müssen wir das auch organisieren. Und da, finde ich, muss dann auch die Bundesagentur für Arbeit, muss Frau Nahles und auch Frau Merkel sich anstrengen und die Wirtschaft auch, notfalls mit eigenen Bordmitteln vor Ort sich Personen suchen. Und die müssen dann aber auch einen Status haben, damit sie die Ausbildung machen können und notfalls länger hier arbeiten können. Wer hier eine Ausbildung abschließt, Herr Heinemann, kann im Zweifelsfalle Deutsch, weil er sonst den Abschluss nicht schaffen würde.
    Heinemann: Klingt alles wieder doch sehr nett. Aber wird nicht unterm Strich viel zu wenig darüber gesprochen, dass es auch schwierig werden wird, dass es auch zu Konflikten kommen wird?
    Künast: Sie haben Recht. Ich glaube, dass wir gerade die Spitze dieser Flüchtlingsbewegung sehen und dass es noch um viel mehr Solidarität und wirklich Seriosität und ernsthafte Arbeit gehen wird in der nächsten Zeit, nachdem man Flüchtlinge an Bahnhöfen begrüßt hat. Jetzt fängt die harte Arbeit erst an, nicht nur die Unterbringung am Anfang, sondern dass wir wirklich früh zu Deutschkursen verhelfen, die Kinder hier in die Schule gehen können, weil das ist einfach ein Menschenrecht für Kinder. Und es wird sich auszahlen, wenn die ersten in den Familien Deutsch können und hier integriert sind. Und da brauchen wir die tägliche große Solidarität. Ich weiß, da haben Sie durchaus Recht, das ist eine ganz große Aufgabe, die jetzt vor uns liegt. Und ein Land wie Deutschland, das ja seit langer Zeit schon auch gesagt hat, wir brauchen Zuwanderung, wird sich dadurch auch ein Stück verändern. Und da müssen wir uns alle anstrengen, dass wir sagen, was sind die Werte des gemeinsamen Zusammenlebens, aber dass wir als Deutsche, die schon hier sind, auch sagen, wir sind auch bereit, ein Stück die Identität Deutschlands weiterzuentwickeln. Dass auch jemand, der in Syrien geboren ist oder im Kosovo, am Ende sagen kann, ich bin ein Deutscher. Aber das ist Integrationsarbeit und Anstrengung von beiden Seiten. Da steckt noch viel Arbeit vor uns und Fehler, die wir früher mit den Gastarbeitern gemacht haben, sollten wir jetzt nicht wiederholen.
    Heinemann: Renate Künast, Bündnis 90/Die Grünen, die Vorsitzende des Bundestagsrechtsausschusses. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Künast: Bitte! - Tschüss.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.