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Internetsucht
Als Krankheit dringend anerkennen

Hunderttausende Menschen sind nach Schätzungen von Fachleuten internetsüchtig. Eine anerkannte Krankheit ist es nicht. Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marlene Mortler (CSU), fordert, das zu ändern. Viele Betroffene suchten schon Hilfe. Und laut Experten sind das längst nicht nur junge Zocker.

13.11.2015
    Ein junger Mann sitzt vor seinem Computer und spielt ein Computerspiel.
    Computerspiele können süchtig machen - aber auch viele Freunde in sozialen Netzwerken. (dpa / picture alliance / Peter Steffen )
    Bis jetzt gibt es nur Schätzungen, wie viele Menschen von Internetsucht betroffen sind. In einer Studie im Auftrag Bundesgesundheitsministeriums war 2013 von einer halben Million Abhängigen die Rede. Inzwischen könnten es laut Fachleuten doppelt so viele sein. Um mehr gesicherte Daten zu erhalten, forderte Mortler anlässlich der Berliner Mediensucht-Konferenz in Berlin, die Forschung stärker zu unterstützen.
    Von Sucht spricht man, wenn sich ein Mensch aufgrund eines extremen Nutzungsverhaltens sozial isoliert und Entzugserscheinungen und Störungen entwickelt. Genau das trifft nach Einschätzung von Experten auch auf die Internetsucht zu. Die Betroffenen gehen nicht mehr zur Schule oder Arbeit, Freundschaften werden vernachlässigt und Beziehungen gehen kaputt. Die Körperpflege lässt nach, die Süchtigen schlafen zu wenig und ernähren sich schlecht. "Manche verwahrlosen regelrecht vor dem Computer", sagte der Mediziner Bert de Wildt anlässlich der Spielemesse Gamescom im Sommer in einem Interview mit der Nachrichtenagentur KNA. De Wildt leitet eine Ambulanz für Medien-Abhängige an der LWL-Universitätsklinik in Bochum.
    Wann ist man internetsüchtig?
    Was er beschrieb, beobachten Ärzte auch bei Alkoholabhängigen oder Glücksspielsucht. Internetsüchtige verbringen laut de Wildt immer mehr Zeit im Netz. "Wenn sie nicht online sein können, denken sie ständig daran, was dort machen können oder wollen." Manche litten auch unter Entzugserscheinungen wie Depressionen, Herzrasen und kaltem Schweiß.
    Betroffen sind nicht nur Nerds
    Oft werden Süchtige als jung und männlich dargestellt. Das trifft nach Ansicht des Kölner Therapeuten Benjamin Wockenfuß nicht unbedingt zu. Er hat die virtuelle Selbsthilfegruppe webC@re" target="_blank" href="http://www.hls-webcare.org/virtuelle-selbsthilfegruppe.html">webC@re ins Lebengerufen. Jeder Vierte der 100 Betroffenen, die sich bis jetzt gemeldet habe, sei zwischen 30 und 40 Jahre alt, jeder Fünfte sogar älter. Auch viele Frauen seien betroffen. Letztes Jahr berichtete ein Analyse-Dienst, die Mehrheit der Smarthone-Süchtigen sei weiblich.
    Abhängig machen laut Fachleuten nicht nur Computerspiele, sondern auch soziale Netzwerke und eine große Zahl von "Online-Freunden".
    Offline zu leben, ist unmöglich
    Die Internetsucht zu erkennen, dauere oft lange, weil das Internet von allen ständig genutzt würde. "Wenn jemand plötzlich ins Zimmer kommt, kann der Betroffene seine Sucht also gut verheimlichen", sagte de Wildt. Die Omnipräsenz des Netzes macht auch einen Entzug schwierig.
    Das sieht auch die Bundesdrogenbeauftragte so. Mortler sagte in Berlin, eine völlige Abstinenz sei im Gegensatz zu anderen Suchtformen kaum möglich. Ohne Computer könne man im Berufsleben und auch in der Freizeit kaum mehr auskommen. "Das neue Ziel wird die Online-Offline-Balance sein." Besonders bei Kindern und Jugendlichen sei es wichtig, "rechtzeitig und zielgerichtet" aufzuklären. Dabei könne helfen, schon im Kindesalter Medienkompetenz zu schulen.
    (at/fwa)