Angesichts unfassbarer Gräueltaten könne er grundsätzlich den Wunsch verstehen, den Kurden im Nordirak Waffenhilfe zu gewähren, so Stegner im Deutschlandfunk. Das sei aber vornehmlich Aufgabe der USA, die durch ihre frühere Irak-Politik maßgeblich Verantwortung für die heutige Situation hätten. Durch die aktuellen Luftschläge gingen die US-Amerikaner bereits militärisch gegen die Kämpfer der Dschihadistengruppe Islamischer Staat (IS) vor.
Die Rolle Deutschlands müsse jedoch eine andere sein. Zur Unterstützung der Jesiden und Christen appellierte er dafür, dass Deutschland sich auf die humanitäre Hilfe konzentrieren solle. " Militärisches Eingreifen der Amerikaner und logistische Unterstützung durch die Deutschen, dagegen ist nichts zu sagen", betonte Stegner.
Insgesamt sprach sich Stegner für eine Politikwechsel durch die SPD aus. "Wir könnten weltweit Vorbild werden für Entwicklungszusammenarbeit. Wir müssen nicht auch noch bei den Rüstungsexporten vorne mit dabei sein."
Das Interview in voller Länge:
Dirk Müller: "Die Drecksarbeit können die Amerikaner machen, jetzt erst recht, die sind schließlich im Irak für alles verantwortlich" – dieser Tenor ist häufig zu hören in diesen Tagen in Berlin oder auch anderswo in Europa. US-Luftangriffe auf Stellungen der Dschihadisten im Norden des Landes allerdings, das findet hinter vorgehaltener Hand nahezu bei allen Zustimmung, quer durch die Parteien. Aber was machen die Deutschen, was macht die Bundesregierung, die Bundeswehr, außer den üblichen Hilfslieferungen von Medikamenten, Zelten und Decken, die ohnehin unstrittig sind? Was ist mit Waffen, was ist mit Munition für die kurdischen Peschmerga, die gegen die IS-Milizen kämpfen? Soll der ausgerufene Islamische Staat vom Irak bis nach Syrien einfach so bestehen bleiben, ein Terrorstaat? Wie also vorgehen? Das ist äußerst umstritten, nicht nur bei den Grünen, nicht nur bei den Linken, nicht nur in der Union, sondern auch in der SPD. Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel sind offenbar bereit, Waffen zur Verfügung zu stellen – unser Gesprächspartner jetzt nicht, der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner. Guten Morgen nach Dresden!
Ralf Stegner: Schönen guten Morgen, Herr Müller!
Müller: Machen Sie sich einen schlanken Fuß?
Stegner: Nein, überhaupt nicht, und ich glaube, man muss die Frage wirklich sehr, sehr sorgfältig diskutieren, da gibt es keine einfachen Antworten, und ich halte auch nichts von dem Zynismus, zu sagen: Die einen sollen den Kopf hinhalten und die anderen zahlen. Das ist keine Moral. Dass wir in der Situation sind, dass diese schrecklichen Gräueltaten passieren, hängt aber vermutlich auch ein bisschen damit zusammen, dass es im Irak keinen Gesamtstaat gibt, der in der Lage ist, die Menschen zu schützen vor diesen Gräueltaten. Und wenn insofern Obama jetzt für Luftschläge gegen die Terroristen dort gesorgt hat, dann korrigiert das in Teilen auch ein bisschen das, was leider dadurch entstanden ist, dass durch den Krieg von seinem Vorgänger Bush die Strukturen dort kaputt gemacht worden sind. Und insofern braucht es diese Luftschläge ganz offenkundig, um die Menschen dort zu schützen und in Sicherheit zu bringen. Ob deutsche Waffenlieferungen etwas Positives bewirken können, daran gibt es, glaube ich, ganz viele Zweifel, aus den unterschiedlichen Gründen.
Die einen sagen: Die haben dort ganz andere Waffen, das sind gar keine deutschen Waffensysteme, sondern andere. Und im Übrigen wird man mit Waffenlieferungen natürlich ganz schnell Kriegspartei und wir wissen, was daraus passiert. Auch da ist übrigens der Irak ja ein Lehrstück, denn man hatte mit westlichen Waffen Saddam Hussein aufgerüstet gegen die iranischen Ajatollahs, und das Ergebnis war am Ende ein Krieg der Amerikaner gegen den Irak, wo man sich just mit diesen Waffen auseinandergesetzt hat. Das heißt, Waffenlieferungen haben immer große Probleme und führen möglicherweise dazu, dass mit den Waffen, die man heute liefert, morgen unschuldige Menschen umgebracht werden. Und das muss man sich dann auch fragen, ob man das wirklich will.
Die Deutschen tun übrigens schon jetzt eine ganze Menge. Es sind nicht nur die üblichen Lieferungen, wie Sie gesagt haben, die unumstritten seien, sondern die Menschen brauchen natürlich ärztliche Hilfe, sie brauchen Schutz, sie brauchen vernünftige Unterkünfte. Da wird großartige Arbeit auch geleistet, auch das mit deutscher Hilfe, und das muss natürlich auch passieren.
Müller: Herr Stegner, jetzt haben Sie gerade eine SMS bekommen, die ist nicht von mir, um zu signalisieren, ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen. Das war jetzt relativ lang, Ihre Antwort. Sie haben gesagt, moralisch ist das nicht in Ordnung, zu sagen: Die einen machen die Drecksarbeit und wir halten uns zurück. Aber ist es nicht genau so? Luftschläge, Waffenlieferungen, die Franzosen sind dabei, vielleicht auch andere europäische Staaten – und wir liefern Decken?
Mit Waffenlieferung wird man schnell Kriegspartei
Stegner: Wir liefern nicht nur Decken, sondern ich habe mir ansehen können und andere ja auch, was da passiert, um Menschen zu schützen, die in allererster Linie jetzt Schutz brauchen. Die Frage ist doch, was man mit Waffenlieferungen bewirkt und ob man nicht Kriegspartei wird und ob nicht am Ende man mehr anrichtet, als man Positives bewirkt. Dass die Amerikaner eingreifen jetzt, ist richtig, und ich sage noch mal: Dem Terrorismus muss natürlich die Stirn geboten werden. Es ist unfassbar, was es da an Gräueltaten gibt. Man kann die Menschen nicht hängen lassen, das kann keine Position sein. Aber mir ist ein bisschen viel Militärlosung: Jetzt müssen nur alle Waffen liefern, dann wird alles gut. Wir haben leider viele, viele Beispiele, auch aus der jüngsten Geschichte, dass genau das Gegenteil dabei herauskommt. Wir müssen das Thema Waffenlieferungen, Rüstungsexporte sehr viel kritischer betrachten.
Müller: Aber wo ist denn, wenn ich Sie unterbrechen darf, in puncto ISIS beziehungsweise Islamischer Staat, IS, Terrormilizen, Vertreibung, Versklavung, Vergewaltigung von Minderheiten, das Ganze geht weiter – wo ist das Problem für die deutsche Politik für Sie, Kriegspartei zu werden?
Stegner: Das Problem ist, ich glaube, dass solche Konflikte ganz schwer zu lösen sind. In der Regel ist es eine Entscheidung der Vereinten Nationen, zu sagen: Da gehen wir jetzt hin und tun etwas Gemeinschaftliches, Internationale Gemeinschaft. Im Augenblick geht es um unmittelbare Nothilfe. Die leisten die Amerikaner mit ihren Luftschlägen, wie ich glaube, ja auch, und was man ja sehen konnte, ja auch durchaus erfolgreich. Aber was ist möglicherweise die nächste Situation? Reden wir morgen darüber, dass es einen Kampf um einen unabhängigen kurdischen Staat gibt, der sich dann vielleicht gegen den Zentralstaat Irak richtet? Was ist mit der Türkei? Was folgt aus solchen Dingen für solche Situationen wie in der Ostukraine? Das muss man sich alles überlegen. Wenn man etwas tut, muss man immer das Ende bedenken, und das ist nicht so leicht dahingesagt: Man liefert mal eben Waffen und dann ist alles gut.
Müller: Machen wir ja auch nicht, wir diskutieren ja in Deutschland seit vielen Wochen darüber. Wir hören vielleicht mal zu diesem Thema Cap-Anamur-Gründer Rupert Neudeck, jetzt Chef der Hilfsorganisation Grünhelme, bei uns im Deutschlandfunk:
Rupert Neudeck: "Ich bin nicht für Waffen für den Irak, ich bin auch nicht für Waffen für einen Staat. Ich bin jetzt in einer außergewöhnlichen Situation, wo es um hunderttausende von Menschen geht, die die Weltgemeinschaft noch nicht hat schützen können. Da bin ich dafür, dass die einzige Gruppe, die in der Lage ist, zu schützen, die soll natürlich Waffen kriegen, weil Aspirin und Milchpulver nützen denen jetzt nichts mehr. Ich kann doch nicht Menschen zugrunde gehen lassen, weil ich Pazifist bin!"
Müller: Rupert Neudeck sagt das. Was antworten Sie?
Deutschland soll nicht Waffen liefern
Stegner: Ich bin auch kein Radikalpazifist. Auch Deutschland verdankt seine Freiheit dem Sieg der Alliierten über Nazideutschland, und man muss Völkermord verhindern, man muss Menschen helfen. Das tun die Amerikaner, wenn ich das richtig sehe, mit ihren Luftschlägen. Nur dauerhaft werden wir da mit Waffenlieferungen nichts werden. Ich glaube, dass die Rolle, die Deutschland spielen kann, eine andere ist. Das tut übrigens Frank-Walter Steinmeier in den ganzen Krisenregionen der Welt – ob in Gaza, ob in der Ukraine, ob hier – wirklich vorbildlich, sich darum zu kümmern, dass man dazu kommt, dass Konflikte entschärft werden.
Aber zu sagen, jetzt sollen die Deutschen eben auch Waffen liefern und sollen da weniger restriktiv sein, das heißt ja auf gut Deutsch: Wir liefern jetzt Waffen in Spannungsgebiete und in Diktaturen. Das ist ja das, um was es geht. Das ist, glaube ich, falsch. Und ein Teil der Entwicklung im Nordirak hängt ja auch mit vormaligen Waffenlieferungen zusammen.
Müller: Aber spielt für diese Menschen die Genese, die Ursache – die ist bei vielen ja unstrittig, wenn Sie Ihre Analye hier vorbringen –, ist das da jetzt entscheidend für die Menschen, die bedroht sind, die davor stehen, eventuell umgebracht zu werden?
Stegner: Es geht um unmittelbare Hilfe, die kann man doppelt leisten, die Amerikaner mit den Militärschlägen und wir mit humanitärer Hilfe. Aber es geht auch darum, dass man bedenkt, was man mit dem, was man heute tut, morgen anrichtet – und dann die nächsten Opfer. Und da bin ich sehr dafür, dass die Deutschen eine große Rolle spielen bei der Frage, so wie Frank Steinmeier das auch wirklich tut, bei der Frage, wie lösen wir Konflikte, was machen wir mehr bei Entwicklungszusammenarbeit, aber eben nicht, indem wir Waffen in Krisengebiete und Diktaturen liefern. Und da gibt es die wundersamsten Argumente in Deutschland, warum wir das tun sollten. Angeblich ist unsere deutsche Sicherheit gefährdet, angeblich geht es um die Gewinne von Rüstungskonzernen. Das kann nicht unser Thema sein, sondern ich glaube, wir brauchen eine andere, eine restriktivere Rüstungsexportpolitik als bisher.
Keine Waffenlieferung in Diktaturen und Krisengebieten
Müller: Herr Stegner, Sie sagen, warten, um Konflikte zu lösen – wir könnten ja dann vielleicht Palästinenser und Israelis dazubitten, um zu fragen, wie man Konflikte löst, also 2040, 2050. Es geht ja, das hat ja Rupert Neudeck hier auch argumentiert, um diese Soforthilfe. Wir liefern Waffen nach Saudi-Arabien, wir kooperieren mit Oman, mit Katar, mit allen Scheich-Golfstaaten, gar kein Problem. Aber die Kurden lassen wir jetzt im Stich?
Stegner: Nein. Für mich ist das auch ein Problem, nach Saudi-Arabien Waffen zu liefern. Ich glaube, wir müssen es ändern. Wir dürfen in Krisengebiete und in Diktaturen keine Waffen liefern, das sollten wir nicht tun. Und noch mal: Ich bin nicht dafür, die Soforthilfe einzustellen, sondern es gibt gute Gründe, warum die Amerikaner, die auch einen großen Teil der Verantwortung dafür tragen, dass es ihnen jetzt fehlt an der staatlichen Struktur dort, dieses machen, und das kritisiere ich überhaupt nicht. Und ein Zusammenwirken von militärischem Eingreifen der Amerikaner mit Luftschlägen auf der einen Seite und von humanitärer, von logistischer, von Unterstützungs- und politischer Hilfe der Deutschen auf der anderen Seite, dagegen ist nichts zu sagen.
Ich habe in keinem Wort gesagt, die Menschen dort im Stich zu lassen. Das wäre auch nicht vertretbar, dass man dieses tut. Aber ich warne davor, jetzt zu glauben, mit Waffenhilfe wird alles gut – und heute ist es da und morgen ist es dort. Und wir haben die Debatte doch in Deutschland in den letzten Tagen gehabt, wir müssten weniger restriktiv sein bei den Waffenexporten, da wird doch argumentiert mit Arbeitsplätzen und Ähnlichem mehr. Und ich halte das wirklich für falsch. Ich glaube, Deutschland kann eine andere Rolle spielen in der Welt, kann die gut spielen. Und Frank Steinmeier macht uns ja gerade vor, wie das geht in sehr schwierigen Situationen. Und glauben Sie ernsthaft, in Gaza oder Israel werden wir mit Waffenlieferungen den Konflikt dort lösen oder in der Ukraine wird mit Waffenlieferungen irgendetwas besser? In der Regel sind die Opfer von Waffenlieferungen unschuldige Menschen, und das muss man immer auch bedenken, wenn man über diese Fragen streitet, was sicher keine einfache Frage ist.
Weltweit Vorbild werden für Entwicklungszusammenarbeit
Müller: Ist Israel bei Waffenlieferungen ein Konflikt- und Spannungsgebiet?
Stegner: Das ist es. Wobei mir sehr bewusst ist, dass wir eine klare Verpflichtung haben, was die Sicherheit des Staates Israel angeht. Das ist Teil dessen, wofür Deutschland eine besondere Verantwortung hat. Die haben sie auch dafür, dass die Palästinenser in einem eigenen Staat in Frieden leben können. Das ist eben nicht einfach. Und deswegen bin ich dankbar dafür, wie unermüdlich Frank Steinmeier sich kümmert um Konfliktbewältigung. Aber durch Rüstungsexporte lösen wir diesen Konflikt ganz gewiss nicht, und ich sage Ihnen, in der Ukraine eben auch nicht. Und noch mal: Ich glaube, wir könnten weltweit Vorbild werden für Entwicklungszusammenarbeit, wo ja manche Konflikte entstehen, die zu Kriegen führen, Kampf um Wasser oder anderes, da können wir helfen, da können wir Weltmeister werden. Wir müssen als Vizeexportweltmeister nicht auch noch bei den Rüstungsexporten vorne weg sein, was wir momentan sind. Und das kann man übrigens auch den Beschäftigen von Rüstungsfirmen klarmachen. Das haben wir bei dem Atomausstieg auch denen klarmachen können, die in Atomkraftwerken arbeiten. Das ist kein Argument. Wir müssen mehr tun, dass es weniger militärische Auseinandersetzungen gibt, und Waffenlieferungen müssen manchmal sein, in Notsituationen, und die Amerikaner, wie gesagt, handeln im Augenblick auch, aber wir lernen ein bisschen etwas aus den Fehler der Zeit von vor zehn Jahren.
Müller: Herr Stegner, noch ganz kurz, wir haben nicht mehr viel Zeit. Israel – Waffenlieferungen in Zukunft an Israel, ja oder nein?
Stegner: Ich halte das für einen kritischen Punkt, aber mir ist bewusst, dass das eine schwierige Frage ist aufgrund unserer Verpflichtung, die wir gegenüber Israels Sicherheit haben. Aber ich bin dafür, einen Politikwechsel zu machen durch die SPD in der Bundesregierung und keine Waffenlieferungen an Diktaturen und in Krisengebiete, in Spannungsgebiete – das hilft am Ende nicht.
Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der stellvertretende SPD-Chef Ralf Stegner. Danke für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag!
Stegner: Sehr gerne! Tschüss.
Müller: Tschüss.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.