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IS-Angriff
"Der Westen hat zu spät eingegriffen"

Die Welt könne nicht zuschauen, wie die IS-Terrormiliz Kobane einnehme, sagte der Bürgermeister von Erbil, Nihad Salim Qoja, im Deutschlandfunk. Nötig seien mehr Luftangriffe, um die Terroristen aufzuhalten. Denkt Qoja an die Menschen in der umlagerten Stadt, empfindet er Schmerz.

Nihad Salim Qoja im Gespräch mit Christiane Kaess | 08.10.2014
    In der Stadt Kobane im Norden Syriens kämpfen IS-Anhänger gegen kurdische Verteidiger.
    In der Stadt Kobane im Norden Syriens kämpfen IS-Anhänger gegen kurdische Verteidiger. (afp / Aris Messinis)
    Schon vor zwei Jahren hätte der Westen in Syrien die gemäßigte Opposition der Kurden unterstützen müssen, sagte der Bürgermeister der nordirakischen Kurden-Hauptstadt Erbil, Nihad Salim Qoja, im Deutschlandfunk. "Dann wären wir jetzt nicht in dieser schrecklichen Situation." Auch die passive Haltung der Türkei könne er nicht nachvollziehen. Es gehe nicht, dass das Leben der Menschen in Kobane aufs Spiel gesetzt werde.
    Die nordirakischen Kurden könnten ihren Brüdern und Schwestern nur schwer zur Hilfe eilen, fügte er hinzu. Kobane sei eine Enklave und für die Kurden aus dem Nordirak nicht direkt zu erreichen. Hilfe könne nur über die Türkei erfolgen. Kobane dürfe auf keinen Fall der IS überlassen werden.

    Das Interview in voller Länge:
    Christiane Kaess: Kurdische Milizen leisten heftige Gegenwehr im Norden Syriens. Aber ihre Bastion Kobane droht, in die Hand der IS-Terroristen zu fallen. In Sichtweite stehen Truppen des NATO-Landes Türkei jenseits der Grenze. Die Einnahme der seit Tagen umkämpften syrischen Kurden-Stadt Kobane durch die Terrormiliz Islamischer Staat scheint nur noch eine Frage der Zeit. Damit steht die Terrormiliz an der Grenze der Türkei und damit eines NATO-Mitglieds. Allein will die Türkei aber nicht mit Bodentruppen eingreifen.
    Mitgehört am Telefon hat der Bürgermeister der nordirakischen Stadt Erbil in der kurdischen Autonomieregion, der lange in Deutschland gelebt hat, Nihad Salim Qoja. Guten Morgen, Herr Qoja.
    Nihad Salim Qoja: Guten Morgen, Frau Kaess.
    Kaess: Herr Qoja, welche Informationen über die Situation in Kobane haben Sie?
    Qoja: Die Information, die wir haben, ist fast ähnlich, wie wir jetzt in dem Bericht gehört haben. Natürlich für uns ist es sehr, sehr schmerzhaft, dass unsere Brüder und Schwestern dort eingekesselt sind und heftige Kämpfe leisten, ohne effiziente Eingriffe der Koalition. Seit Tagen rufe ich nach effizienter Bombardierung der Stellungen. Wir verstehen das, dass es für manche Länder wie die Türkei schwer ist, massiv diese Kämpfer dort zu unterstützen, weil wie man im Bericht auch gehört hat, die Kämpfer stehen der PKK nahe und die PKK steht auf der schwarzen Liste und Terrorliste vieler europäischer Länder und der Amerikaner und der Türkei insbesondere.
    Kaess: Herr Qoja, das können wir gleich noch vertiefen. Ich möchte Ihnen noch eine andere Frage stellen. Sie haben mir gerade im Vorgespräch gesagt, Sie haben keine direkten Verbindungen mit den Kurden in Kobane. Woher kommt das?
    Qoja: Kobane liegt sehr, sehr weit im Nordwesten Syriens. Wenn man auf der Landkarte schaut, es gibt keine feste Landverbindung zwischen dem irakischen Kurdistan und Kobane. Das ist das Problem. Deswegen wir können direkte Hilfe und direkten Kontakt nicht mit Kobane aufnehmen, es sei denn nur über die Türkei. Letzte Woche bekamen wir viele Flüchtlinge aus Kobane. Die sind erst mal in die Türkei eingedrungen und von dort aus marschiert bis zur nordirakischen oder kurdischen Grenze, dann sind sie von dort in die kurdischen Gebiete gelangt.
    Kaess: Sie sagen, Kobane liegt weit weg. Fühlen sich denn die Kurden im Nordirak noch sicher?
    Qoja: Zurzeit wir fühlen uns sicher, weil durch massive Bombardierung der Koalition sind wir in der Lage gewesen, die Truppen oder die Terroristen weit zurückzudrängen. Die Peschmerga sind in irakisch Kurdistan im Vormarsch. Die Gesamtgebiete, fast die meisten Gebiete, die von ISIS damals besetzt wurden, sind wieder erobert worden, die Umgebung von Mossul. Es ist jetzt die Frage der Zeit, wann die Peschmerga mit Hilfe der Koalition die Stadt Shingal, wo viele Jesiden gelebt haben, wieder zurückerobern. Die Städte sind sicher geworden, das Leben hat sich wieder normalisiert, die Menschen fühlen sich wieder sicher. Natürlich: Das wäre nicht möglich gewesen ohne Hilfe der Koalition.
    "Kobane ist wie eine Enklave"
    Kaess: Sie haben gesagt, dass es schwierig für Sie ist, den syrischen Kurden zu helfen. Auf der anderen Seite sind die syrischen Kurden Ihnen ja auch schon zur Hilfe gekommen. Fühlen Sie sich nicht verpflichtet, etwas zu tun?
    Qoja: Natürlich fühlen wir uns verpflichtet. Die Gebiete, die an der Grenze zu irakisch Kurdistan liegen, bekommen auch unsere Hilfe, jegliche Hilfe. Aber wie gesagt, Kobane ist sehr weit. Erst mal kommt ein Stück von diesem Gebiet syrisch Kurdistans und dann ist eine sogenannte Pufferzone, wo keine Kurden leben, und dann kommt Kobane. Es ist wie eine Enklave. Es ist im Norden näher an die Türkei gebunden. Deswegen ist diese direkte Hilfe, dass die Peschmerga da hingehen könnten, schwierig. Dazu muss man noch eines sagen: Diese Grenzen sind anerkannte internationale Grenzen. Niemand ist in der Lage, diese Grenze zu durchbrechen, geschweige denn die Kurden. Das ist das Problem. Aber wie gesagt: Wenn das möglich wäre, hätten wir bestimmt Peschmerga geschickt und auch humanitäre Hilfe geschickt. Deswegen unser Appell an die internationale Gemeinschaft, an diese Koalition, dass sie die Kurden dort nicht allein lassen, dass massiv diese Gebiete, diese Stellungen von ISIS bombardiert werden, damit die Kämpfer der PYG in der Lage sind, die Stadt besser zu schützen.
    Kaess: Die Rolle der Türkei haben Sie schon kurz angesprochen. Am vergangenen Donnerstag hat sich ja die türkische Regierung vom Parlament das Mandat dafür geben lassen, militärisch gegen die Terroristen in Syrien und im Irak vorzugehen. Sollte sie?
    Qoja: Die Türkei sollte Hilfe leisten. Ich glaube, die Türkei steht vor zwei Problemen. Erstens wie gesagt: Die Türkei will nicht die PYG unterstützen, weil PYG zur PKK sehr nahesteht.
    Kaess: Sie sprechen jetzt von den syrischen Kurden.
    Qoja: Ja klar. PYG sind die syrischen Kurden, die Kämpfer, die dort kämpfen. Zweitens ist es problematisch, wenn Kobane fällt. Dann sind die ISIS direkt an der türkischen Grenze. Das ist zurzeit das Problem, womit die Türkei sich auseinandersetzt. Aber wenn die Türkei jetzt diese PYG-Leute, die Kämpfer, die kurdischen Kämpfer dort unterstützt, ich glaube, es wäre für die Türkei auch besser, ihre Grenze zu schützen. Aber wie gesagt: Da die PKK auf der schwarzen Liste in der Türkei steht, möchte sie nicht in Berührung kommen mit den kurdischen Kämpfern in Kobane.
    "Es kann nicht sein, dass die ganze Welt zuschaut, wie ISIS Kobane einnimmt"
    Kaess: Nimmt der Westen Ihrer Meinung nach zu sehr Rücksicht auf diese Interessen der Türkei? Hätte der Westen nicht schon längst die syrischen Kurden mit Waffen beliefern sollen?
    Qoja: Der Westen hat überhaupt unheimlich spät eingegriffen. Man hätte vor zwei Jahren die syrische gemäßigte Opposition, auch die Kurden unterstützen sollen. Dann würden wir heute nicht vor diesem Dilemma stehen. Es ist ein Problem, da muss auch die Weltgemeinschaft und die Koalition sich verantwortlich fühlen gegenüber diesen Menschen, die zurzeit dort allein kämpfen. Es kann nicht sein, dass die ganze Welt zuschaut, wie ISIS Kobane einnimmt. Wir haben damals gesehen in Sindschar und anderen Gebieten, als ISIS diese Städte eine nach der anderen übernommen haben und welche Gräueltaten sie angerichtet haben. Sollen wir das noch mal wiederholen, oder sollen wir das vermeiden? Das ist die entscheidende Frage jetzt.
    Kaess: Aber es gibt ja auch Bedenken gegen einen Einmarsch türkischer Bodentruppen von den Kurden selbst in der Türkei, weil die befürchten, die Türkei wolle zum Beispiel dann die Enklave Kobane besetzen. Sind diese Bedenken berechtigt?
    Qoja: Die Bedenken sind berechtigt. Ich glaube nicht, dass die Kurden Bodentruppen brauchen. Es gibt genug Leute, die dieser Arbeit nachgehen und dies auch dort tun.
    Kaess: Die Kurden selbst?
    Qoja: Ja, die Kurden selbst, genau wie in irakisch Kurdistan. Die Frage ist diese massive Bombardierung und Nachschub von Waffen für diese Leute. Das ist entscheidend für uns. Ansonsten gibt es genug Kämpfer, die diese Aufgabe selber übernehmen können.
    "Sehr verwunderlich, warum überhaupt jetzt in Kobane nicht massiv eingegriffen wird"
    Kaess: Aber hätte denn die USA und die arabischen Verbündeten, hätten die tatsächlich stärker mit Luftschlägen in Syrien eingreifen können, oder ist eben das Risiko tatsächlich zu groß, dass die Kurden selbst Opfer geworden wären?
    Qoja: Es verlangt, dass massive Angriffe dort gestartet werden von der Koalition, von anderen arabischen Ländern, die sich an dieser Koalition beteiligt haben bis jetzt. Es ist wirklich sehr verwunderlich, warum überhaupt jetzt in Kobane nicht massiv eingegriffen wird, wie damals im Irak.
    Kaess: Was vermuten Sie dahinter?
    Qoja: Ich vermute dahinter eine Politik, die die Türkei unheimlich viel berücksichtigt, indem PYG geschwächt wird, damit die Türkei die Oberhand in diesem Gebiet hat, und das ist ein gefährliches Spiel. Man darf nicht das Leben Tausender von Menschen aufs Spiel setzen, da die Türkei politisch berücksichtigt wird.
    Kaess: ..., sagte der Bürgermeister der nordirakischen Stadt Erbil, Nihad Salim Qoja. Herr Qoja, danke für dieses Gespräch heute Morgen.
    Qoja: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.