Dienstag, 19. März 2024

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Islamischer Theologe Mouhanad Khorchide
"Mohammed würde den Islam nicht wiedererkennen"

In seinem Buch "Gottes falsche Anwälte" kritisiert Mouhanad Khorchide das Islamverständnis vieler Muslime. Der Prophet Mohammed habe die Freiheit des Menschen gewollt, sagte Khorchide im Dlf. Stattdessen werde seine Verkündigung missbraucht und zu Herrschaftszwecken manipuliert.

Mouhanad Khorchide im Gespräch mit Andreas Main | 21.07.2020
Mouhanad Khorchide im Oktober 2018 auf der Frankfurter Buchmesse.
Mouhanad Khorchide (picture alliance / dpa / Uwe Zucchi)
Mouhanad Khorchide ist seit zehn Jahren Professor an der Universität Münster. Er leitet dort das Zentrum für Islamische Theologie. Geboren ist er 1971 in Beirut und aufgewachsen in Saudi-Arabien. Er studierte islamische Theologie in Beirut und Wien. Er hat vielbeachtete Bücher geschrieben – etwa über Barmherzigkeit im Islam. Über sein neustes Buch sagt er, es sei sein bisher wichtigstes.
Andreas Main: Herr Khorchide, warum ist "Gottes falsche Anwälte: Der Verrat am Islam" Ihr bisher wichtigstes Buch?
Mouhanad Khorchide: Mein Anliegen ist Aufklärung und noch mal Aufklärung und noch einmal Aufklärung. Und Aufklärung beginnt mit Selbstkritik. Und, wenn man sich die islamische Theologie anschaut, dann stellt man fest, es ist vieles konstruiert. Die politische Dimension hat von den Anfängen schon eine enorm große Rolle gespielt, wie der Islam sich etabliert hat und wie er sich gestaltet hat. Das heißt, wir müssen heute den Islam von diesen politischen Instrumentalisierungen, von diesen politischen Dimensionen befreien, um möglichst seine spirituellen wie aber auch ethischen Potenziale herauszuarbeiten.
Das ist ja genau mein Anliegen im Buch. Und wo ich zeige: Wo waren die Anfänge? Wo sind die Einflüsse, politische Einflüsse? Wo haben die angefangen? Und welche Konsequenzen hatten diese auf unser Gottesbild, Menschenbild, Gott-Mensch-Verhältnis, unser Verständnis vom Mann-Frau-Verhältnis zum Beispiel oder unser Koran-Verständnis und so weiter. Und das alles müssen wir heute neu lesen. Das ist mein Anliegen.
"Ich sitze zwangsläufig zwischen den Stühlen"
Main: Ich gehe jetzt noch weiter. Es ist nicht nur Ihr bisher wichtigstes Buch. Ganz subjektiv ist es neben den Büchern von Milad Karimi das wichtigste Buch, das ich über den Islam gelesen habe, zumal es sich bei niemandem anbiedert. Also, überzeugte Anhänger eines autoritär verstandenen Islams oder naiv schlichte Verteidiger, die dürften ebenso schäumen wie der gemeine schlecht gelaunte und verbiesterte Islam-Hasser. Sitzen Sie gerne zwischen den Stühlen?
Khorchide: Ich sitze zwischen den Stühlen etwas ungern, aber um das Projekt Aufklärung anzustoßen, auch zu etablieren, sitzt man zwangsläufig zwischen den Stühlen. Man macht sich nicht nur Freunde, sondern auch viele Feinde. Aber wie Sie gesagt haben, also diese Thesen begründen, wieso der Islam eigentlich zum großen Teil, wie wir ihn heute kennen, stark politisch manipuliert ist.
Ich weiß, dass das Wort Manipulation jetzt schwierig in vielen Ohren sich anhört, aber das ist so. Und das belege ich ja gerade in diesem Buch. Und so mache ich das schwierig auch für die Feinde, auch für die andere Seite. Gerade die Grundlagen des politischen Islams werden sehr stark dekonstruiert in diesem Buch. Und da erwarte ich mir viel Widerstand, gerade von Anhängern des sogenannten politischen Islams.
Diktatoren als Vorbild des politischen Islams
Main: Der Begriff Manipulieren ist starker Tobak. Sie haben es eben angedeutet. Wer sind denn diejenigen, die den Islam manipulieren beziehungsweise manipuliert haben? Nennen Sie Ross und Reiter.
Khorchide: Angefangen hat das Ganze mit politischen Strukturen, schon 661, also mit der ersten Dynastie. Also, zur Erinnerung: Der Prophet Mohammed ist 632 verstorben. Aber etwa 30 Jahre nach seinem Tod hat die erste Dynastie angefangen, die eigentlich ein Königreich war. Wir würden heute sagen: eine restriktive Diktatur im Namen des Islams. Da hat die Manipulation angefangen, weil die Kalifen angefangen haben, sich als so was wie Vertreter Gottes auf Erden zu verstehen.
Die neuen Thesen, die ich hier auch belege, zeigen, wie die Einflüsse aus Großpersien damals im 7., 8., 9. Jahrhundert waren, aber auch aus dem Oströmischen Reich, also, wo der Kaiser sich auch so ähnlich wie eine Art Sprecher Gottes gesehen hat. Und das hat dem Kalifen gefallen, diese Thesen. Und sie haben das für sich in Anspruch genommen: Wir sind auch die Sprecher Gottes. Da hat die Manipulation angefangen, weil diese Kalifen als Sprecher Gottes angewiesen waren, nicht auf das Gottesbild eines liebenden barmherzigen Gottes, sondern eines restriktiven Gottes. Und so fing die Manipulation an.
Und die ging weiter von der politischen Ebene, hinein in die kulturelle Ebene, in die religiöse Ebene. Ich würde heute sagen: Manipulierte, aber auch manipulative Strukturen des Islams sitzen in den Köpfen vieler Gläubigen, vieler Muslime, die Schwierigkeiten haben, selbstkritisch manche Positionen zu hinterfragen, weil diese Strukturen so gefestigt sind in den Köpfen. Wir dürfen nicht frei sein. Wir dürfen nichts hinterfragen. Wir dürfen nicht andere Positionen annehmen.
Das ist genau mein Anliegen, diese Strukturen in den Köpfen der Menschen zu dekonstruieren. Es reicht nicht, auf politischer Ebene zu agieren. Veränderung beginnt, wenn jeder Gläubige sich selbst verändert und seine eigenen Positionen kritisch hinterfragt.
"Die Hagia Sophia ist ein Paradebeispiel"
Main: Dennoch kurz die politische Ebene. Inwieweit passt das Verhalten des türkischen Ministerpräsidenten in Ihre Argumentation, der vor gut einer Woche in einem noch säkularen Staat aus einem Museum, das früher mal eine Kirche und danach eine Moschee war, nun wieder eine Moschee macht, also die Hagia Sophia?
Khorchide: Diese Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee ist ein Paradebeispiel für die Instrumentalisierung der Religion. Nach außen scheint das so, als wäre das eine fromme Handlung. Aber in Wirklichkeit ist es eine reine Instrumentalisierung der Religion, um hier Macht zu demonstrieren, aber auch, um zu zeigen: Ich, im Namen des Islams, kann die Christen symbolhaft erniedrigen und diese Spaltung "wir und die anderen", "der Islam und das Feindbild Christentum oder Feindbild Westen" zu festigen in den Köpfen der Menschen.
Erdogan und die Hagia Sophia - Schritt zur Islamisierung des öffentlichen Lebens
Wegen der geplanten Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee steht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Kritik. Der Preis für Erdogans Machtspiel ist hoch, kommentiert Christiane Habermalz.
Genau das ist das, was den politischen Islam ausmacht. Seine Machtansprüche, die er versucht, im Namen des Heiligen zu legitimieren, aber auf Kosten der Aushöhlung des Islams von seiner Spiritualität, von seinen ethischen Dimensionen.
"Erdogan gehört zu diesen Spaltern"
Main: Wie haben Sie die Reaktionen auf diese Hagia-Sophia-Entscheidung erlebt?
Khorchide: Ich habe unterschiedliche Reaktionen jetzt erlebt in den letzten Tagen. Ich habe volles Verständnis für diejenigen, die frustriert waren. Auch der Papst, der sich enttäuscht gezeigt hat. Die Muslime auch, die gesagt haben: Moment, noch eine Moschee brauchen wir nicht. Im Gegenteil, wir brauchen Gesten der Anerkennung, der Würdigung von Anderen.
Kein Verständnis habe ich für diejenigen, die gesagt haben: Das ist gut so. Das ist die Islamisierung. Das zeigt die Macht des Islams gegenüber dem Westen oder gegenüber dem Christentum. Also, diejenigen, die spalten wollen, dafür habe ich überhaupt kein Verständnis. Erdogan gehört zu diesen Spaltern.
Wir sollten aber die menschenfreundlichen Auslegungen des Islams - die müssen wir stärken.
"Erniedrigen im Namen des Islams"
Main: Soweit erst mal die Ouvertüre. Mouhanad Khorchide, lassen Sie uns nun unser Gespräch zweiteilen, so, wie Sie Ihr Buch zweiteilen. Da ist einerseits der Teil eins. Der heißt: "Der Verrat am Islam." Und dann Teil zwei: "Auf dem Weg der Befreiung." Im zweiten Teil skizzieren Sie, wie ein freiheitlicher, moderner Islam aussieht. Bevor wir dazu kommen: Das Wort "gefährlich" ist immer wieder zu lesen im Zusammenhang dessen, was Sie als Verrat am Islam bezeichnen. Lassen Sie uns das mal durchdeklinieren. Worin besteht für mich die Gefahr, für mich, einen nichtmuslimischen Deutschen?
Khorchide: Für einen Nicht-Muslimen besteht die Gefahr, dass wenn der Islam so verstanden wird, dass er politisch instrumentalisiert wird, dass das Anliegen dieses sogenannten politischen Islams ist, Sie als Nicht-Muslimen zu beherrschen, Macht Ihnen gegenüber zu zeigen oder noch pointierter, aggressiver vielleicht ausgedrückt, Sie zu erniedrigen im Namen des Islams. Das ist der Anspruch des politischen Islams. Er will ja in Europa herrschen. Allerdings umhüllt mit dem Mantel der Demokratie, der Menschenrechte.
Das ist der Hauptunterschied zwischen dem politischen Islam auf der einen Seite und dem Dschihadismus oder dem Salafismus auf der anderen Seite. Dschihadismus, Salafismus sind viel ehrlicher, weil sie sichtbarer sind. Sie deklarieren ja: Wir sehen Sie als Feinde. Wir wollen Sie vernichten. Der politische Islam macht das viel subtiler. Und deshalb ist er viel gefährlicher, gerade für Sie als Nicht-Muslim, gerade für die Gesellschaft auch.
"Dilemma für viele junge Muslime"
Main: Und die Gefahr für Muslime?
Khorchide: Dass erstens der Islam selbst seine Befreiungspotenziale verliert. Das heißt, aus die Muslime werden Objekte des Gehorsams, der Unterwerfung statt Objekte der Freiheit. Das ist das eine. Das andere: Es spaltet innerhalb des Islams. Wer zu uns gehört, zum politischen Islam, das sind die wahren Muslime, das sind die Guten. Die anderen sind die Bösen. Das sind die Anhänger des Westens. Das sind die Verräter.
Psychologe Mansour über Islamdebatte - "Die Mitte schweigt"
Der Psychologe Ahmad Mansour wirft der demokratischen Mitte in Deutschland vor, unbequeme Islamdebatten zu vermeiden. Das sei gefährlich für die Debattenkultur, sagte Mansour im Dlf.
Dazu kommt auch, dass Muslime, die zum Beispiel hier aufgewachsen sind, in Europa, die sagen: Ich will sowohl als Muslim leben als auch als loyaler Bürger Deutschlands zu Beispiel oder Europas. Aber der wird jetzt vor die Wahl gestellt: entweder, oder. Entscheide dich! Dieses Dilemma ist auch ein Problem für viele gerade junge Muslime, die hier geboren, aufgewachsen sind.
"Mohammed würde seine Verkündigung heute nicht wiedererkennen"
Main: Lassen Sie uns mal eine Kostprobe aus Ihrem Buch hören und die anschließend vertiefen. Eine Passage, gelesen von Rainer Delventhal.
Der Islam, der sich für die Etablierung einer Unterwerfungsmentalität instrumentalisieren lässt, ist die Antithese zu dem von Mohammed verkündeten Islam. Er ist dessen manipulierte Version. Dieser manipulierte Islam versteht sich als Unterwerfungsreligion, die aus den Menschen Objekte des Gehorsams machen will. Nur ungern spricht er von dem liebenden, barmherzigen Gott. In seinem Zentrum steht der strafende, restriktive Gott. Nur ungern spricht er vom Koran als Offenbarung der liebenden Barmherzigkeit Gottes. Dieser manipulierte Islam suggeriert den Gläubigen, sie seien nicht in der Lage, ihre Religiosität selbst in die Hand zu nehmen. Vielmehr seien sie auf Gelehrte angewiesen, die ihnen den Islam erklären und ihnen vorschreiben, was sie tun müssen und was sie nicht tun dürfen.
Main: Soweit das Zitat aus Ihrem Buch. Herr Khorchide, letztlich erheben Sie den Vorwurf, dass ein bestimmter Islam, wie er heute verbreitet ist, die Offenbarung, den Propheten, den Koran auf den Kopf stellt, missdeutet oder mehr noch, missbraucht. Ist dann, was wir als Islam erleben, unislamisch?
Khorchide: In der Tat. Wenn der Prophet Mohammed heute geboren würde oder wieder auferweckt würde und den Islam sehen würde, würde er seine Verkündigung nicht wiedererkennen und würde sagen: Moment, ich habe die Freiheit des Menschen gewollt. Ich wollte euch befreien. Ich wollte diese ganzen damaligen Strukturen - das waren ja gesellschaftliche Strukturen, Stammesstrukturen der Unterwerfung verbreiten - ich wollte Gleichheit, Freiheit für die Menschen. Wo ist denn das alles heute im Namen des Islams?
Die Miniatur aus dem Topkapi Museum in Istanbul zeigt den Propheten Mohammed vor der Kaaba in Mekka. Er legt den Hadschar (schwarzen Stein) in einen Teppich, damit er in den östlichen Teil der Kaaba gebracht werden kann. Mohammed, der Stifter des Islam, wurde um 570 als Abul Kasim Muhammad Ibn Abd Allah in Mekka geboren und ist am 8. Juni 632 in Medina gestorben.
"Mohammed hat die Freiheit des Menschen gewollt", sagt Mouhanad Khorchide (picture-alliance / dpa - Bildarchiv)
Im Gegenteil: Ich sehe in den islamischen Ländern, würde er sagen, lauter Diktatoren, Missbrauch meiner Verkündigung. Deshalb würde ich in der Tat meinen, vieles von dem, was auch Muslime praktizieren heute oder meinen - vieles davon entspricht nicht dem, was eigentlich Mohammed damals verkündet hat.
"Wie wollen wir heute den Islam auslegen?"
Main: Ich habe schon gesagt, wie wichtig ich Ihr Buch finde. Bevor jetzt aber jemand meint, mir fielen keine kritischen Fragen ein, jetzt kommt eine. Sie machen ja den Schnitt schon wenige Jahrzehnte nach Mohammed. Sie haben das eben auch ausgeführt. So um 660 herum beginnt demnach der Missbrauch Ihrer Religion zu Herrschaftszwecken. Also, ein paar Jahre wahrer Islam und danach 1.370 Jahre manipulierter Islam. Ist das nicht recht dualistisch oder schwarz-weiß?
Khorchide: Na ja, ich lese alles ja im historischen Kontext. Für die Menschen damals war das ja eine sukzessive Entwicklung. Das heißt, ich verurteile nicht die Menschen des 7., 8., 9., 10. Jahrhunderts. Ich verurteile uns selbst heute nicht, wenn wir kein historisches Bewusstsein haben und meinen, der Islam, so, wie er sich entwickelt hat nach dem Tod Mohammeds, das ist vom Himmel gefallen und wir nehmen das so als Paket, wir schnüren das auf und wir nehmen das so an, wie es ist, einfach hinnehmen - aber eben das sollte nicht sein.
Sondern: Wir müssen kritisch reflektieren und hinterfragen, welche politischen, aber auch gesellschaftlichen Strukturen eine massive Rolle gespielt haben, dass sich der Islam so entwickelt hat in den Jahrhunderten nach dem Tod Mohammeds, sodass wir heute noch mal überlegen: Welchen Islam wollen wir heute für uns auslegen? Oder wie wollen wir ihn heute auslegen?
Das ist ähnlich wie die Geschichte des Christentums. Im Christentum hat es ja auch lange gedauert, bis wir das Christentum heute so verstehen, wie wir das verstehen. Ich erinnere als Beispiel nur an die historisch-kritische Lesart der Bibel. Die ist nicht 1.000 Jahre alt, auch nicht 500 Jahre, gerade 100 und etwas Jahre jung. Und dem Islam geht es genauso. Der ist nicht vom Himmel gefallen, sondern er entwickelt sich mit der Entwicklung der Menschen.
Wenn wir aber immer rückwärtsgewandt sind, sodass wir meinen, der Islam des 7. Jahrhunderts, das ist der ideale Zustand und den wollen wir ins Heute und Hier bringen, dann machen wir einen Kardinalfehler, tun wir dem Islam auch viel Unrecht. Statt dass wir meinen, Gott hat uns das Ruder in die Hand gegeben, dass wir heute auch überlegen: Wie wollen wir heute für uns den Islam auslegen? Das heißt, ich lese den Islam in seiner Offenheit. Er bleibt offen und wir müssen ihn immer neu interpretieren.
"Jede Weltanschauung ist anfällig für Missbrauch"
Main: Aber wenn die Manipulation Ihrer Religion so früh beginnen kann, wenn sie so anfällig ist für politischen Missbrauch, vielleicht ist das ja in ihrem Kern angelegt. Vielleicht ist der Islam im Kern gefährlich.
Khorchide: Jede Weltanschauung, die für sich den Wahrheitsanspruch stellt, ist anfällig für Missbrauch. Christentum, Judentum ist genauso wie Islam, genauso wie der Buddhismus auch. Und deshalb ist es ja wichtig, dass wir uns von diesen Absolutheitsansprüchen befreien und meinen, Religionen sind nicht da, um Menschen zu spalten. Zu meinen, die sind besser, wenn sie diese Religion haben, besser als die anderen, weil die andere Religionen haben.
Sondern Religionen sind da, um uns alle daran zu erinnern, dass wir etwas Gemeinsames haben, und zwar unser Menschsein. Und der Bessere ist derjenige, der mehr humane Werte praktiziert beziehungsweise seinen Glauben bezeugt durch sein aufrichtiges Handeln.
"Gott will, dass ich Freiheit habe"
Main: Der islamische Theologe Mouhanad Khorchide im Deutschlandfunk, in der Sendung "Tag für Tag – Aus Religion und Gesellschaft". Herr Khorchide, nach dem Verrat am Islam lassen Sie uns nun den zweiten Schritt tun – auf dem Weg der Befreiung. Welche Haltung wünschen Sie Musliminnen und Muslimen, damit es ihnen gelingt, sich auf diesen Weg der Befreiung zu machen?
Khorchide: Dass Musliminnen und Muslime sich als Subjekte der Religion wahrnehmen im Sinne von: Ich bin ein freies Wesen. Gott will, dass ich Freiheit habe, hat mir Freiheit geschenkt, mich selbst auch in religiöser Hinsicht zu bestimmen. Ich darf nicht einfach blind etwas hinnehmen. Ich darf mich nicht bevormunden lassen, von niemandem. Weder von einem Khorchide noch von irgendeinem Gelehrten oder Imam oder Hodscha.
Sondern jeder ist für sich verantwortlich, seine Religiosität so auszulegen, so zu praktizieren, wie man überzeugt ist, dass das ihm seine Freiheit, seine Würde bewahrt. Also, dieser Aspekt der Freiheit, Aspekt der Selbstkritik auch, dass man sich selbst auch entsprechend wahrnimmt als freies, vernünftiges Wesen, das würde ich mir als Schlüssel wünschen, Schlüssel zur Aufklärung, zur Befreiung.
"Das beginnt schon in der Erziehung"
Main: Auch aus dem zweiten Teil Ihres Buches nun mal als zweite Kostprobe ein Zitat, gelesen von Rainer Delventhal.
Wir Muslime sollen uns neuen Gedanken stärker öffnen und uns von der Mentalität des ständigen Verurteilens alles Neuen endlich befreien. Wir müssen die Strukturen der Unfreiheit endlich aufbrechen und jegliche Formen der religiösen Angstrhetorik verwerfen. Denn wo Liebe ist, ist kein Platz mehr für Angst. Gott meint es aufrichtig mit uns. Und daher will er uns, aus Liebe, nicht aus Angst.
Main: Herr Khorchide, Strukturen der Unfreiheit aufbrechen, Subjektwerdung, Selbstbestimmung – das sind große Worte. Wo sollte die 16-jährige, sagen wir mal, Fatima, sagen wir mal, in Nürnberg oder in Berlin-Charlottenburg - wo sollte sie für sich persönlich ansetzen?
Khorchide: Das beginnt schon in der Erziehung. Also, wie wird ihr Religion vermittelt? Wird ihr Religion vermittelt, so wie viele meiner Studierenden mir erzählen: In vielen Moscheen dürfen wir nicht einmal hinterfragen. Wir dürfen nicht einmal Fragen stellen, sondern wir müssen einfach passiv hinnehmen, was uns gesagt wird.
Aber, wenn die religiöse Erziehung so angelegt ist, dass sie die Menschen ermutigen will zu hadern, also nicht nur Fragen zu stellen, sondern zu hadern, eine 16-Jährige oder ein 16-Jähriger kann auch so mit sich anfangen, indem man sich als freies, mündiges Wesen in religiöser Hinsicht, auch in religiöser Hinsicht wahrnimmt und lernt zu hinterfragen, verstehen zu wollen, seine Beziehung zu Gott individuell für sich zu gestalten und das keineswegs an einen Dritten zu delegieren.
"Gott verlässt sich auf den Menschen"
Main: Was sagen Sie dem 30-jährigen Abdul aus Hamburg, wie er aus der Religion heraus Kraft beziehen könnte für ein neues, anderes muslimisches Selbstbewusstsein?
Khorchide: Wenn der Muslim seine Beziehung zu Gott als eine individuelle Beziehung wahrnimmt und vor allem sich selbst so wahrnimmt als "Hand der Liebe Gottes", "Hand der Barmherzigkeit" hier in der Welt, und weil der Mensch frei ist und Gott für die Freiheit des Menschen garantiert hat, greift Gott nicht unmittelbar in die Welt ein, um die Dinge zu biegen oder zu lenken, sondern Gott verlässt sich auf den Menschen.
Und das ist der Inbegriff des Wortes "Kalif" im Koran, wie es vorkommt. Der Mensch als "Kalif" bedeutet so was wie "Ebenbild Gottes", also so was wie die "Hand Gottes". Also, Gott greift durch den Menschen ein, wenn der Mensch sich in Freiheit zur Verfügung stellt und sagt: Ja, ich übernehme die Verantwortung, dass hier Frieden in der Welt geschieht, dass Liebe hier geschieht, dass Leid vermindert wird, dass Kriege nicht mehr stattfinden udn so weiter. Das heißt, Gott hat die Welt so erschaffen, dass er auf den Menschen, auf die Kooperation des Menschen – in Anführungszeichen – "angewiesen" ist. Also, der Mensch als Partner Gottes.
Politischer Islam in Deutschland - "Wir haben einiges zu verteidigen"
Die Ethnologin Susanne Schröter ruft dazu auf, das Grundgesetz gegen den politischen Islam zu verteidigen. "Wir müssen aufpassen, dass die individuellen Freiheitsrechte uns nicht verlorengehen", sagte Schröter im Dlf.
Wenn der Mensch versagt, bleibt die Intention Gottes nach Liebe nicht erfüllt in der Welt. Wenn der 30-Jährige oder egal, welcher Gläubige, sich entsprechend wahrnimmt: Gott verlässt sich auf mich, wenn ich versage, wenn ich Gott versetze, versetze ich eben die Liebe, versetze ich die Barmherzigkeit. Wenn ich meinen Nächsten nicht liebe, dann habe ich Gott auch versetzt.
Wenn Glaube so verstanden wird, als ein Handeln, als ein Geschehen der Liebe, dann hat Glaube mit uns allen etwas zu tun. Hier und jetzt hat er mit uns zu tun. Und so gibt er uns viel Kraft und viel Sinn auch für unser Leben, dass wir hier diejenigen sind, die Liebe, Barmherzigkeit, das Konstruktive, das Friedliche in der Welt verwirklichen. Und, wenn wir das nicht tun, dann verwirklicht sich das eben nicht von alleine.
"Das ist Islam light"
Main: Herr Khorchide, Ihr Islam ist so offen, frei, pluralistisch, dass er nicht nur für die junge Fatima und den jungen Abdul interessant sein kann, sondern auch für den deutlich älteren Andreas mit christlichen Wurzeln. Ist Ihr Islam also so etwas wie Islam light, eine humanistisch verwässerte Version, die sich Nicht-Muslimen so annähert, dass Sie selbst mich an der Angel haben?
Khorchide: Ich meine genau umgekehrt. Der dogmatische und konservative oder fundamentalistische Islam, das ist Islam light. Warum? Weil der Fundamentalismus den Islam genau von diesem Geschehen der Liebe aushöhlt. Da geht es im Fundamentalismus nicht um Liebe, nicht um Nächstenliebe, nicht um die Menschen. Es geht um Dogmen. Es geht um abstrakte Kategorien, die wenig mit unserem Alltag zu tun haben.
Ein Fahrzeugkonvoi mit Mitgliedern der Terrormiliz Islamischer Staat
"Der IS hat nur Unheil gestiftet", sagt Mouhanad Khorchide (Militant website/AP)
Und das sehen wir ja zum Beispiel am IS, wo die Menschen dort meinen, sie sind sehr strenggläubig. Aber schauen wir uns die Realität an. Sie haben nur Unheil gestiftet. Meine Islamvision lädt alle ein, dass wir alle zusammenkommen, jeder begründet durch seine Weltanschauung. Also, ich will ja nicht missionieren, sondern jeder in seiner Weltanschauung soll dieses Humane, dieses Menschsein für sich begründen.
Das ist keine Relativierung der Wahrheit oder der Weltanschauung, sondern Ausarbeitung, die Essenz des Islams oder die Essenz des Christentums. Es geht um Liebe, um Barmherzigkeit. Es geht um den Menschen an sich. Und deshalb ist es gerade da eine strenge Variante der Auslegung der Religion, weil der Mensch hier sehr stark in den Mittelpunkt rückt als das Wesen, an das Gott selbst auch glaubt.
"Viele wollen eine Alternative zum politischen Islam"
Main: Bei Medikamenten heißt es ja immer: Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker. Bei Ihrem Buch würde ich sagen: Bei Lektüre sind spirituelle Erfahrungen möglich. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihre Buchhändlerin. Das war aber jetzt nicht beabsichtigt, oder?
Khorchide: Ich wollte auch im zweiten Teil des Buches – und das ist mein Anliegen in diesem Teil – eine Alternative bieten für den politischen Islam. Denn – und das ist eine Erfahrung, die ich immer wieder mache, gerade mit jungen Menschen, die sagen: Okay, ich habe verstanden, der politische Islam ist nicht das, was Mohammed verkündet hat. Aber es reicht mir nicht zu sagen, was alles schlecht gelaufen ist oder wie ich den Islam nicht verstehen soll.
Ich frage: Wie soll ich jetzt den Islam verstehen? Viele junge Menschen wollen eine Alternative zu diesem politischen Islam. Und das mache ich im zweiten Teil, wo es in manchem Kapitel in der Tat sehr spirituell wird, wo vielleicht nur Gläubige sich jetzt angesprochen fühlen. Aber das ist doch beabsichtigt, um gerade Gläubige zu erreichen mit einem Alternativverständnis zum politischen Islam.
Mouhanad Khorchide: "Gottes falsche Anwälte: Der Verrat am Islam"
Verlag Herder, 1. Auflage 2020, 256 Seiten, 22 Euro
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