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Islamischer Universalgelehrter Avicenna
Prägend wie nur wenige Philosophen

Die Geschichte des Islam ist geprägt von Konflikten und Unterdrückung – aber auch von Phasen, in denen Philosophie, Kultur, Wissenschaft eine Blüte erlebten. Eine herausragender Kopf dieser Epochen ist ein Mann, den wir hierzulande vor allem unter dem Namen Avicenna kennen.

Von Thomas Ibrahim | 17.02.2021
Illustration von Ibn Sina (Avicenna) wie er von Büchern umgeben während seines Studiums auf einem persischen Teppich sitzt
Ein neuer Typus Denker in der islamischen Tradition - das war der Gelehrte, Arzt und Metaphysiker Ibn Sina, latinisiert Avicenna (www.imago-images.de)
Es ist das 8. Jahrhundert nach Christus: Das islamische Reich hat sich während seiner Expansion diverse Länder einverleibt. In diesen Ländern entsteht in den kommenden Jahrzehnten, was heute als große Übersetzungsbewegung bekannt ist.

Große Übersetzungsbewegung

In den unterschiedlichen Regionen des Riesenreiches, das sich nun von Andalusien über Griechenland bis zum heutigen Usbekistan erstreckt, beginnen Gelehrte damit, Texte zu sammeln und sie ins Arabische zu übersetzen. Besonders das Wissen der alten Griechen erhält so Einzug in die islamische Welt und beeinflusst das philosophische Denken nachhaltig. Dazu der Philosophie-Historiker Peter Adamson:
"Das lässt sich schon an dem Wort ‚Falsifa‘ erkennen. Das griechische ‚Philosophia‘ wird einfach als ‚Falsifa‘ ins Arabische übernommen."
Wissenstransfer im Mittelalter
Schiiten gegen Sunniten, Muslime gegen Juden – es gibt viele Konflikte zwischen unterschiedlichen Religionen. Doch es gab auch Zeiten, in denen Christen, Juden und Muslime zusammen arbeiteten und voneinander profitierten.
Peter Adamson lehrt spätantike und arabische Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er erklärt, in der islamischen Welt sei die Philosophie eindeutig mit den alten Griechen assoziiert worden. Als Avicenna die sprichwörtliche Bühne betritt, "gibt es schon Generationen von Gelehrten, die sich mit den Texten der Alten auseinandersetzen. Al-Kindi und Al-Farabi sind wohl die berühmtesten Vorgänger Avicennas in diesem Feld."

Avicenna war bereits als Kind außerordentlich begabt

Avicenna heißt eigentlich Abū Alī al-Husain ibn Abdullāh ibn Sīnā oder kurz Ibn Sina. Er kommt 980 n. Chr. in Buchara auf die Welt, einer Stadt im heutigen Usbekistan. Die Blüte des islamischen Imperiums hatte bereits begonnen, wieder zu verwelken. Die Zersplitterung des riesigen Territoriums schritt voran. Die Macht lag de facto bei lokalen Herrschern und nur noch nominell beim Kalifen in Bagdad. Diese politische Instabilität sorgte für Machtkämpfe innerhalb des Reiches, aber sie sorgte auch dafür, dass kulturelle Zentren jenseits von Bagdad florierten. An Höfen regionaler Fürsten in Städten wie Isfahan und Hamdan waren Ärzte und Gelehrte meist gern gesehen. So auch Avicenna. Er erhält Zugang zu gut ausgestatteten Bibliotheken. Er studiert Texte des Mediziners Galen, des Mathematikers Euklid und nicht zuletzt des Universalgelehrten Aristoteles - für die arabischsprachigen Philosophen der Zeit so etwas wie der Goldstandard.
Mausoleum des berühmten persischen Arztes Abu Ali al-Husain ibn Abdullāh ibn Sīnā, auch Avicenna, in Hamadan, Iran
Mausoleum des berühmten persischen Arztes in Hamadan, Iran (imago stock&people /Karl-Heinz Schein )
"Das Unverwechselbare an Avicenna," so Peter Adamson, "das, was ich Leuten sagen würde, wenn ich ihnen nur eine Sache über ihn erzählen dürfte: Er verkörpert in der islamischen Tradition einen neuen Typ Denker. Er ist nicht mehr lediglich derjenige, der griechische Philosophie erklärt und für sein Publikum aufbereitet. Avicenna präsentiert sich als jemand, der Aristoteles als den wichtigsten Philosophen ersetzt."
Dass Avicenna bereits als Kind außerordentlich begabt war, unterstreicht er in seiner Autobiografie - nicht ganz unbescheiden:
"Ein Lehrer des Korans und ein Lehrer der schönen Literatur wurden für mich bestellt. Als ich das 10. Lebensjahr vollendet hatte, beherrschte ich den Koran und viel von der schönen Literatur, so daß ich Verwunderung abnötigte."
Mit 16 wendet er sich der Heilkunst zu, mit 18 praktiziert er bereits als Arzt. Für ihn zählt die Medizin jedoch nicht zu den "schweren Wissenschaften". Aber Avicenna ist so begabt, dass die Heilkunst es ihm bis zu seinem Tod ermöglicht, als Leibarzt für unterschiedliche Herrscher ein gutes Auskommen zu finden.

Medizin-Standardwerk bis ins 19. Jahrhundert

Bis ins 19. Jahrhundert wird sein Kanon der Medizin als Standardwerk in der medizinischen Ausbildung genutzt. Innovativ ist er aber vor allem als Philosoph. In seiner Metaphysik kombiniert er aristotelische Lehren mit neuplatonischen Gedanken - etwa der Frage, warum überhaupt etwas existiert. Eine Frage, die für einen debattierfreudigen Muslim wie Avicenna der Aufforderung gleichkam, die Existenz Gottes zu beweisen.
"Es sind die Wahrhaftigen, die Gott für die Ursache von allem Existierenden halten und nicht umgekehrt die Existenz von allem für die Ursache von Gott erachten."
Peter Adamson deutet diese Sätze so: "Wie können wir also wissen, dass Gott existiert? Avicenna formuliert einen Beweis, in dem er argumentiert, dass alles, was existiert, eine zwingend notwendige Ursache benötigt. Der Unterschied zwischen dir, mir, meinem neuen Stuhl hier und Gott ist, dass wir - auf arabisch würde man sagen - mumkin sind, was so viel bedeutet wie möglich oder kontingent."

Gott - das "notwendig Seiende"

Und das gilt für alles, was existiert, außer für wajib al-wujud, "das notwendig Seiende", Gott. Dazu Peter Adamson: "Der grundlegende Unterschied zwischen Gott und allem anderen, was existiert, besteht für Avicenna darin, dass Gott existieren muss. Alles andere kann existieren, aber das ist keine zwingende Notwendigkeit. Und wenn etwas existiert, dann nur, weil Gott es ermöglicht. Diesen Gedankengang findet man so nicht bei den neuplatonischen Vorbildern. Es ist eine Neuerung und eine von Avicennas einflussreichsten Ideen."
Avicenna verwendete große Mühe darauf zu zeigen, dass "das notwendig Seiende" alle Eigenschaften hat, die der Islam Gott zuschreibt. Doch gerade das führte bei späteren Theologen wie al-Ghazali zu vehementem Widerspruch.
"Sie geben Avicenna zwar recht darin, dass Gottes Existenz zwingend notwendig ist, aber sie glauben nicht, dass Gott all das, was er tut, auch zwingend tun muss. In ihrem Denken hat Gott also einen freien Willen."
Trotz dieses Widerspruchs - Avicennas Gottesbeweis und viele seiner Ideen hatten im Mittelalter immensen Einfluss auf Philosophen aller Glaubensrichtungen.

Einer der einflussreichsten Philosophen

Was Peter Adamson "wirklich bemerkenswert" findet: "Sowohl in der arabischen als auch in der lateinischen Philosophie des Mittelalters finden unabhängig voneinander ähnliche Debatten statt. In Thomas von Aquins Metaphysik zum Beispiel gibt es eine Geschichte darüber, wie Gott sich zum Rest des Universums verhält. Und es gibt Philosophen aus der islamischen Welt, die 100 Jahre zuvor fast genau das gleiche erzählt haben. Thomas von Aquin kannte deren Texte nicht, aber beide haben Avicenna gelesen."
Avicenna führte Probleme und Konzepte ein, die Philosophen und Theologen nach ihm aufgreifen oder kritisieren konnten. Sich mit ihnen auseinanderzusetzen war jedoch unausweichlich. Sein Denken und sein Vokabular durchdringen deshalb auch die Philosophie und Mystik der islamischen Welt bis heute. Für Peter Adamson ist Ibn Sina darum einen der einflussreichsten Philosophen des Mittelalters.
"Es gibt nur wenige Philosophen, die so prägend waren, dass die darauffolgenden Philosophen geradezu gezwungen waren, auf sie zu antworten. Da kommen einem Namen wie Plato, Aristoteles, Plotin für die Spätantike in den Kopf - oder Kant für die deutsche Philosophie. Und Avicenna ist einer von diesen Philosophen."