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Islamismus
Differenzierter Blick auf dschihadistische Bewegungen

Anders als die Weltöffentlichkeit war der irische Journalist Patrick Cockburn von der Entwicklung im Irak und in Syrien nicht überrascht. Schließlich schreibt er seit Jahrzehnten über die Region. Sein Buch "The Jihadis Return" bietet einen tiefen Einblick in die Strukturen der verschiedenen islamistischen Bewegungen und ihre Beziehungen untereinander.

Von Martin Zähringer | 15.09.2014
    Unterstützer der Terrorgruppe IS während einer Demonstration in Syrien.
    Patrick Cockburn erläutert den systematischen Aufmarsch der IS-Milizen, die konkreten Beziehungen zwischen Dschihadistengruppen wie Ahrar al-Sham und der Army of Islam. (afp / Karam Al-Masri)
    Was die Überraschung über den Vormarsch der Dschihadisten angeht, so liefert Patrick Cockburn zunächst eine provokante These in eigener Sache:
    "Kriegsberichterstattung ist einfacher als andere Typen von Journalismus: Das Melodram der Ereignisse ist fast schon die Geschichte und fesselt das Publikum von allein."
    Deshalb gäbe es andauernd Nachrichten über Gefechte und Attentate, was wiederum auch die Propagandastrategen der Dschihadisten wüssten. Die Medien würden sich an diesen Ereignissen aufhängen und dabei die politische Aufklärung versäumen:
    "Dabei sind irreguläre oder Guerillakriege immer immens politisch, und gerade die besonderen Stop-and-Go Konflikte nach 9/11. Das soll nicht heißen, was auf den Schlachtfeldern geschieht ist unwichtig, aber es erfordert Erklärungen."
    Patrick Cockburn kennt sich auf den Schlachtfeldern des Mittleren Ostens aus und berichtet seit Jahrzehnten von dort. Aber auf diesen faktengesättigten 140 Seiten bringt er auch Erklärungen. Er erläutert den systematischen Aufmarsch der IS-Milizen, die konkreten Beziehungen zwischen Dschihadistengruppen wie Ahrar al-Sham und der Army of Islam und wie diese mithilfe arabischer und westlicher Geheimdienste koordiniert oder manipuliert wurden.
    Erklärt werden die Verbindungen zwischen Hisbollah und dem syrischen Präsidenten Assad oder auch zwischen der salafistischen Al-Nusra Front und Al Kaida. Cockburn nennt die Namen der Akteure und beschreibt die Entstehung des IS aus Al Kaida im Irak und dem stetigen personalen Zuwachs aus einem von der Türkei nicht behinderten türkisch-syrischen Grenzverkehr.
    Als religionspolitisches Motiv, das den sunnitischen Dschihadisten Vorschub leistet, erscheint in Cockburns Analyse der Großkonflikt zwischen konservativen und extremistischen Schiiten und Sunniten. Die staatlichen Hauptakteure sind hier Saudi-Arabien und Pakistan auf der sunnitischen Seite - Iran und al-Malikis Regime in Irak auf der schiitischen Seite. Eine treibende Rolle für den Aufschwung der sunnitischen Militanz spiele der wahabitische Islamismus saudi-arabischer Prägung:
    "Die Wahabitisierung des sunnitischen Islam ist eine der gefährlichsten Entwicklungen in unserer Zeit."
    Aufstieg der IS wurde Cockburn prophezeit
    Das geopolitische Motiv für den IS-Vormarsch – das ist weniger überraschend in Cockburns Analyse – ist das Scheitern der westlichen Interventionen. So hätten ihm irakische Offiziere schon vor zwei Jahren den rasanten Aufstieg des IS prophezeit - die Unterstützung der syrischen Rebellion durch den Westen würde auf lange Sicht zur Destabilisierung des Irak führen, lautete die Prognose. Inzwischen negieren die Dschihadisten bereits die Existenz der Staaten Irak und Syrien. Cockburn benennt den Grund für diese Situation folgendermaßen:
    "Der Krieg gegen den Terror ging verloren, weil er die dschihadistische Bewegung nicht als Ganzes ins Visier genommen hat und vor allem, weil er nicht gegen Saudi-Arabien und Pakistan gerichtet war, die beiden Länder, die den Dschihadismus als einen Glauben und eine Bewegung herangezüchtet haben."
    Das Scheitern westlicher Politik weckt das Hauptinteresse der meisten Rezensenten dieses Buches. So eröffnet Edward Wilson in der englischen Tageszeitung "The Independent" genau mit diesem Tenor:
    "Der tiefste Grund des westlichen Versagens seit 9/11 ist Washingtons Unwille, der politischen und finanziellen Macht Saudi Arabiens zu trotzen."
    Wilson widmet sich ausführlich dem Debakel in Syrien, wo der IS nun jene Waffen schwinge, die der Westen für die Opposition gegen Assad geliefert habe. Denis Staunton schreibt in der Irish Times:
    "Der irische Journalist Patrick Cockburn liefert zur rechten Zeit einen immens wertvollen Beitrag zum Aufstieg des ISIS. Und einen Katalog westlicher Verfehlungen, die dazu beitrugen, diese neue dschihadistische Bedrohung heraufzubeschwören."
    Der Schweizer Nahostexperte Arnold Hottinger erkennt insbesondere die Korruption in der irakischen Armee als tragendes Thema und publiziert im Onlineforum "Journal 21":
    "Cockburn beschreibt, was diese Korruption für die mit Milliardenbeträgen von den Amerikanern aufgestellte und ausgerüstete Armee bedeutete. Die oberen Offizierstellen waren käuflich. Man musste Hunderttausende oder Millionen von Dollars hinlegen, um sie zu bekommen."
    Die irakischen Offiziere holten sich ihr Geld später zurück, indem sie Sold für Truppen kassierten, die es gar nicht gibt. Cockburn zufolge seien auch die so entstandenen falschen Zahlen über die Armeestärke ein Grund dafür, dass die Millionenstadt Mosul in die Hände von ein paar tausend Dschihadisten fallen konnte. Außerdem können sich die Extremisten oftmals in einer demoralisierten Bevölkerung verankern. Die Ursachen für derartige Demoralisierung erklärt uns dieses aufschlussreiche Buch so: Sie liegen in einer komplexen Dynamik von religiösem Konservativismus und Extremismus vor Ort, interner Korruption und externer Interventionspolitik ohne wirkungsvolles Konzept.
    Patrick Cockburn: "The Jihadis Return. ISIS and the New Sunni Uprising"
    O/R Books New York – London, 144 S., ca. 12 Euro
    ISBN: 978-1-939-29359-6