Auf die jüngste Eskalation der Lage im Nahen Osten gab es vielfältige Reaktionen. In einigen Fällen waren sie islamistisch aufgeladen. So meldet etwa das hessische Bildungsministerium 14 bekanntgewordene, islamistisch motivierte Vorfälle im Jahr 2023. Ein Großteil steht demnach im Zusammenhang mit dem Terrorangriff der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Auch andere Bildungsministerien meldeten einen Anstieg solcher Vorfälle.
Vor allem auf TikTok nehmen Prediger und Influencer den Nahostkonflikt zum Anlass, junge Menschen von ihrer Ideologie zu überzeugen. Die Mechanismen der religiösen Radikalisierung ähneln dabei oft jenen im politischen Bereich - ebenso die Hilflosigkeit, die sich im familiären und schulischen Umfeld von sich Radikalisierenden einstellt. Unterstützung bieten Anlaufstellen mit Beratungsangeboten.
Welche Plattformen nutzen Islamisten bevorzugt?
Um Mitglieder zu werben und ideologische Überzeugungsarbeit zu leisten, wählen islamistische Akteure verschiedene Wege. Nachfolgeorganisationen der verbotenen Kalifatsbewegung "Hizb ut-Tahrir (HuT)" (Arabisch für: "Partei der Befreiung") etwa versammelten sich im April 2024 zu Kundgebungen. Eine Demonstration in Hamburg erlangte besondere mediale Aufmerksamkeit. Sie war nach Angaben des Hamburger Verfassungsschutzes von einer der Organisation „Muslim Interaktiv (MI)“ nahestehenden Person angemeldet worden. Auf einem Plakat war zu lesen "Kalifat ist die Lösung".
Bündnisse, wie MI, das als "gesichert extremistisch" eingestuft ist, knüpfen damit an Botschaften der HuT an. Neben analogen Veranstaltungen versuchen sie auch und gerade über soziale Netzwerke möglichst viele junge Menschen für ihre Zwecke zu mobilisieren und ihre Bekanntheit zu steigern. Anfang Juli 2024 hatte "Muslim Interaktiv" auf TikTok mehr als 26.000 Follower.
"Tiktokisierung des Islamismus“
Weitere islamistische, vor allem salafistische Akteure sowie säkulare extremistische Gruppierungen wissen ebenfalls soziale Plattformen für ihre Ziele zu nutzen. Ganz vorn, um junge Leute zu erreichen, ist TikTok, das vom chinesischen Technologie-Startup ByteDance betriebene Portal für Kurzvideos.
"Bei der medialen Inszenierung im Islamismus spielt insbesondere die Kurzvideo-Plattform TikTok eine zentrale Rolle. Gerade Islamisten machen sich die Wirkungsweise dieser Kurzvideo-App zunutze. Der Verfassungsschutz nennt diesen Trend die ‚Tiktokisierung des Islamismus‘", wie es in einer Vorab-Veröffentlichung aus dem Verfassungsschutzbericht des Landes Brandenburg 2023 vom April 2024 heißt.
Besonderheiten von TikTok
Warum gerade TikTok so attraktiv für Extremisten ist, wird in der Veröffentlichung auf zwei Aspekte zurückgeführt: Zum einen auf den großen Nutzerkreis und die daraus resultierenden möglichen Reichweiten. Zum anderen auf die "Themengebundenheit bei der Auswahl der Videos durch Algorithmen der Plattform", heißt es im Verfassungsschutzbericht des Landes Brandenburg für 2023.
Dabei wirken auch andere soziale Netzwerke und Videoplattformen wie Instagram und YouTube als Scharnier im Wechselspiel von analoger und virtueller Welt. Dort finden junge Menschen ebenfalls Angebote, die zu einer Radikalisierung führen können. In TikTok allerdings sieht der Verfassungsschutz von Brandenburg einen „Brandbeschleuniger“ für Radikalisierungsprozesse.
Wie bekommen Islamisten die Aufmerksamkeit der Jugendlichen?
Islamistische Akteure erreichen junge Menschen auf zweierlei Art in sozialen Netzwerken: Zu salafistischen Gruppierungen zählende TikTok-Prediger etwa fokussierten sich darauf, Antworten auf Fragen von Kindern und Jugendlichen zu geben, die diese niemandem in ihrem persönlichen Umfeld stellen wollten, sagt Casper Dudek. Er ist einer der Autoren der im Juni 2024 veröffentlichten SWR-Dokumentation "Kalifat in der Schule? – Wie gefährlich ist der Hype um Hassprediger?". Häufig drehten sich diese Fragen darum, was im Islam erlaubt oder was verboten sei.
Die Fragen der Jugendlichen werden in vereinfachter Form von Predigern in 30 Sekunden abgehandelt. Meryem Tinc, Islamwissenschaftlerin und Beraterin beim "Violence Prevention Network" (VPN), nennt das eine "Entkomplexifizierung", eine "Vereinfachung", was die Influencer, die sie auch als "Predigencer" bezeichnet, auf der Plattform machten.
"Das ist natürlich attraktiv - attraktiver, als sich vielleicht ein Buch anzulesen oder einen Artikel zu lesen und sich mit verschiedenen Meinungen zu befassen", so Meryem Tinc vom VPN. Ein derartiges theologisches Angebot führe häufig zum Erstkontakt. Erst später tauchten über den Algorithmus der Plattform radikale Inhalte auf. Zu diesem Ergebnis kommen auch die SWR-Recherchen des Teams um Casper Dudek.
Zweite Strategie: Professionelle Videos
Zum anderen gebe es auch Akteure, die "als eine Art Lifestyle-Stimme der jungen muslimischen Community gesehen werden möchten, mit High-End-Videos auf YouTube, die eher an Rap- oder Musikvideos erinnern", so SWR-Autor Dudek.
Für Meryem Tinc geht es weniger um Lifestyle: "Ich würde sagen, Popkultur spielt da mehr eine Rolle. Lifestyle würde ich auf Äußerlichkeiten beziehen." Es komme dann zu einer Mischung mit problematischen Narrativen. Mit Namen bestimmter Popgrößen lassen sich Klicks erzielen, die neue Follower zu Angeboten von Islamisten führen. Die Videos von "Muslim Interaktiv" fallen eher in diese Kategorie.
Welche Anzeichen für Radikalisierung gibt es?
Nicht jede oder jeder, die oder der sich TikTok-Videos von islamistischen Predigern ansieht, radikalisiert sich. Oft seien Lehrkräfte oder Eltern verunsichert, ab wann von einer Radikalisierung auszugehen sei, erläutert Meryem Tinc, Beraterin beim "Violence Prevention Network". Ein "Allahu akbar"-Ruf könne gegebenenfalls als Provokation zu werten sein. Man müsse den Einzelfall betrachten und schauen, welche Bedürfnisse hinter dem Verhalten junger Leute steckten.
Ein konkreteres Anzeichen für eine mögliche Radikalisierung ist laut der Islamwissenschaftlerin die Isolation von Jugendlichen - wenn sie sich etwa von ihren Freunden abwendeten. Außerdem könne die plötzliche Veränderung des Kleidungsstils ein Indiz sein.
Genauer hingeschaut werden sollte auch dann, wenn beispielsweise Jungen mit muslimischem Background von Mädchen verlangten, ein Kopftuch zu tragen, um richtige Musliminnen zu sein oder im Politikunterricht terroristische Ereignisse schöngeredet werden würden, sagte Alexander Schepp, stellvertretender Leiter von "beRATen e.V.", einer Beratungsstelle zur Prävention neo-salafistischer Radikalisierung in Hannover.
Wo finden Betroffene und ihr Umfeld Unterstützung?
Wer sich Sorgen macht, dass sich junge Menschen aus dem eigenen Umfeld radikalisiert haben könnten oder womöglich dabei sind, sich zu radikalisieren, der kann sich an Beratungsstellen wenden. Viele dieser Angebote werden aus dem Bundesprogramm "Demokratie leben!" finanziert. Ratsuchende finden eine Übersicht von Anlaufstellen auf der Internetseite des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) "Beratungsstelle-Radikalisierung.de".
Das dort verzeichnete "Violence Prevention Network" bietet beispielsweise Fortbildungen für Lehrkräfte zum Thema an. Auch mit Schülerinnen und Schülern werde gearbeitet, dann aber primär präventiv. "Das heißt, wir machen eher allgemeinere Themen, und wir sprechen nicht direkt über Radikalisierung", erklärte Meryem Tinc vom VPN.
Bei "beRATen e.V." in Hannover melden sich Eltern, Verwandte, Freunde, Sporttrainerinnen und -trainer und Lehrkräfte. Sofern mit Schulklassen gearbeitet werde, gehe es „um soziale Werte, das Zusammenleben in einer Klasse. Da geht es um kulturelle, religiöse Fragen, die angesprochen werden können. Und wir schauen immer, dass wir die jungen Menschen emotional abholen. Das tut ja die andere Seite, die salafistische Seite auch“, so Harry Guta, Teamleiter bei "beRATen e.V".
Was müsste außerdem passieren?
Die Gefahr, die von islamistischer Propaganda ausgeht, besteht nicht erst seit dem jüngsten Gaza-Krieg und dem Überfall der Hamas auf Israel. Sie habe aber seitdem zugenommen, so das Ergebnis der SWR-Recherchen für den Film "Kalifat in der Schule?". Eine Maßnahme, damit die Propaganda nicht mehr so leicht verfange, wäre, die Medienkompetenz weiter zu fördern. Dafür plädiert etwa die Extremismusexpertin Claudia Dantschke.
Auch die SWR-Dokumentation tritt dafür ein. Sie schließt mit dem Appell, dass das Internet nur dann zu einem sichereren Raum für Jugendliche werden kann, wenn gelernt wird, mit seinen Inhalten umzugehen: "Und das schon so früh wie möglich: Im Elternhaus, in den Moscheen, in der Schule, in der Gesellschaft. Damit die Gefahr geringer wird, dass junge Menschen sich radikalisieren."