Montag, 20. Mai 2024

Kommentar zum Nahostkrieg
Versunken in Schmerz und Selbstgewissheit

Je heftiger die Kämpfe in Nahost, desto tiefer werden die Gräben an hiesigen Küchentischen, Universitäten und in sozialen Medien, meint Korbinian Frenzel. Wichtig sei nun die Verständigung auf einige Grundwerte und eine Zivilisierung der Debatte.

Ein Kommentar von Korbinian Frenzel | 18.11.2023
Teilenehmende einer Demonstration gegen den israelische Militäreinsatz im Gaza-Streifen infolge der Terrorangriffe der Hamas halten Plakate hoch.
Berlin im November 2023: Eine von vielen Demonstrationen in Deutschland gegen den israelische Militäreinsatz im Gaza-Streifen infolge der Terrorangriffe der Hamas. (picture alliance / ZUMAPRESS.com / Michael Kuenne)
Gibt es etwas, das Palästinenser und Israelis in diesen Tagen vereint? Beide Seiten seien „versunken im Schmerz” und dadurch nicht in der Lage, das Leid der Gegenseite anzuerkennen: Diese Analyse stammt vom israelischen Historiker und Bestseller-Autor Yuval Noah Harari. Und er verbindet sie mit einem Appell, gerade an uns Deutsche: „Seid nicht denkfaul! Seht nicht nur einen Teil dieser schrecklichen Wirklichkeit.”

Austauschbare gegenseitige Vorwürfe

Gelingt uns das, was Harari gesagt hat? Die Debattenwirklichkeit hierzulande gibt leider keine gute Antwort. Je heftiger die Kämpfe in Nahost, desto tiefer scheinen die Gräben auch hier, an Universitäten, an Küchentischen und vor allem in den sozialen Medien zu sein. Allzu viele scheinen auch hier versunken im Schmerz. Oder vielleicht auch nur versunken in Selbstgewissheit?
Es ist dabei interessant zu sehen, wie austauschbar die gegenseitigen Vorwürfe sind: Mangel an Empathie – ja, das passt als Vorwurf an jene, die allzu schnell die schrecklichen Hinrichtungen von 1200 Israelis durch die Hamas vergessen zu haben scheinen. Das funktioniert aber auch als Kritik an den Verteidigern der israelischen Angriffe, die die vielen zivilen Opfer im Gaza-Streifen als Kollateralschaden zu akzeptieren gewillt sind.
Wo hat die Gewalt ihren Ursprung, wer müsste die berühmte Gewaltspirale durchbrechen? Während die einen Israel adressieren, meinen die anderen die Hamas. Was selten passiert: echtes Zuhören, aufeinander eingehen, geschweige denn aufeinander zugehen.

Verständigung auf einige Grundsätze nötig

Kann es uns noch gelingen, einen Raum für gegenseitiges Verständnis offenzuhalten? Nicht in Denkfaulheit zu verharren? Ja, wenn wir es schaffen, uns auf einige Grundsätze zu verständigen: Auf einen radikalen Humanismus, der das Leben eines einzelnen Menschen ungeachtet der Herkunft als gleichwertig und schützenswert ansieht – und damit jeden Terror ablehnt, wie aber auch staatliche, militärische Gewalt, wenn sie im Zweifel steht, den Boden des Rechts zu verlassen und willkürlich wird.
Nicht denkfaul sein bedeutet, genau zu bleiben. Es darf kein Debatten-Appeasement geben auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, Gewalt sei immer falsch, egal, von wem sie komme. Es gibt einen Unterschied zwischen Terror und der Antwort auf Terror – auch wenn die Art der Antwort kritikwürdig sein mag.

Auch Demokratien können irren

Nicht denkfaul sein heißt, Opfererzählungen zu misstrauen. Wer glaubt, der vermeintlich Schwächere sei grundsätzlich im Recht, vergisst häufig, sich das Handeln und Agieren des Schwächeren genau anzuschauen. Zu einfach ist aber auch der Verweis auf Israel als einziger Demokratie im Nahen Osten. Es stimmt zwar, aber auch Demokratien können irren.
Nicht denkfaul sein heißt, zu prüfen, was alles mitschwingen mag, wenn Position bezogen wird: Ist es das Mitgefühl mit der einen Seite – oder vielleicht doch eher die Ablehnung der anderen? Verstecken sich in der Solidarität mit Israel manchmal auch Rassismus oder Ressentiments gegen Araber und Muslime? Wie oft ist dagegen Antisemitismus der Antrieb, wenn es vordergründig um Kritik an Israels Regierung geht? Wir sollten die Fragen übrigens nicht nur anderen stellen, sondern immer auch uns selbst.

Kampf gegen Antisemitismus als Elitenprojekt

Gerade die Politik steht in der Verantwortung, Raum zu schaffen für gegenseitiges Verständnis. Die klare Positionierung der Regierung wie auch fast der gesamten Opposition an der Seite Israels ist richtig. Aber sie ist eben ganz offensichtlich nicht selbstverständlich.
Wenn die Reaktion der Politik vor allem in einer mantra-artigen Wiederholung der richtigen und wichtigen Bekenntnisse liegt, ohne ernsthaft in - auch vielleicht schmerzhafte - Debatten zu gehen, droht dauerhafte Gefahr, dass die Solidarität mit Israel und der Kampf gegen Antisemitismus eines Tages ein reines Elitenprojekt wird – zu wenig verankert in der Bevölkerung.
Ein Gefühl der Machtlosigkeit angesichts der Gewalt ist schließlich das, was uns alle vereint. Das wenige, was wir tun können, liegt in der Zivilisierung unserer Debatten. Wenn wir es hier, fast 4000 Kilometer vom eigentlichen Konflikt entfernt, nicht schaffen, woher soll dann die Hoffnung kommen, dass es eines Tages in Nahost gelingt?