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Israel
Besuch der Hölle im besetzten Land

Der israelische Journalist Nir Baram schrieb zahlreiche Reportagen über die Westbank, über Orte hinter der Mauer in Ost-Jerusalem. Diese hat er nun in einem Buch zusammengefasst. Seine Erkenntnis: Die Verflechtung zwischen Palästinensern und Israelis ist unumkehrbar - womit viele internationale Friedensinitiative von Anfang an von den falschen Voraussetzungen ausgehen.

Von Peter Kapern | 22.02.2016
    Ein arabischer Junge fährt im Osten Jerusalems auf einem Rad am Trennwall zwischen Israel und dem palästinensischen Gebiet entlang.
    Ein arabischer Junge am Trennwall zwischen Israel und dem palästinensischen Gebiet in Ost-Jerusalem. (picture alliance / dpa / Oliver Weiken)
    Die Hölle auf Erden hat Nir Baram gleich hinter der Mauer gefunden. Ras Khamis heißt der Ort. Er ist ein Teil Ost-Jerusalems, aber von Jerusalem trennt ihn die zwölf Meter hohe Mauer, die die israelische Regierung zum Schutz vor Terroranschlägen gebaut hat. Hier, hinter der Mauer, funktioniert die Kanalisation nicht, die Straßen gleichen einer Kraterlandschaft, eingefasst von Müllbergen, weil die Müllabfuhr nicht kommt. Es gibt kein Amt, keine Behörde, abgesehen von den Steuereintreibern, die von der anderen Seite der Mauer hierher geschickt werden.
    "Von der Stadt angeheuerte Subunternehmer streifen durch die Viertel, klopfen an die Türen der Bewohner und präsentieren Zahlungsaufforderungen. Und wenn denen jemand nicht nachkommt – die allermeisten tun es nicht –, muss er damit rechnen, demnächst am Checkpoint festgenommen zu werden."
    Und diese Checkpoints muss jeder Einwohner von Ras Khamis passieren, wenn er nach Jerusalem, in seine Heimatstadt, will. Zur Arbeit, zum Einkaufen, oder um sich vom Nachbarn nach einem Herzinfarkt ins Krankenhaus fahren zu lassen. Denn Krankenwagen, die kommen auch nicht nach Ras Khamis.
    "Ich habe bei meinen Recherchen Orte in Jerusalem gesehen, die waren schrecklicher als jeder andere Ort, den ich jemals in meinem Leben gesehen habe. Schlimmer als in jedem Drittweltland, das ich besucht habe. Vor allem in jenen Teilen Ost-Jerusalems, die hinter der Sperrmauer liegen. Niemand im restlichen Israel glaubt, dass Menschen dort unter solchen grauenvollen Bedingungen leben müssen."
    Nir Baram engagiert sich politisch
    Sagt Nir Baram, mit 40 Jahren schon ein weit über Israel hinaus bekannter Schriftsteller. Sein Vater und sein Großvater waren Kabinettsmitglieder, als die Arbeitspartei noch ein Abonnement auf die Führung der israelischen Regierung zu haben schien. Und auch Nir Baram engagiert sich politisch. Er zählt zu den schärfsten Kritikern der israelischen Besatzung des Westjordanlands. Aber genau so schneidend ist seine Kritik an der israelischen Linken, am liberalen Milieu Tel Avivs, das sich seiner Meinung nach zwischen Larmoyanz und Ignoranz eingerichtet hat und an den Friedensplänen der 1990er-Jahre festhält, die Nir Baram längst für überholt hält.
    "Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete", so lautet der Untertitel seines Buchs. Ein simpler Satz mit einem komplexen Hintergrund. Denn jüdische Israelis reisen nicht in die besetzten Gebiete. Es sei denn, sie tragen die Uniform der Besatzer. Oder sie zählen zu den Siedlern, die das Westjordanland allerdings nicht als besetztes Land betrachten, sondern als ihres. Nir Baram also ist dorthin gereist für die liberale israelische Tageszeitung "Haaretz", in der die meisten der in diesem Buch versammelten Reportagen veröffentlicht worden sind. Klassische Aufklärungsarbeit, denn Baram hat festgestellt ...
    "... dass die überwiegende Mehrheit aller Israelis keine Ahnung hat, wie das Leben auf der Westbank aussieht. Die meisten sind noch niemals dort gewesen. (Man) könnte meinen, wir reden über einen theoretischen, nebulösen Ort, der in unserer politischen Vorstellung nur vage existiert, so, wie wir über die Bürgerkriegsschauplätze in Syrien oder Kongo reden."
    Nir Baram hat Palästinenserdörfer besucht, die regelmäßig von jüdischen Siedlern überfallen werden, während das israelische Militär wegschaut. Er hat Palästinenser getroffen, die eine Versöhnung mit den Israelis für ganz und gar unmöglich halten. Und andere Palästinenser, die für genau diese Versöhnung arbeiten, obwohl sie viele Jahre in israelischen Gefängnissen gesessen haben. Warum, das mögen sie ihm nicht erzählen. Und Nir Baram hat den Siedlerfunktionär Dany Dayan getroffen, der sich selbst als Maximalzionist bezeichnet:
    "Es geht hier um zwei wahre Narrative", sagt er, "und nicht einmal König Salomon hätte zwischen ihnen urteilen können. Wir sagen, das ist unser Land. Die Palästinenser sagen, König David hat es vielleicht gegeben, vielleicht aber auch nicht. Ihr seid nichts anderes als eine Kolonisationsbewegung. Zwischen diesen beiden Narrativen kann es keinen Kompromiss geben und der Konflikt ist erst beendet, wenn eine Seite auf ihre Ansprüche verzichtet."
    Längst gibt es starke Verflechtungen
    Dass eine der beiden Seiten dazu bereit sein könnte, dafür findet Nir Baram allerdings keinerlei Anhaltspunkte. Von Reportage zu Reportage wird deutlicher: Auf diesem Fleckchen Erde ist längst zusammengewachsen, was ursprünglich nicht zusammengehören sollte. Israelische Araber kaufen in der Westbank ein, Palästinenser aus den besetzten Gebieten arbeiten in Israel. Würden diese Verbindungen gekappt, wäre dies der wirtschaftliche Zusammenbruch der Palästinensergebiete. Genauso wenig lassen sich nach Barams Erfahrungen die palästinensischen Dörfer und Städte der Westbank noch von den jüdischen Siedlungen trennen:
    "Sie sind überall, nicht nur in den großen Siedlungsblöcken, sie sind einfach überall, egal, über welche Straße man durch das Westjordanland fährt, überall sieht man die Siedlungen. Wir sind also nicht mehr in den 1990er-Jahren, wir haben es 2016 mit einer neuen Realität zu tun, in der sich hunderte und aberhunderte Siedlungen überall im Westjordanland finden. Und in denen leben hunderttausende Siedler. Juden und Palästinenser leben dort also miteinander total vermischt. Und ich kenne einfach keine politisch umsetzbare Idee, wie man diese Siedler aus dem Westjordanland wieder herausbekommen könnte."
    Aufbauend auf dieser Erkenntnis schält sich aus Nir Barams Reportagen immer deutlicher sein politisches Projekt heraus. Two States - One Land. So nennt sich eine palästinensisch-israelische Initiative, bei der Nir Baram mitarbeitet. In der deutschen Übersetzung des Buchs wird daraus der Begriff: Zwei Völker – Eine Heimat. Das trifft Barams Ansichten noch besser.
    Versuch einer Grundsatzdefinition
    Schließlich legt er sich nicht fest auf ein konkretes, staatliches Modell für die Post-Konflikt-Zeit. Ihm geht es darum, zunächst einmal Grundsätze für eine gemeinsame Zukunft von Israelis und Palästinensern zu definieren.
    Erstens: das Ende der Besatzung. Und zweitens: die völlige rechtliche Gleichstellung von Israelis und Palästinensern. Diese Gleichstellung umfasst auch das, was innerhalb der EU als Freizügigkeit bezeichnet wird: Jeder Mensch, ganz gleich ob Palästinenser oder Israeli, darf frei über seinen Wohnsitz entscheiden. Und niemand wird gezwungen, sein Haus zu verlassen. So stünde dem Recht der Palästinenser aus dem Westjordanland, in jene Orte zurückzukehren, aus denen ihre Vorfahren 1948 im Unabhängigkeitskrieg vertrieben wurden, das Recht der Israelis gegenüber, an jedem beliebigen Ort im Westjordanland zu leben. Ob diese Grundsätze im Rahmen einer Konföderation, in zwei oder in einem Staat umgesetzt werden, ist nach Barams Auffassung zweitrangig.
    "Um die für eine Lösung des Konflikts erforderlichen Bedingungen zu schaffen, ist eine moralische Umwälzung innerhalb der israelischen Gesellschaft vonnöten, basierend auf der Akzeptanz eines einfachen Grundsatzes: In einem gemeinsamen Staat, in zwei Staaten oder in einer Konföderation müssen Jude und Nichtjude in allen Belangen gleichgestellt sein. Genau das - und nicht zwei Staaten oder ein Staat – ist das Prinzip, das durch keinen Kompromiss angetastet werden darf."
    Nir Baram schreibt nicht nur glänzende Reportagen. Er lenkt sehr überzeugend den Blick darauf, dass die Konzepte einer strikten Trennung von Israelis und Palästinensern, die in Oslo, in Washington und Taba ersonnen wurden, von der Realität längst überholt sind. Eine wichtige Botschaft auch für Europas Diplomaten.
    Er findet auf seinen Reisen durch die Westbank kleine Modellprojekte für das gleichberechtigte Miteinander von Juden und Palästinensern, die sicher nicht mehr sind als ein Hoffnungsschimmer. Aber auch nicht weniger. Und das ist schon viel in einer Zeit, in der es nur noch eine einzige Alternative zu völliger Gleichberechtigung von Juden und Arabern zu geben scheint: Einen Apartheidstaat, in dem Palästinenser als Bürger zweiter Klasse leben.
    Buchinfos:
    Nir Baram: "Im Land der Verzweiflung. Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete", Hanser Verlag, Übersetzung: Markus Lemke, 317 Seiten, Preis: 22,90 Euro