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Israel
Einhundert Jahre Balfour-Deklaration

Sein Name ist bis heute Programm: Am 2. November 1917 unterschrieb der damalige britische Außenminister Lord Balfour eine Erklärung, in der er den Juden in aller Welt ein eigenes Land versprach. Die Balfour–Declaration gilt als Basis für die Gründung des Staates Israel 1948. Sie brachte aber auch den Konflikt mit den Palästinensern hervor.

Von Ina Rottscheidt | 30.10.2017
    Blick über die Judäische Wüste bei Ein Bokek in der Nähe des Toten Meeres in Israel. Die 1.500 Quadratkilometer große judäische Wüste liegt zwischen den Hügeln von Judäa und dem Toten Meer und ist eine Regenschattenwüste.(Hintergrundbild) Buchcover (Vordergrundbild)
    Was war die Intention dieser Balfour-Erklärung? Warum unterstützte Großbritannien die Vision von der "jüdischen Heimstätte"? Das sind die Fragen, denen Rolf Verleger in seinem Buch nachgeht. (dpa /picture alliance /Peer Grimm & Westend Verlag)
    Es ist der 2. November 1917, als der britische Außenminister Lord Balfour eine Erklärung mit weitreichenden Folgen unterzeichnet:
    "Die Regierung Seiner Majestät betrachtet die Einrichtung eines nationalen Heims in Palästina für das jüdische Volk mit Wohlwollen und wird ihre besten Bestrebungen einsetzen, um das Erreichen dieses Ziels zu ermöglichen."
    In einem Brief an den britischen Zionisten Lord Rothschild verspricht er den Juden einen eigenen Staat in Palästina, das damals noch zum Osmanischen Reich gehörte.
    Was war die Intention dieser Erklärung? Warum unterstützte Großbritannien die Vision von der "jüdischen Heimstätte"? Und warum sprach sich der damals einzige Jude im britischen Kabinett gegen diese Erklärung aus? Das sind die Fragen, denen Rolf Verleger in seinem Buch: "Hundert Jahre Heimatland? Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus" nachgeht.
    Die Motivation der Briten
    Dabei beschreibt er zunächst detailreich den historischen Kontext: Angefangen im frühen Mittelalter bis zu den Anfängen des 20. Jahrhunderts machen seine Beispiele deutlich: Antisemitismus, Verfolgung und Diskriminierung ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Juden. Sie waren auch die Kehrseite des entstehenden Nationalismus im 19. Jahrhundert: "Hass auf diejenigen, die als nicht zugehörig definiert wurden, und das war vor allem die jüdische Minderheit. Im Zarenreich war diese Kehrseite besonders heftig, weil die zaristische Herrschaft ganz bewusst die Juden in vielerlei Hinsicht rechtlos hielt und den Volksmassen gerne als Hassobjekt überließ. 1903 bis 1906 sind die Jahre der großen Pogrome: Mehrere tausend Juden wurden getötet, Hunderttausende Juden verließen das Zarenreich."
    Gut die Hälfte aller Juden weltweit lebte damals im russischen Zarenreich, das waren rund vier Millionen. Infolge der Pogrome erhält die Idee, wie sie unter anderem Theodor Herzl 1896 in seinem Buch "Der Judenstaat" formuliert hatte, Aufwind. Den Briten kam das gerade recht:
    "Wenn es den Zionismus nicht gegeben hätte, hätte Großbritannien ihn erfinden müssen."
    Seit 1880 waren weit über 100.000 Flüchtlinge aus dem Zarenreich nach Großbritannien gekommen und die Wirren im Vorfeld der russischen Revolution 1917 ließen noch weitere erwarten. Die Balfour-Erklärung war also keineswegs ein menschenfreundlicher Akt der Briten, sie diente Großbritannien vor allem dazu, sich die Flüchtlinge von Hals zu halten:
    "Darum wurde die Balfour-Deklaration 1917, mitten im Krieg ausgesprochen. Denn Großbritannien passte seine imperialen Interessen geschmeidig dem von den USA ausgehenden Zeitgeist an. Es ließ sich nach Kriegsende vom Völkerbund, also den USA, Frankreich und den anderen Siegermächten des Ersten Weltkrieges ein Mandat geben, um einer zivilisatorischen Aufgabe von Jahrtausenddrang nachzugehen: Dem jüdischen Volk eine nationale Heimstätte in Palästina zu schaffen. Dass die Durchsetzung dieses Mandats an der rechten Flanke des Sues-Kanals stattfand, war dabei nicht eine willkommene Zufälligkeit, sondern Hauptzweck des Unternehmens."
    Und da macht Verlegers das zweite Motiv für die Balfour-Erklärung aus: Ein Palästina unter britischer Kontrolle war die ideale Verbindung nach Indien, der wichtigsten britischen Kolonie. Und der Sues-Kanal, die Hauptader des britischen Handels mit Asien, sollte dadurch ebenfalls sicherer werden. So versprach London, was es eigentlich gar nicht versprechen konnte: Eine nationale Heimstätte für Juden in einem Gebiet, das es noch gar nicht kontrollierte. Verleger nennt das ein "kolonialistisches Verdrängungsprojekt": "...von Seiten Großbritanniens, das den Juden eine Heimat versprochen hat, wo schon andere Leute gewohnt haben und damit auch eine Schwäche der frühen zionistischen Bewegung ausgenutzt hat, die sich ebenfalls keinerlei Gedanken darüber gemacht hat, dass da ja schon andere Leute wohnen."
    Die Kehrseite der Idee
    Dabei gab es diese mahnenden Stimmen: Eine von ihnen war Edwin Samuel Montagu, damals der einzige Jude im britischen Kabinett. Er prognostizierte: "... dass Mohammedaner und Christen den Juden Platz machen und die Juden in alle Vorzugspositionen gebracht werden sollen […] Vielleicht darf dann auch Staatsbürgerschaft nur noch als Resultat einer Religionsprüfung gewährt werden."
    Zwar erreichte Montagu, dass die Balfour-Erklärung um einen Passus ergänzt wurde, der auch die bereits ansässige Bevölkerung Palästinas in den Blick nahm, doch er sollte Recht behalten:
    "Ich bin für die Zwangsumsiedlung, daran sehe ich nichts Unmoralisches" zitiert Verleger den späteren Staatsgründer David Ben-Gurion. Der Autor konstatiert: "Der nationale Zweck heiligte auch extreme Mittel. Skrupel gegen solche Mittel - gar mit dem Argument jüdischer Moral und Friedfertigkeit und Nächstenliebe - waren nur ein Ballast aus der Vergangenheit."
    Kritik am heutigen Israel
    Verleger spart nicht mit Kritik: An der israelischen Staatsgründung und der aktuellen Politik. An den überwiegend pro-israelisch eingestellten jüdischen Gemeinden in Deutschland und an der Abkehr von Humanismus und Nächstenliebe, die er für die wahren Werte des Judentums hält.
    "Ist das noch das gleiche Judentum, als dessen wichtigstes Gebot unser Rabbi Akiba benannte: 'Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst'? Das glaubt mir doch heutzutage keiner mehr, dass dies das 'eigentliche' Judentum ist, in einer Zeit in der der jüdische Staat andere Menschen diskriminiert, in Kollektivverantwortung bestraft, gezielte Tötungen ohne Gerichtsverfahren praktiziert [...] Ich kann doch wohl vom Zentralrat der Juden in Deutschland erwarten, dass dies wenigstens als Problem gesehen wird."
    Mit seinem Buch und seinen Thesen dürfte Verleger in jüdischen und pro-israelischen Kreisen anecken - er ist das gewohnt. Der Autor war Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein. Beide Positionen verlor er, als er begann, die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren.
    Als Hamas-Versteher ist Verleger schon beschimpft worden, als Judenhasser und als Antisemit. Letzteres ist natürlich absurd. Denn große Teile seiner Familie wurden - auch das schreibt er in seinem Buch - im Holocaust ermordet. Trotzdem oder gerade deswegen kann er glaubhaft für eine Aussöhnung plädieren: "Der erste Schritt in eine neue Zukunft des Judentums wäre, dass Israel, vertreten durch seine Regierung, die Palästinenser für das Unrecht der Vertreibung und Enteignung von 1948 um Verzeihung bittet. Dann wäre ein Neuanfang möglich."
    Vollkommen undenkbar? Unter den aktuellen politischen Gegebenheiten in Israel ganz sicher. Aber warum nicht mal das scheinbar Unmögliche in Betracht ziehen? Man muss nicht jede These Verlegers teilen, aber man kann sein Buch als einen Denkanstoß verstehen, als ein Plädoyer für das Umdenken:
    "Ich lebe in Deutschland, einem Land, das meine gesamte Verwandtschaft ermordet hat. Und Deutschland ist ein prima Land, in dem man heute als Jude prima leben kann. Das hätte vor 50 Jahren niemand geglaubt. Das ist alles vorbei. Das geht!"
    Rolf Verleger: "Hundert Jahre Heimatland? Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus"
    Westend, 255 Seiten, 22 Euro