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Israelischer Historiker: Einmarsch in den Gaza-Streifen wahrscheinlicher

Israel verfolgt wieder die Strategie der gezielten Tötung "in den höchsten Rängen" der Hamas, wie der israelische Historiker Moshe Zuckermann beschreibt. Israel werde sich nun nicht mehr hineinreden lassen, es werde die "Dynamik und den Rhythmus bestimmen, wie es weitergehen wird".

Moshe Zuckermann im Gespräch mit Gerd Breker | 15.11.2012
    Tobias Armbrüster: Mein Kollege Gerd Breker hat über die aktuellen Spannungen in der Region gestern Abend mit dem israelischen Historiker und Soziologen Moshe Zuckermann gesprochen. Er wollte zunächst von ihm wissen, ob sich die Menschen im Gaza-Streifen zurecht Sorgen machen über einen möglichen Einmarsch der israelischen Armee.

    Moshe Zuckermann: Ja, sie ist berechtigt, obwohl das nicht ausgemacht ist, dass ein solcher Einmarsch stattfinden wird. Aber möglich ist er allemal, weil da eine mehrfache Dynamik in Kauf genommen werden muss. Zum einen ist der Schlag von Israel gegen den Militärführer der Hamas, Dschabiri, ein gewichtiger Schlag gewesen, der ohne Zweifel dazu führen wird, dass Hamas reagieren wird. Und wenn Hamas reagieren wird, ist nicht auszuschließen, dass die Dynamik, die sich dann entfaltet, eine solche sein wird, dass das, was Israel ohnehin schon in Erwägung gezogen hat, auch dann stattfindet, nämlich dass es dann einen Einmarsch im Gaza geben wird. Wie gesagt, es ist nicht ausgemacht, aber es ist jetzt viel wahrscheinlicher, als es noch vor zwei, drei Wochen gewesen wäre.

    Gerd Breker: Der jetzige Luftschlag ist ja auch eine Rückkehr zu einer Strategie der gezielten Tötung.

    Zuckermann: Das ist offiziell ja auch angekündigt gewesen.

    Breker: Mehrere Tage soll diese Operation sein. Also haben wir noch mit mehreren gezielten Tötungen es zu tun?

    Zuckermann: Das sind keine Sachen, die man von vornherein sagen kann. Aber die Politik der gezielten Tötungen, die ist jetzt wieder angesagt. Das ist ja offenbar eine Sache gewesen, die in den letzten Monaten beziehungsweise letzten zwei Jahren nicht mehr angewendet worden ist. Und die ist jetzt also wieder in Gang gebracht worden. Und das kann sein, dass das nur sozusagen das Vorspiel zu dem sein wird, was dann an Bodeneinzug der Truppen sein könnte. Das ist nicht wie gesagt ausgemacht, aber das ist allemal angesagt, die Tötung und die Tötung in den höchsten Rängen. Das ist nicht die zweite Reihe der Hamas-Militärführer, sondern das ist die allererste Wahl gewesen.

    Breker: Herr Zuckermann, der Zeitpunkt dieses heutigen Schlages, ist das Zufall? Es ist ja gerade noch mal zwei Wochen, bevor die gemäßigten Palästinenser den Antrag auf Anerkennung ihrer Staatlichkeit durch die Vereinten Nationen stellen wollen.

    Zuckermann: Ja, es ist in zweierlei Hinsicht kein Zufall. Abgesehen davon, dass jetzt eine Dynamik entstanden ist, die damit begonnen hat, dass die Palästinenser, weil sie gerade den Antrag stellen wollten, von Hamas-Seite dann irgendwie das Bedürfnis aufgekommen ist, sich zu profilieren gegenüber der PLO. Damit hingen ja zum Teil auch die Beschüsse Israels durch die Hamas zusammen. Aber auch die Reaktion Israels jetzt ist kein Zufall, weil wir ja auch Wahlen haben. Und da Netanjahu schon seit einigen Tagen, schon seit zwei Wochen den Vorwurf gemacht bekommen hat, er würde nicht reagieren und er würde sich sozusagen nicht profilieren als militäragierender Mensch, ist er jetzt in den Zugzwang geraten. Aber der kann ihm ja nur zu Pass kommen, weil man in Wahlzeiten genau diese Gelegenheiten braucht, um sich zu profilieren, und das kann eigentlich Netanjahu ziemlich in den Kram passen.

    Breker: In letzter Zeit, Herr Zuckermann, war ja die Zustimmung für die Hamas in Gaza zurückgegangen. Jetzt wird sich das wohl wieder ändern?

    Zuckermann: Ja, das ist genau das, was ich meine, dass Hamas, ohne selber in den Vordergrund zu treten, sondern indem sie die Randgruppen sozusagen in die Beschussfront geschickt hat – das war ja nicht offiziell Hamas, sondern es waren ja die anderen Splittergruppen, die sich mit Hamas messen, die die Beschüsse gemacht haben. Jetzt ist ganz ohne Zweifel eine Dynamik entstanden, dass Hamas wieder sozusagen an Höhe gewonnen hat. Und die Frage, die sich jetzt ergibt, ist, dass wenn es zu einer Eskalation kommt, die bis zu einem Einmarsch von Israel in den Gaza-Streifen führen könnte, ob dann Hamas da nicht einen ganz hohen Preis dafür zahlen könnte, nämlich dann, wenn dann der Preis für den Gaza-Streifen sehr hoch werden könnte.

    Breker: Beim letzten Mal 2008/2009 sind zirka 1400 Palästinenser getötet worden.

    Zuckermann: Sollte es zum Einmarsch der Truppen nach Gaza kommen, könnte es wieder zu einer ähnlichen Zahl, vielleicht noch höher kommen. Das sollte man nicht prognostizieren, das kann man ja gar nicht einschätzen, was jetzt die Zahlen anbelangt. Aber es ist ganz ohne Zweifel so, dass wenn die Eskalation jetzt in den nächsten Tagen weitergeht, also wenn dem nicht Einhalt geboten wird, das wirklich dann auch von israelischer Seite ganz massiv betrieben wird. Wie gesagt, auch die Wahlen sind bei uns im Moment da. Und das könnte dann sowohl für die Bevölkerung Israels im Südteil des Landes, vor allem aber für die Bevölkerung Gazas dann eine ziemlich schlimme Angelegenheit werden.

    Breker: Wer, Herr Zuckermann, könnte denn dieser Eskalation Einhalt gebieten?

    Zuckermann: Ja, zunächst mal die beteiligten Seiten, also sowohl die Hamas im Gaza als auch die israelische Regierung. Die Ägypter haben ja versucht, da sozusagen einen Waffenstillstand herzustellen. Es scheint aber so zu sein, dass die Israelis sich darauf nicht einlassen wollten. Weil nach mehreren Tagen, wie Sie gesagt haben, wo ein Beschuss der Südteile Israels stattgefunden hat und es auch schon einen Vorwurf von Teilen der israelischen Presse und Teilen der israelischen Bevölkerung gab, dass Israel nicht reagieren würde und sozusagen die Bevölkerung jetzt wehrlos ihrem Schicksal überlassen würde. Ist es dazu gekommen, dass Israel jetzt auf jeden Fall die Eskalation mittragen wollte. Und jetzt wird man sich nicht mehr reinreden lassen. Ich glaube, Israel wird jetzt mehr oder weniger die Dynamik und den Rhythmus bestimmen, wie es weitergehen wird.

    Armbrüster: Der israelische Soziologe und Historiker Moshe Zuckermann gestern Abend im Gespräch mit meinem Kollegen Gerd Breker.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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