Freitag, 17. Mai 2024

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Italien: Verzweifelt, aber nicht hoffnungslos

Gerade erst hat die Ratingagentur Standard & Poor's Italien herabgestuft. Wie schätzen die Italiener ihre Lage ein? Sehen sie sich am Abgrund? Bei aller Verzweiflkung über den desolaten Zustand ihres Landes gebe es auf regionaler Ebene durchaus die Hoffnung, den Zustand politischer Stagnation zu überwinden, meint der in Triest lebende Krimiautor Veit Heinichen.

Der Schriftsteller Veit Heinichen im Gespräch mit Beatrix Novy | 21.09.2011
    Beatrix Novy: Wer sich als Europäer über arabische Zustände grundsätzlich erhaben fühlte, schaute heute ein bisschen kleinlauter aus der Wäsche. Korrupte Staatsoberhäupter, straffällige Abgeordnete, Armut, das gibt es alles auch in Europa, mindestens hier und da. Früher, da hat man noch liebevoll darüber hinweggesehen, wie Länder wie Griechenland oder Italien so fröhlich vor sich hinverkamen. Heute schwingen die Ratingagenturen den Hammer.

    Die Italiener sind offenbar Berlusconi nun doch endgültig satt. Aber wie fühlen sie und wie sehen sie sich an diesem Wendepunkt vor einer möglichen Pleite? Veit Heinichen, Schriftsteller, geboren zwischen Bodensee und Schwarzwald, Mitbegründer des Berlin-Verlags, seit den 80er-Jahren in Italien ansässig, Autor von Kriminalromanen, die man kulturwissenschaftlich nennen darf, ich sage nur "Commissario Laurenti". Er lebt in Triest, am Dreiländereck sozusagen, und er hat mal gesagt, hier könne man sehen, wie dieses Europa funktioniert. Ich habe Veit Heinichen gefragt, ob das nicht nur eine schöne Erinnerung ist.

    Veit Heinichen: Ach, die Gegenwart schlägt gnadenlos zu. Und es ist mit Erinnerung überhaupt nichts verbunden, sondern wir haben Probleme, die gesamt Europa betreffen und die wir in diesem Schnittpunkt der drei großen Kulturen, der romanischen, der slawischen und der germanischen Kultur, natürlich sehr genau unter der Lupe haben. Unter verschiedensten Aspekten wird hier deutlich, wohin europäische Politik driftet, weniger im ökonomischen Sinn, denn Triest ist wirklich eine Insel der Seeligen mit einer minimalen Arbeitslosigkeit und einer sehr, sehr hohen Lebensqualität, die ja dieser Stadt jährlich von der Wirtschaftspresse bescheinigt wird, mit hohen Spareinlagen und so weiter. Aber sehr viel mehr im nationalen Zusammenprall mit dem nahen Slowenien um die Ecke, dieses Grenzland, wirklich das Nachbarland, in dem im Moment die sozialliberale Regierung zusammenkracht und eine rechtslastige Seilschaft die Oberhand gewinnen wird. Dasselbe gilt in Kroatien, wo tatsächlich die Regierung unter Beschuss steht, die Regierungschefin unter Beschuss steht wegen illegaler Gelder. Dasselbe gilt für Österreich, wo es so aussieht, dass natürlich leider dieser Strache, der Chef der Xenophobenpartei, der FPÖ, der nächste Bundeskanzler sein wird, und wie mir Leute aus Österreich berichtet haben, muss man Strache haben, damit Strache abgeschafft wird. Und dasselbe gilt natürlich für Italien.

    Novy: In diesem Zusammenhang müssen sich die Italiener ja eigentlich gar nicht so schlecht fühlen, wie sie im Moment überall gemacht werden.

    Heinichen: Die Welt ist ein Dorf und ich sehe im Moment kein Land, auch Deutschland nicht, wo die Dinge in Ordnung wären. Deutschland lebt in Wirtschaftsverbrechen und in einer Korruptionsaffäre nach der anderen und ist keinesfalls besser als die anderen Länder. Es gibt vielleicht nationale Eigenschaften, wo Dinge rechtsmäßig früher oder später erstickt werden, oder durch ministeriale Weisungen, oder wo wie in Italien eine unabhängige Staatsanwaltschaft, die der Politik nicht unterstellt ist, tatsächlich Dinge zum Vorschein bringt, die in anderen Ländern Europas nicht möglich sind. Das ist ein bisschen eine Verzerrung des Blicks dann, wenn man von außen schaut und diese Mechanismen nicht kennt.

    Novy: Nun ist ja das alles in Italien, was da passiert, ein bisschen schriller, ein bisschen lauter, und viele Besucher Italiens – deswegen ist die deutsche Italienliebe auch abgekühlt – erfahren es als Wahrnehmung, wie berlusconisch es geworden ist. Die Umarmung der Massenkultur, diese Softpornonisierung, die Korruption, alles scheint ein bisschen stärker zu sein. Frage ist natürlich: warum setzt sich der Teil, der große Teil der Gesellschaft, der dagegen ist, schon lange, nicht durch?

    Heinichen: Das ist eine Frage der Opposition, die auch wieder kein italienisches Phänomen ist, sondern gesamt Europa betrifft. Und in Italien ist es so, dass wir eine Opposition haben, die inexistent ist. Es sind immer die gleichen Gesichter.

    Novy: Das heißt, dieser gesellschaftliche Protest hat keine politischen Funktionsträger?

    Heinichen: Ich glaube, dass auch das wieder keine italienische Spezifität ist, denn die parteipolitischen Vertreter sind so weit von der Zivilgesellschaft entfernt und es passiert ihnen nichts, wenn sie Niederlagen erfahren, sie bleiben zumindest Abgeordnete. Allerdings, muss ich sagen, gibt es auch einen großen Fehler der Zivilgesellschaft: Wählen und Jammern reicht nicht aus!

    Novy: Die Vertreter der Kultur trommeln schon lange. Wie sieht das aus unter den Leuten, die Sie so kennen, mit denen Sie umgehen? Fühlen die sich jetzt an einem Wendepunkt, am Abgrund?

    Heinichen: Ganz sicherlich sind wir italienweit in einem Desaster und in einer großen Verzweiflung, denn es zeichnet sich kein Hoffnungsträger, auch nicht von Mitte-Links ab. Landespolitisch und regionalpolitisch sind die Dinge unterschiedlich. Wir haben in Triest eine neue Stadtregierung, die jung ist, die aus 50 Prozent Frauen besteht, von denen insgesamt nur drei Personen direkt aus der Politik kommen und die anderen eben Experten sind in ihrem Fach und diese verschiedenen Referate besetzt haben und inne haben. Die Hoffnung ist da und die Hoffnung zeichnet sich deutlich ab, zeichnet sich vor allem bei den Wahlen ab im Mai, wo eine extreme Bürgerbeteiligung stattgefunden hat. Die Leute konnten nicht mehr und sie wollten teilhaben und konnten nicht mehr zusehen. Die Frage ist jetzt, ob diese Bewegung sich auch landesweit breit macht. Es gibt Hoffnung.

    Novy: Also im Kleinen suche man die Hoffnung, zum Beispiel in kleinen und Mittelstädten Italiens. Aus dem aber gar nicht so kleinen Triest hörten sie den Schriftsteller Veit Heinichen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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