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Iwan Bunins Erzählungen: "Leichter Atem"
Begehren und Gewalt in stilistischer Vollendung

Der russische Schriftsteller Iwan Bunin war ein Meister der Kurzform, der sich seinen Ruhm mit Erzählungen erschrieben hat. 1933 erhielt er dafür den Nobelpreis. Zum 150. Geburtstag Bunins setzt der Dörlemann Verlag die vorzüglich edierte Werkausgabe mit einem neuen Erzählungsband aus den Jahren 1916 bis 1919 fort.

Von Uli Hufen | 22.10.2020
Der Schriftsteller Iwan Bunin und sein "Leichter Atem" zum 150. Geburtstag
Der Schriftsteller Iwan Bunin und sein "Leichter Atem" zum 150. Geburtstag (Buchcover Dörlemann Verlag / Portrait © Iwan Bunin 1907, The Estate of Iwan Bunin, Leeds“)
Unter den Hauptfiguren in Iwan Bunins Erzählungen sind viele junge Frauen. Sie heißen Tanja, Rusja, Nastja, Sonja oder Anna. Sie sind fabelhaft schön und geheimnisvoll und sie werden selten alt genug, um einen Beruf zu ergreifen, eine Familie zu gründen oder Kinder zu bekommen. So wie die Gymnasiastin Olja Meschtscherskaja aus der umwerfenden Erzählung "Leichter Atem", die dem vorliegenden Band mit Erzählungen aus den Jahren 1916-1919 den Titel gibt.
"Mit vierzehn Jahren zeichneten sich, bei zarter Taille und schlanken Beinen, bereits deutlich die Brüste und all jene Formen ab, deren Zauber noch kein menschliches Wort auszudrücken vermochte; mit fünfzehn galt sie als Schönheit. Wie sorgfältig einige ihrer Freundinnen sich das Haar legten, wie reinlich sie waren, wie sehr sie darauf achten, sich sittsam zu bewegen! Sie aber fürchtete nichts, weder Tintenflecke an den Fingern oder ein rot angelaufenes Gesicht noch zerzauste Haare oder ein entblößtes Knie, wenn sie beim Laufen stürzte.
Der russische Dichter Iwan Bunin
150. Geburtstag des Literaturnobelpreisträgers - Iwan Bunin - sozialkritisch, aber kein Revolutionär Die Lyrik, Kurzgeschichten und Romane von Iwan Alexejewitsch Bunin sind eine einzigartige Mischung aus Heimatliebe, Sozialkritik und exquisiter Erzählkunst. Das machte den Exilanten 1933 zum ersten russischen Literaturnobelpreisträger. Am 22. Oktober 1870 wurde Bunin geboren.
Ohne Zutun und Bemühen ihrerseits und gewissermaßen unmerklich fiel ihr all das zu, was sie in den letzten beiden Jahren unter all den Mädchen am Gymnasium so hervorhob: Eleganz, Anmut, Geschick und der heitere, aber hellwache Glanz ihrer Augen. (Niemand tanzte wie Olja Meschtscherskaja, niemand lief Schlittschuh wie sie, niemand wurde auf dem Ball so eifrig umworben, und niemand war, warum auch immer, bei den unteren Klassen so beliebt wie sie.) Unmerklich wuchs sie zu einer jungen Frau heran, unmerklich festigte sich ihr Ruf am Gymnasium, und schon gingen Gerüchte, sie sei leichtfertig, sie könne ohne Verehrer nicht leben, der Gymnasiast Schtschenschin sei bis zum Wahnsinn verliebt in sie und sie liebe ihn ebenfalls, sei aber so flatterhaft im Umgang mit ihm, dass er versucht habe, sich das Leben zu nehmen."
Ungewöhnliche Offenheit
Wer sich ein bisschen in der klassischen russischen Literatur auskennt weiß, dass es von hier nicht mehr weit sein kann bis zur Katastrophe. Liebe, Sex und Tod gehören beinah zwingend zusammen. Und ein Mädchen, das als flatterhaft gilt, wird selten alt. Selbst Tolstois nachdenkliche Ehebrecherin Anna Karenina musste sterben. Bei Iwan Bunin ist das nicht anders. Doch wie Bunin das Melodrama in "Leichter Atem" von 1916 auf gerade einmal zwölf Seiten entfaltet, das ist nicht nur sprachlich grandios, verblüffend ökonomisch und berührend erzählt. Es verrät auch, dass in die Geschlechterpolitik Bewegung gekommen war.
Bunin war gewiss kein Feminist. Frauen zumindest aus der Oberschicht sind bei ihm meist empfindsame, herrliche Geschöpfe. Doch ihr Geschick definiert sich über ihr Verhältnis zu Männern und wenn sie das Geschehen antreiben, dann nicht mit Gedanken oder Taten, sondern durch ihre Emotionalität, durch ihre Körper und durch das was Bunin den "Zauber" nennt, "den noch kein menschliches Wort auszudrücken vermochte". Das kann man altherrenhaft oder reaktionär finden. Aber dann benennt Bunin die männliche Gewalt, der Olja zum Opfer fällt mit verblüffender Offenheit. Als die Schulleiterin dem Mädchen unschickliches Auftreten vorwirft und sie daran erinnert, dass sie vorerst "nur eine Gymnasiastin" ist, fällt Olja ihr ins Wort und sagt etwas, das ein junges Mädchen bei Tolstoi nicht hätte sagen können:
"Verzeihen Sie, Madame, sie irren sich: Ich bin eine Frau. Und wissen Sie, wer schuld daran ist? Papas Freund und Nachbar - Ihr Bruder, Alexej Michailowitsch Maljutin. Es geschah im vergangenen Sommer auf dem Lande…"
Nähere Ausführungen folgen nicht. Wie meist in seinen Sexszenen blendet Bunin auch hier nach dem ersten, in diesem Fall erzwungenen Kuss ab. Aber die Situation ist eindeutig. Der 56jährige Maljutin mag es für eine galante Eroberung gehalten haben. Nach heutigen Maßstäben war es wohl eher eine Vergewaltigung. Bunin lässt da keinen Zweifel. Das war 1916 vielleicht nicht revolutionär aber doch: gewagt. Zumindest für die Welt, aus der Bunin kam und die er in seinen Werken verewigte. Und genau darum ist "Leichter Atem" nicht nur ein Paradebeispiel für Bunins Kunst, die Erzählung gibt auch wichtige Hinweise auf seinen Platz in der russischen Kulturgeschichte des 20.Jahrhunderts.
Das vorrevolutionäre Russland
Iwan Bunin wurde 1870 in Woronesch geboren, fünfhundert Kilometer südlich von Moskau. Die Familie gehörte zum verarmten Adel, weshalb Bunin schon früh selbst Geld verdienen musste. Er vagabundierte ein paar Jahre kreuz und quer durch Südrussland und die Ukraine, begann früh Gedichte und Geschichten zu schreiben und fand leicht Zugang zu literarischen Kreisen in Odessa, in Moskau und St. Petersburg. Bunin war schön und gewandt - das half. Er lernte Tolstoi, Tschechow und Gorki kennen, auch viele jüngere Dichter wie Balmont oder Brjussow. Erste Bände mit Gedichten und Erzählungen erschienen, Bunin wurde mit dem Puschkin-Preis ausgezeichnet und in die Akademie aufgenommen.
In den konservativen Kreisen, die hier das Sagen hatten, kamen Bunins lyrische Naturbeobachtungen und seine melancholischen Geschichten über das unaufhaltsam entschwindende russische Landleben gut an. Aber nicht nur dort. Der Sozialist Maxim Gorki nannte Bunin den größten Stilisten der Gegenwart. 1914 war Bunin als Schriftsteller etabliert, wirtschaftlich erfolgreich und zum dritten Mal verheiratet, endlich glücklich. Dann kam die Doppelkatastrophe aus Weltkrieg und Revolution, die das alte Russland zerstörte und Bunin nach Paris ins Exil zwang. Sein Leben riss in zwei Teile. Was Bunin von der Revolution und von Lenins Bolschewiki hielt, schrieb er Mitte der 20er Jahre in dem bitteren Revolutionstagebuch "Verzweifelte Tage" nieder.
Iwan Bunin: Der Regenbogenschein der russischen Literatur 
Seit dem Dörlemann Verlag mit Iwan Bunins kurzer Brief-Erzählung "Ein unbekannter Freund" ein glanzvolles Debüt gelang, gehört der russische Schriftsteller zu den Hausgöttern und Glücksbringern des kleinen Zürcher Literaturverlags. Inzwischen wartet Dörlemann mit einer viel beachteten Werkausgabe auf.
"In Friedenszeiten vergessen wir, dass es auf der Welt von solchen Missgeburten nur so wimmelt, in Friedenszeiten sitzen sie im Gefängnis, in der Irrenanstalt. Doch dann kommt eine Zeit, in der das "erhabene Volk" die Oberhand gewinnt. Die Türen der Gefängnisse und Irrenanstalten werden geöffnet, die Archive der Kriminalpolizei verbrannt, und das Bacchanal beginnt. Das russische Bacchanal übertraf alles bislang Dagewesene."
"Verzweifelte Tage" ist ein faszinierendes Dokument tiefster Enttäuschung, von Verzweiflung und auch von Hass. In den Erzählungen aus den Jahren 1916-1919, die in "Leichter Atem" versammelt sind, spielt die Revolution allerdings keine Rolle. Auch der Weltkrieg blitzt nur gelegentlich in Gesprächen zwischen Bauern auf. Im Großen und Ganzen aber sind das Geschichten, die Bunin genauso auch zehn Jahre vorher oder zwanzig Jahre später hätte schreiben können und auch schrieb. Fast alle spielen in einem unspezifischen vorrevolutionären Russland, das so bald nur noch in der Imagination von Iwan Bunin existierte. Viele der besten Geschichten sind Liebesgeschichten. Sie erzählen davon, wie Männer jungen Frauen verfallen, wie sie von ihrem Begehren und von dem, was sie für Liebe halten entweder zu Gewalt gegen die Frauen getrieben werden oder in Trübsinn und Alkoholismus. "Changs Träume", "Schlingenohren" und "Leichter Atem" gehören zu Bunins Meisterwerken. Wie nebenbei demonstriert Bunin dabei immer wieder, warum man ihn schon zu Lebzeiten als Meister der realistischen Beschreibungskunst gefeiert hat.
Der Mensch als Teil von Natur und Kosmos
Eine Erzählung mag noch so kurz sein - und manche sind wirklich nur ein paar Seiten lang - immer hat Bunin Zeit für Gerüche und Farben und Töne, für das Wetter, für Jahreszeiten und für Landschaften. Dahinter steckte eine grundlegende Überzeugung:
"Es gibt keine von uns getrennte Natur - jede Luftbewegung ist eine Bewegung unseres eigenen Lebens."
Iwan Bunin war ein überzeugter Konservativer. Das betraf seine Politik, das betraf seine Moral und das betraf auch seine Vorlieben in Kunst und Literatur. Aber Bunin war ein kluger Konservativer. Er wusste, was zur selben Zeit auch sein italienischer Zeitgenosse Giuseppe Tomasi de Lampedusa, ebenfalls Sproß eines alten Adelsgeschlechtes, wusste: "Wenn alles bleiben soll, wie es ist, muß sich alles ändern."
Eine Revolution aber war mit Bunin nicht zu machen, für die vielfältigen Strömungen der russischen Avantgarde hatte Bunin genauso wenig übrig. In Bunins Hass auf den Futuristen und Revolutionär Wladimir Majakowskij verband sich beides. Aber Veränderung? Durchaus. Man nennt Bunin oft den letzten der großen russischen Realisten des 19. Jahrhunderts. Aber er war ein Realist, der die Moderne in Kunst und Literatur erlebt und verarbeitet hatte.
Nobelpreis für den Emigranten
Als Bunin 1933 den Nobelpreis gewann, war das wie alle Literatur-Nobelpreisentscheidungen auch eine politische Entscheidung. Die Entscheidung für Bunin war eine Entscheidung gegen Maxim Gorki. Für einen russischen Emigranten und gegen die Sowjetunion. Die Dichterin Marina Zwetajewa hielt das für falsch, aber aus einem anderen Grund. Für Zwetajewa repräsentierte Gorki eine Epoche, Bunin dagegen nur das Ende einer Epoche. Das war klug beobachtet.
Aber was für ein grandioses Ende das war! Man darf nur hoffen, dass der Dörlemann Verlag mit seiner chronologischen Werkausgabe weitermacht. Mit dem mehrbändigen Roman "Das Leben Arsenjews" und dem Erzählungsband "Dunkle Alleen" von 1943 fehlen noch mindestens zwei Hauptwerke Bunins!
Iwan Bunin: "Leichter Atem". Erzählungen 1916-1919
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg.
Herausgegeben von Thomas Grob
Dörlemann Verlag, Zürich
288 Seiten, 25.- Euro.