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Jahrestag des Anschlags in Hanau
Rechtsextremismus-Forscher fordert Demokratiefördergesetz

Der Soziologe Matthias Quent sieht die öffentliche Anteilnahme zum Jahrestag des rassistischen Anschlags in Hanau positiv. Um Rassismus zu bekämpfen, reiche Haltung aber nicht aus, sagte er im Dlf. Man müsse antirassistische Strukturen dauerhaft fördern – Teile der CDU seien dazu aber nicht bereit.

Matthias Quent im Interview mit Peter Sawicki |
Ein Plakat „#say their names“ wird auf der Kundgebung zum Gedenken an den rassistischen Anschlag im Februar 2020 in Hanau hochgehalten.
Ein Plakat „#say their names“ wird auf der Kundgebung zum Gedenken an den rassistischen Anschlag im Februar 2020 in Hanau hochgehalten (picture alliance/dpa/Andreas Arnold)
Vor einem Jahr tötete ein Attentäter in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven, erschoss dann seine Mutter und sich selbst. Ein Jahr danach hat die Stadt Hanau der Opfer gedacht und auch bundesweit ist die Anteilnahme groß. Das sei sehr positiv, sagte der Soziologe Matthias Quent vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena im Deutschlandfunk. An einzelnen Tagen zu gedenken, sei aber nicht ausreichend. Der Anschlag sei eine "Eskalation von Alltagsrassismus" gewesen, dieses Thema müsse ganzjährig präsent sein.

Anti-Rassismus-Initiativen fehle es an Kontinuität

Dafür brauche dauerhafte Strukturen, die in der Lage sein müssten, "den Rassismus auch in den Strukturen von Staat und Gesellschaft zu thematisieren". Anti-Rassismus-Initiativen würden aktuell nur projektbezogen gefördert - es fehlte ihnen daher an Planungssicherheit und Kontinuität. Ändern ließe sich das durch ein Demokratiefördergesetz, wie es nach dem Anschlag in Hanau vom Bundeskabinett angestoßen wurde. Doch "Teile der CDU-Fraktion" blockierten bislang ein solches Gesetz, kritsierte Quent im Dlf.
Einen Tag nach der Tat in Hanau: Passanten halten in der Innenstadt mit Kerzen eine Mahnwache für die Opfer ab. 
Trauer und Wut über mangelnde Aufarbeitung
Am 19. Februar 2020 wurden in Hanau neun Menschen bei einem rassistisch motivierten Attentat ermordet. Ein Jahr später fühlen sich viele Angehörige der Opfer vom Staat immer noch allein gelassen. Es fehlen viele Antworten.
Peter Sawicki: Schauen wir mal zunächst zurück auf die Gedenkfeier gestern Abend in Hanau: War das eine würdige Veranstaltung?
Matthias Quent: In meinen Augen war das eine würdige Veranstaltung, soweit das im Rahmen der Corona-Bedingungen möglich ist. Man muss sich ja vor Augen führen, dass es nicht nur in Hanau, sondern in ganz Deutschland, auch in Österreich, in anderen Ländern Gedenkkundgebungen gibt. Es gibt nicht nur dieses offizielle Gedenken, sondern es gibt vor allem eine Solidarisierung auch von Protestbewegungen von migrantischen Organisationen, aber eben auch von Menschen, die mit den Angehörigen und den Opfern fühlen, und die fordern, dass sich so etwas nicht wiederholen darf.

"Eskalation von Alltagsrassismus"

Sawicki: Sie haben ja in einem Gastkommentar für das ZDF in dieser Woche dann aber geschrieben, die öffentliche Anteilnahme, ich zitiere, mit den Betroffenen, die seien nur noch gering gewesen in den vergangenen Tagen, vergangenen Wochen. Warum haben Sie da so zurückhaltend formuliert?
Quent: Na ja, das bezog sich insbesondere auf die Corona-Pandemie. Wir hatten vor einem Jahr diesen Anschlag, und der ist doch sehr schnell aus dem öffentlichen Gedächtnis dann verschwunden. Dass er jetzt an dem ersten Jahrestag wieder in den öffentlichen Fokus rückt, die Fragen thematisiert werden, das ist sehr gut, aber das Problem ist doch, dass wir es in Hanau mit einer Eskalation von Alltagsrassismus zu tun hatten, und Alltagsrassismus sagt ja schon, das ist also ein ganztägiges, ein ganzjähriges Problem. Das ist keine Schuldzuweisung, das ist einfach eine Beschreibung. Im Kontext der Corona-Pandemie war für dieses Thema im öffentlichen Raum häufig nicht viel Platz. Insofern ist es gut, dass es jetzt diesen Platz noch mal gab.
Dr. Matthias Quent, Direktor des Institutes für Demokratie und Zivilgesellschaft, (IDZ).
Dr. Matthias Quent, Direktor des Institutes für Demokratie und Zivilgesellschaft, (IDZ) (picture alliance/dpa/Bodo Schackow)
Sawicki: Dann schauen wir mal konkret darauf, was sich beim Kampf gegen Rassismus getan hat in den vergangenen zwölf Monaten. Was können Sie Positives konstatieren?
Quent: Positiv ist mit Sicherheit, dass es eine große öffentliche Anteilnahme gibt, die jetzt auch zum Tragen gekommen ist. Positiv ist mit Sicherheit, dass der öffentliche und mediale Umgang sich doch in den letzten Jahren erheblich geändert hat. Wenn ich das beispielsweise mal vergleichen darf mit dem OEZ-Anschlag 2016 in München, wo ebenfalls neun Menschen aus Einwandererfamilien aus rassistischen Motiven ermordet wurden, da war sehr präsent die Rede von einer Amoktat, da wurde wenig über Rassismus diskutiert in der Öffentlichkeit, weder in der Politik noch in den Medien. Das ist diesmal völlig anders, auch weil die Bundesregierung, die Bundeskanzlerin sehr deutliche, klare Worte gefunden hat, wie jetzt auch der Bundespräsident. Und wenn man schaut auf die Policy-Ebene, also was passiert tatsächlich seitens der Politik, dann gab es erstmalig ein Bundeskabinett gegen Rassismus und Rechtsextremismus, in dem zivilgesellschaftliche Akteur*innen, Migrant*innen-Organisationen, Wissenschaftler*innen angehört wurden und daraus ein 89-Punkte-Programm vorgestellt wurde, ein Maßnahmenkatalog, der beschlossen ist, der auch Schwächen hat, aber der auf jeden Fall doch in der Geschichte gewissermaßen eine Zäsur ist in der Auseinandersetzung mit diesem Thema.
Eine offizielle Gedenktafel mit den Fotos der neun Opfer erinnert am Anschlagsort in Hanau-Kesselstadt an die Opfer der Anschläge im Jahr 2020. Der Rechtsextremist Tobias R. hatte hier am 19. Februar 2020 neun Menschen aus rassistischen Motiven erschossen. (zu dpa: «Trauer, Unmut, drängende Fragen - Hanau gedenkt der Anschlagsopfer»)
Stadtgesellschaft von Hanau kann zum Vorbild werden
Dem rassistischen Mörder von Hanau ist es nicht gelungen, das Gemeinwesen zu zerstören, kommentiert Ludger Fittkau. Ein Zeichen dafür sind die Kandidaturen von Angehörigen der Ermordeten bei demokratischen Wahlen. Das ist ein Ermutigungs-Signal – für das ganze Land.

Rassismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen begreifen

Sawicki: Und was sind da aus Ihrer Sicht die ganz konkreten Schlussfolgerungen beziehungsweise die konkreten Maßnahmen?
Quent: Es sind insgesamt 89 Maßnahmen, die jetzt alle vorzustellen, würde den Rahmen sprengen.
Sawicki: Die wichtigsten zumindest.
Quent: Die wichtigste ist mit Sicherheit erst mal auch die, dass es die Einsicht und die öffentliche Bekundung, dass es ein stärkeres Bewusstsein für Rassismus als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen geben muss und dass aus dieser Einsicht verschiedene Schlussfolgerungen für Justiz, Polizei, Zivilgesellschaft, Staat, Öffentlichkeit, aber auch Forschung hervorgehen. Das sind Dinge wie ein Demokratiefördergesetz, und da sind wir schon an dem Punkt, wo es dann auch schwierig wird, weil da viel im Vagen ist. Das ist bis heute nicht umgesetzt, unklar, ob und wie es überhaupt kommt. Also das ist ein Aspekt dieser 89 Punkte.

Rassismusprävention brauche Planungssicherheit

Sawicki: Was würden Sie sich genau wünschen, was für ein Gesetz sollte das werden?
Quent: Wir haben eine Erhebung gemacht beispielsweise bei Akteuren, die tatsächlich über 300 Menschen, die in der Rechtsextremismus-, Rassismusprävention arbeiten, und die sagen, wir brauchen Anerkennung, wir brauchen den Rückhalt aus der Politik, und vor allem brauchen wir Planungssicherheit und Perspektiven, das heißt also eine Verstetigung von Maßnahmen. Vieles, was auf den Weg gebracht wurde, ist ja projektförmig, das heißt, es wird nach einem Jahr oder nach zwei Jahren auch wieder auf. Menschen gehen weg, es ist schwierig, Personal zu halten oder zu finden, das qualifiziert ist auf solchen prekären Stellen. Man findet nicht den Zugang zu Strukturen, und darum geht es ja, den Rassismus auch in den Strukturen von Staat und Gesellschaft zu thematisieren und zu problematisieren. Das sind einige der Baustellen in dieser Hinsicht.
Das große Leid der Familie Hashemi aus Hanau
Said Etris Hashemi hat den Anschlag von Hanau verletzt überlebt, aber seinen Bruder hat er verloren. Noch immer kämpfen er und seine Familie mit den seelischen und körperlichen Wunden des Attentats. Aus Hanau wollen die Hashemis nicht wegziehen. Dann hätten die Andersdenkenden ja gewonnen, sagt Said Etris.
Sawicki: Das heißt, es fehlt, wenn ich Sie richtig verstehe, nicht an Projekten, an Engagement, aber an den passenden Strukturen zur stetigen Weiterentwicklung dieser Projekte.
Quent: Es kann sicher auch immer noch mehr Projekte geben, gerade in strukturschwächeren Regionen, aber in der Tat ist das eine von den vielen guten Strukturen und Projekten, die bereits aktiv sind in dem Feld. In der Zivilgesellschaft, in Selbstorganisationen und so weiter ist das das vorrangige Problem, dass man keine Planungssicherheit hat, dass es keine Kontinuität und keine Nachhaltigkeit gibt.

Teile der CDU-Fraktion blockierten Demokratiefördergesetz

Sawicki: Wer steht da politisch auf der Bremse?
Quent: Da stehen Teile der Bundesregierung auf der Bremse, insbesondere, wie man hört, die Teile der CDU-Fraktion, die ein solches Demokratiefördergesetz seit Jahren blockieren.
Sawicki: Grundsätzlich ist ja auch beim Thema Rassismus natürlich auch die Gesellschaft gefordert, und oft ist ja davon die Rede, dass die viel beschworene Mitte der Gesellschaft bei diesem Thema Haltung zeigen muss. Wie genau kann das geschehen?
Quent: Haltung kann man zu einen in Alltagssituationen bei rassistischen Kommentaren, Witzen, öffentlichen Auftritten zeigen, aber ich denke, dass das Problem zu komplex ist, um ihm allein mit Haltung zu begegnen. Ich glaube, wir brauchen eine Reflexion darüber, was Rassismus eigentlich bedeutet, wo er in unserer Gesellschaft überall prägend einwirkt, was es mit uns macht, wie es Gesellschaft tatsächlich auch strukturiert. Daraus entspricht ja dann auch die Schwierigkeit, dass Rassismus häufig nicht thematisiert wird, dass man mit Lehnbegriffen wie Fremdenfeindlichkeit zum Beispiel arbeitet, weil Rassismus eben etwas ist, was unsere Gesellschaft durchdringt. Das ist nicht als Vorwurf an einzelne Personen gemeint, sondern schlicht als ein Bestandteil gesellschaftlicher Struktur, von Machtverhältnissen, von Kommunikation, von Lern- und Wissensbeständen. Hier braucht man nicht nur Haltung, sondern wir brauchen vor allem auch eine Ebene der Reflexion, die zum Beispiel verhindert, dass Shisha-Bars in der Öffentlichkeit als gefährliche Orte dastehen.
Dossier: Rassismus
Dossier: Rassismus (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel)
Sawicki: Liegt das dann zentral an der Berichterstattung über solche Themen, oder was müsste da auch die Politik möglicherweise tun, um eine solche Reflexion in Gang zu setzen?
Quent: Reflexion ist ja nun klassischerweise vor allem auch ein Thema von Bildung, von Kultur, von öffentlicher Auseinandersetzung, von Art und Weisen, wie man über Themen spricht. Auch die jetzige Bundesregierung oder Angehörige der Bundesregierung haben sich in solchen Fragen ja nicht immer nur mit Ruhm bekleckert, wenn es beispielsweise um die Asyldiskussion 2015 und 2016 ging. Da wünschte ich mir doch, dass man im Alltag künftig etwas sensibler dafür ist, was für schlafende Geister man womöglich mit welchen Formulierungen wecken könnte.

"Menschen aus Einwandererfamilien haben keine adäquate Repräsentation"

Sawicki: Wie wichtig ist gesellschaftliche Teilhabe beziehungsweise Diversität in gesellschaftlichen Ämtern, was die Zusammenstellung von beispielsweise Ämtern in Politik, Medien oder öffentlichem Dienst angeht?
Quent: Das ist der Punkt, den ich angesprochen habe mit gesellschaftlichen Strukturen, mit Macht, dazu gehören auch Repräsentationsfragen. Das bedeutet, wir sind eine diverse, eine sehr vielfältige Gesellschaft, das wird aber häufig nicht sichtbar. Das wird in Hochschulen nicht sichtbar, das wird in den Medien nicht sichtbar, das wird in der Politik nicht sichtbar. Das bedeutet, dass Menschen aus Einwandererfamilien, obwohl sie über 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen, keine adäquate Repräsentation haben, es also erhebliche Machtunterschiede, erhebliche Machtasymmetrien im öffentlichen Raum, in Verantwortungspositionen gibt, was dazu führt, dass sich diese Gruppenungleichheiten in der Gesellschaft weiter verfestigen. Das heißt also, die stärkere Repräsentation, die stärkere Sichtbarkeit von Vielfalt als etwas Normalem und als etwas, was auch die Kreativität, die kulturelle Werthaltigkeit des Landes stärkt, das ist sicherlich absolut erstrebenswert, aber auch das wird nicht über Nacht den Rassismus beerdigen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.