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Jahrestag des Mauerfalls
"Übergroße Mehrheit der Ostdeutschen ist zufrieden"

Man höre vor allem die Krakeeler auf der Straße, die ihren Unmut herausschreien würden, sagte der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz im Dlf. In einer Demokratie müsse man sich aber selbst kümmern. "Daran hapert es noch im Osten." Doch es gebe auch viele Erfolgsgeschichten.

Werner Schulz im Gespräch mit Dirk Müller |
30 Jahre Mauerfall - Feierlichkeiten an der Berliner Mauer, Bernauer Straße
Grenzübergang 1988: Viele Ostdeutsche hätten es geschafft, wieder mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen, sagte der heutige Grünen-Politiker Werner Schulz (AFP / Tobias Schwarz)
Dirk Müller: 30 Jahre nach dem Mauerfall, ein Gedenktag der Freude, der Erleichterung, aber eben auch ein Tag für viele nachzudenken, zu reflektieren darüber, was Ostdeutsche und Westdeutsche geschafft haben und was noch nicht. Darüber sprechen wir jetzt mit Grünen-Politiker Werner Schulz, der in der DDR für Freiheit gekämpft hat, später als Abgeordneter im Bundestag und im Europäischen Parlament gesessen hat.
- Wir erreichen Werner Schulz auf einem Rastplatz per Mobiltelefon. Guten Tag, Herr Schulz!
Werner Schulz: Schönen guten Tag, Herr Müller!
Müller: Feiern Sie auf der Autobahn?
Schulz: Nein, aber ich feiere in meinem Herzen, weil es ist ja eine Selbstbefreiung der Ostdeutschen gewesen, also eine Sternstunde, wenn Sie so wollen, in unserer deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, die ja nun wahrlich kein Vogelschiss war, sondern schlimme und leidvolle Zeiten hatten. Auch daran muss man an diesem 9. November erinnern. Er ist ja ein ambivalenter Gedenk- und Feiertag, also nicht nur ein Jubeltag, sondern der zieht auch die dramatischsten, die schlimmsten, die glücklichsten Ereignisse durch unsere Geschichte.
Der frühere DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz in Berlin am 6.10.2015 bei einer Pressekonferenz des Verlags Kiepenheuer und Witsch zu Michail Sygars Buch "Endspiel. Die Metamorphosen des Wladimir Putin" 
Werner Schulz gehört zu den prominenten DDR-Bürgerrechtlern. Er gründete das Neue Forum mit und saß nach dem Mauerfall mit am Zentralen runden Tisch der DDR. (imago / Metodi Popow)
Müller: Aber dennoch haben Sie jetzt als erstes gesagt, Sie feiern im Herzen. Sind Sie sauer auf die, die immer noch mürrisch sind und das ganze gar nicht so toll finden?
Schulz: Ja, ich glaube, dass wir mehr positives Selbstwertgefühl aus dieser friedlichen Revolution ableiten sollten. Also ich sehe keine Mauer in Deutschland außer dieser Klagemauer, die da errichtet worden ist. Es ist bei vielen, ich würde sagen, eher das Brett vor dem Kopf, also nicht sehen zu wollen, was wir gemeinsam in diesen 30 Jahren erreicht haben. Das ist doch enorm.
Müller: Und die Klagemauer auf beiden Seiten oder vor allem eine Klagemauer der Ossis?
Schulz: Auch auf beiden Seiten. Also die Ossis stärker, die haben so das Gefühl – also einige, nicht alle, das wäre ja schlimm –, aber einige haben das Gefühl, dass sie zu kurz gekommen sind, dass sie gedemütigt worden seien oder dass sie vernachlässigt seien. Im Westen klagt man langsam darüber, dass es ihnen reicht, immer diese Beschwerden der Ostdeutschen zu hören. Also ich glaube, wir sollten in die Zukunft schauen und sehen, dass wir vorankommen in unserer Geschichte.
"Ich habe mich auch in der DDR als Deutscher gefühlt"
Müller: Sind Sie Ostdeutscher westdeutsch beeinflusst?
Schulz: Ich bin Deutscher. Ich weiß nicht, ich habe mich auch in der DDR als Deutscher gefühlt. Und ich habe an dieser nationalen Frage geknaupelt. Schauen Sie, das wurde gerade erwähnt, '85 ist die Versöhnungskirche gesprengt worden, am 22. Januar, das war mein Geburtstag, da war ich 35 Jahre alt. Ich habe gedacht, um Gottes Willen, was geschieht hier, das ist ja unglaublich. Die reißen noch die letzten kulturellen Errungenschaften ab, um dieses Land hermetisch abzuriegeln. Und dann haben wir es geschafft, diesen Grenzdurchbruch. Es war ja kein Mauerfall, sondern die Mauer ist letztlich in Berlin von Ost und West gemeinsam niedergerissen worden.
Müller: Wir haben in den vergangenen Wochen, natürlich auch vor allem in dieser Woche, vermehrt über dieses historische Ereignis berichtet in Deutschland, alle Medien haben das getan. Es war sichtlich auch in vielen Familien, in vielen Gesprächskreisen immer wieder Thema wegen dieses Gedenktages. Neue Studien, aktuelle Studien, Umfragen, Untersuchungen sind veröffentlicht worden. Immer wieder war das, was Sie eben auch kurz angesprochen haben, Herr Schulz, immer wieder ein Thema, wie fühlen sich vor allem die Ostdeutschen in der jetzigen Situation. Und da kam dabei heraus, viele fühlen sich immer noch als Bürger zweiter Klasse. Kennen Sie diese Bürger der zweiten Klasse?
30 Jahre Mauerfall: Meine ganz persönliche Wende
30 Jahre Mauerfall: Meine ganz persönliche Wende (imago images / Winfried Rothermel)
Schulz: Ich höre das auch, aber ich halte das für ein unglaubliches Hirngespinst. Das ist übrigens auch von der PDS in den 90er-Jahren bedient worden, auch aufgebracht worden dieser Begriff. Heute erntet die AfD, was die PDS gesät hat. Ich glaube, viele haben das Grundgesetz, dem sie beigetreten sind, offenbar nicht gelesen. Es gibt in unserem Land keine Bürger zweiter Klasse. Das ist ja die Besonderheit dieser friedlichen Revolution, dass wir die Bürgerrechte errungen haben. Es gibt arm und reich, sicherlich, es gibt da Unterschiede, es gibt intelligent und doof, das mag es auch alles geben. Auch daran wird gearbeitet, dass man das überwindet. Aber es gibt keine Bürger zweiter Klasse. Die hat es in der DDR gegeben, das waren die, die kein Westgeld hatten, das waren die, die keinen Reisepass hatten, um in den Westen zu gehen. Das waren die, die keine Klagemöglichkeit hatten, weil es kein Verfassungsgericht gab, sondern weil es nur Eingabemöglichkeiten gab und dergleichen mehr. Also damit müssen wir aufhören, auch diese abgehängten Regionen, ich kenne Städte in der DDR, die waren sowas von abgehängt, da macht man sich heute gar keinen Begriff mehr davon.
Müller: Aber weil es früher alles schlimmer war, heißt es ja nicht per se, zwangsläufig, dass es das heute nicht mehr gibt, die Abgehängten, diejenigen, die sich zumindest so fühlen und die glauben, dass sie nicht modern sind, um mit der Moderne mitgehen zu können.
Schulz: Das mag ja sein, das sind Gefühle, das ist so ein Unbehagen in der Zufriedenheit, was Sie bei den Ostdeutschen vielfach antreffen. Wenn man sie persönlich fragt, dann geht es ihnen gut, aber im Allgemeinen haben sie dann zu meckern. In Ostdeutschland war das höchste Lob immer, wenn was gut war, da kannste nicht meckern. Also das ist schon irgendwie eine ganz merkwürdige Mentalität.
"Demokratie ist, dass man sich selbst kümmert"
Müller: Die sich nicht verändert hat?
Schulz: Doch, auch verändert hat, aber es ist so ein Anspruchsdenken. Denken Sie mal, dieses Buch, was Petra Köpping rausgebracht hat, integriert doch erst mal uns. Das heißt also, kümmert euch um uns, es ist immer noch so aus dieser Fürsorgediktatur abgeleitet, aus diesem vormundschaftlichen Staat, die Politik muss von da oben kommen. Nein, Demokratie ist, dass man sich selbst kümmert, dass man vor Ort mit anfasst, dass man aktiv wird. Das ist die Zivilgesellschaft. Daran hapert es noch im Osten.
Müller: Es gibt die Zivilgesellschaft, es gibt die politische Gesellschaft. Immer wieder wird jedenfalls kritisiert und angemerkt, zu wenig ostdeutsche Politiker in führenden Positionen im Westen, auch viel zu wenig führende Unternehmen beispielsweise in Ostdeutschland. Inwieweit ist Ostdeutschland immer noch an zweiter Stelle, wie wir das eben besprochen haben, gerade bei diesen Indikatoren?
Schulz: Also bei der Politik muss ich sagen, der einzige ostdeutsche Ministerpräsident, der aus dem Westen kommt, wird von der Linkspartei in Thüringen gestellt. Also in der Politik ist es längst nicht so. Wir haben eine Kanzlerin, die aus Ostdeutschland kommt, wir haben einen Bundespräsidenten gehabt, wir haben auch Abgeordnete im Bundestag, in den Landtagen sowieso. Man muss sich das genau anschauen. Ich meine, man muss auch bedenken, es war der Wunsch der Ostdeutschen, dass die alten Eliten abgesetzt werden. Man hat ja nicht irgendwie ein Land verloren, sondern man hat ein SED-Regime zum Teufel gewünscht. Das muss man sehen. Also diese Funktionäre, diese Bonzen, diese Nomenklaturkader, die sollten nicht mehr regieren und herrschen. Insofern kann man jetzt nicht plötzlich sich darüber beklagen, dass es ein Defizit an ostdeutschen Eliten gibt. Es gibt eine nachwachsende Generation, eine Jugend, die große Chancen hat. Dieses Land ist offen für freie Menschen, so wie wir das gewollt haben, wie wir das gefordert haben. Es ist auch sehr durchlässig, was die Karrieren anbelangt.
"Sie haben Enormes geleistet"
Müller: Wenn ich das jetzt kurz zusammenfassen müsste, vielleicht nicht ganz so detailliert, als Westdeutscher vorsichtig muss ich ja sein mit Pauschalisierungen und vielleicht auch scharfen Formulierungen, aber da würde ich sagen, Werner Schulz meint, Ossiland ist ein Jammerland immer noch.
Schulz: Nein, das betrifft nur einen Teil. Schauen Sie, ich glaube, die übergroße Mehrheit der Ostdeutschen ist durchaus zufrieden. Sie sind gut zurechtgekommen, sie haben Enormes geleistet. Das war sicherlich für viele sehr schwer, sich umzustellen, sich neu auf diese Verhältnisse einzurichten. Die kommen bloß nicht derartig zu Wort. Man hört die Krakeeler auf der Straße, im Grunde genommen, die ihre Unzufriedenheit, ihre Benachteiligung herausschreien. Aber schauen Sie sich doch die vielen Erfolgsgeschichten an, wie viele Ostdeutsche in dieser Zeit es geschafft haben, wieder mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen und praktisch die Dinge zu bewältigen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.