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Jakub Małecki: "Rost"
Polnische Verwerfungen

Der polnische Schriftsteller Jakub Małecki ist in Deutschland bislang noch kaum bekannt. Der 1982 geborene Autor hat bereits ein knappes Dutzend Romane geschrieben. In seinem Heimatland gilt er als wichtige Stimme. "Rost" erzählt nun von einer polnischen Kleinstadt – seit dem Zweiten Weltkrieg.

Von Dirk Fuhrig | 26.04.2021
Ein Portrait des Schriftstellers Jakub Malecki und das Cover seines Romans "Rost"
Der Schriftsteller Jakub Malecki und sein Roman "Rost" (Cover Secession Verlag / Autorenportrait (c) Tomasz Plua)
"Alles ist gut." Die so angestrengt Optimismus verbreitende Phrase ist das Leitmotiv dieses Romans, der fast ausschließlich von Dingen erzählt, die alles andere als "gut" sind. Etwa die Angriffe der Deutschen auf Polen zum Beginn des Zweiten Weltkriegs:
"Alles ist gut…Tosia dachte über diesen Satz nach, der in letzter Zeit so oft wiederholt wurde. Am ersten Schultag hatte man sie nach Hause gejagt, dann hatte ein Bombensplitter den jungen Cabała Garten getötet, Mama hatte in der Küche zweimal geweint, und Papa hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, und trotzdem hörte sie seit ein paar Tagen überall, alles sei gut."

Sprachlos machende Grausamkeit

Dreh- und Angelpunkt der Erzählung ist das Städtchen Chojny. Hier haben sich im Krieg sprachlos machende Grausamkeiten abgespielt - der elende Tod zahlreicher Menschen in einer brennenden Scheune zieht sich als Fanal durch das Buch.
"Jetzt sah Tosia zu, wie das Dach der Scheune einstürzte und Flammen herausschlugen. Das Tor war durch ein großes Stück des qualmenden Strohdachs versperrt. Immer weniger Leute schrien, doch diejenigen, die noch schrien, schienen lauter zu schreien. Wörter konnte Tosia nicht unterscheiden, das waren keine Wörter mehr, das Feuer schoss durch die Löcher im Dach und verbreitete sich nach allen Seiten, der Hühnerstall und die meisten Wagen im Hof brannten schon, es stank nach etwas Scharfem, Süßlichem."

Krieg, Zwangsumsiedlung, Entbehrungen

Dieser Geruch verbrannter Körper ist später auch in der Umgebung des Vernichtungslagers Chełmno - Kulmhof wahrzunehmen. Tosia hat Krieg, Zwangsumsiedlung, Entbehrungen, verzweifelte Selbstmorde als kleines Mädchen miterlebt - und irgendwie überstanden. Als Großmutter muss sie einen weiteren Schicksalsschlag hinnehmen: ihre einzige Tochter und der Schwiegersohn kommen bei einem Autounfall ums Leben.
"Sie waren auf dem Rückweg aus Warschau, Telek fuhr. Der Geruch des Kaffees von der Orlen-Tankstelle mischte sich mit dem Lavendelgestank des Duftspenders, aus der Lüftung kam ein gleichmäßiges Rauschen. Eliza spürte das gestrige Konzert und die Nacht im Hotel am ganzen Körper, eine Nacht mit Wein, mit Telek, mit langen Gesprächen, fast ohne Schlaf."
Die beiden fahren mit ihrem Fiat Uno zurück in die Kleinstadt, nachdem sie am Abend zuvor ein Konzert des Pink-Floyd-Sängers in Warschau besucht haben:
"Sie dachte an ihre Unausgeschlafenheit, an die Stimme von Roger Waters und an all die Konzerte, zu denen sie noch fahren würden. Zwischen Chodów und Kłodawa schlief sie ein. Ein paar Minuten später schlief auch Telek hinterm Steuer ein."

Kurt-Cobain-Gedächtnisfrisur

Seither kümmert sich Tosia um ihren siebenjährigen Enkel Szymek, dessen Aufwachsen den Kern des Romans bildet. Jakub Małecki schlägt eine Brücke vom deutschen Überfall auf Polen 1939 über die Kriegs-und Nachkriegszeit bis in die jüngste Vergangenheit.Der Umbruch vom sozialistischen Staat zur Demokratie wird in diesem Epochengemälde erstaunlich beiläufig erwähnt, als verschwommene Erinnerung.
"Als Lech Wałęsa Präsident wurde, ließ sie sich das Haar zu einem Bob schneiden, und als Kurt Cobain starb, trug sie es wieder bis fast zur Hüfte. Telek nahm in dieser Zeit zu, wieder ab und wieder zu. (…) Er hatte das Gefühl, im Leben auf vieles vorbereitet zu sein – auf das Jahr 1994 war er es nicht. Zuerst brach er sich bei einem Unfall auf der Junak das Bein. Im folgenden Monat wurde sein Blinddarm entfernt."
Der zentrale Erzählstrang beginnt im Jahr 2002, das Szymek zum Waisen macht. Von dort springt der Autor kapitelweise zurück in verschiedene Momente der polnischen Nachkriegsgeschichte, bevor er schließlich im Jahr 2016 endet, als Szymek ein junger Mann geworden ist; ein seltsamer junger Mann, den sie "den Saurier" nennen, weil sein Gesicht wie das eines Reptils aussieht.

Alle treten zu

Von seinen Klassenkameraden wird er gemieden und gefürchtet, aber bei sich bietender Gelegenheit auch misshandelt.
"Er spürte, wie er einen Tritt in den Oberschenkel bekam, dann traf er selbst einen am Hals. Von seinem eigenen Schlag schwankte er, gewann wieder das Gleichgewicht, sah auf und da:
von links
von rechts
auf die Lippe
auf die Stirn
Budzik. Mit erbitterter Miene, mit großen Augen. Szymek trat zurück, hob die Fäuste höher. Er bekam weitere zwei, drei, vier Schläge ins Gesicht, aus der gebrochenen Nase lief ihm Blut aufs Hemd, die Lippe schwoll an. Weder das eine noch das andere spürte er. Bevor er irgendetwas tun konnte, trat
Budzik ihm zwischen die Beine, und dann traten alle zu."

Herausfordernde Lektüre

Durch den Text zieht sich eine bedrückende Traurigkeit. Die Last des Lebens, die diese Kleinstadt-Familie über die Generationen hinweg nicht abwerfen kann, nimmt kein Ende. Die Gewalt - durch Krieg, traumatisierte Soldaten, durch Mitschüler - hat etwas Unausweichliches. Wie ein Naturgesetz. Die Figuren, von der Großmutter Tosia bis hin zum Enkel Szymek, sind Opfer der Umstände, fast ohne die Möglichkeit oder Fähigkeit, sich zu entscheiden oder dem Schicksal zu entrinnen.
Jakub Małecki erzählt in stakkatoartigen Hauptsätzen und einem gelegentlich raunenden Ton. Vieles in diesem Buch ist nur angedeutet, bleibt unausgesprochen, im Vagen. Hinter jedem Satz, hinter jeder Aussage könnte ein weiteres Unheil, ein Geheimnis stecken. Die zahlreichen Sprünge im Erzählfluss und zwischen den Personen machen das Buch zu einer fordernden Lektüre.
Das Bruchstückhafte ist nicht nur produktiv, sondern lenkt auch ab. Die kalte, erbarmungslos beobachtende Sprache scheint hinter den Alltagsbeobachtungen untergründig immer etwas Bedrohliches zu transportieren. "Rost" ist ein sprödes, nicht leicht zugängliches, aber dennoch berührendes Buch. Denn gleichzeitig pocht in diesem geschredderten Rhythmus natürlich die Unrast und Getriebenheit einer mehr als acht Jahrzehnte umfassenden Epoche ständiger Verwerfungen, fokussiert in Szymeks Familie und der Dorfgemeinschaft; auch in dem politisch zerrissenen Polen der Gegenwart ist schließlich nicht "alles gut".
Jakub Małecki: "Rost"
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Secession, Zürich/Berlin, 293 Seiten, 26 Euro.