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Jan Wagner: "Die Live Butterfly Show"
Formkünstler der Gegenwartslyrik

Ein Schmetterling wird in Jan Wagners neuem Gedichtbuch "The Live Butterfly Show" zum Wappentier der modernen Poesie. In seinen Gedichten geht es hoch hinauf zu Luft- und Lebensreisen. Wagners Lyrik übt sich in der Kunst des Schwebens.

Von Michael Braun | 21.11.2018
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    Dichtkunst mit feinem Gespür für bildkräftige Szenen (Buchcover: Hanser Berlin / Autorenportrait: Jelina Berzkalns)
    Der vor einigen Monaten verstorbene Schriftsteller Günter Herburger hat vor vielen Jahren seinen Dichterkollegen empfohlen "Gedichte wie Luftschiffe zu benützen", denn – so Herburger – "wer nicht zu fliegen wage, verzichte auf Übersicht und Mut". In dem Lyriker und Büchner-Preisträger Jan Wagner haben wir nun einen Dichter, der diese Devise Herburgers konsequent umgesetzt hat. In seinem neuen, seinem mittlerweile siebten Gedichtband "Die Live Butterfly Show" stellt er uns zahlreiche Luftreisende und Luftgeschöpfe vor Augen, die das Wagnis des Fliegens eingehen und dabei in einen prekären Schwebezustand geraten.
    Luftgeschöpfe der Poesie
    Der Schmetterling ist eines von vielen Luftgeschöpfen, die sich im Gedichtband "Die Live Butterfly Show" in die Lüfte erheben. Zum Schmetterling als einem Wappentier der modernen Poesie gesellen sich bei Wagner auch noch diverse Vögel wie Krähen, Reiher, Kolibris oder Papageien. Hinzu kommen die flüchtigsten aller Wesen, die Wolken, und als technisches Komplement zu den natürlichen Luftgeschöpfen das erste Luftschiff der Weltgeschichte. Im Schlussgedicht seines neuen Bandes erzählt Jan Wagner nämlich von der ersten Luftreise der Welt, die am 19. September 1783 in Frankreich über die Bühne ging. Vom Schloss Versailles aus startete unter den Augen von König Ludwig XVI. und der Königin Marie Antoinette eine sogenannte Montgolfière, ein Art Ballon, der damals drei Passagiere an Bord hatte. Es waren drei Versuchstiere: ein Schaf, ein Hahn und eine Ente. Beschrieben werden sie als frühe Verwandte von Laika, der berühmten Hündin, so Jan Wagner im Gespräch, die 1957 im Rahmen einer russischen Raumfahrt-Mission ins Weltall befördert wurde.
    "Das sind die drei Tiere, die im Korb dieser Montgolfière aufsteigen und als Versuchstiere missbraucht werden. Im Grunde frühe Verwandte von Laika, dem Hund, der ins All geschossen wurde. Im 18. Jahrhundert, Vorgänger von Laika. Das Gedicht arbeitet mit dreizeiligen Strophen, und alle Reimwörter beziehen sich auf Schaf, Hahn, Ente. Alles reimt sich auf diese drei Tiere, jede der drei Zeilen dieser Strophe reimt sich entweder auf Schaf, oder auf Hahn oder auf Ente. Also als Hommage an diese drei Tiere, die ja überhaupt keine Rolle spielen eigentlich und schnell verschwunden sind, greift jede Strophe ihren Klang nochmal auf, bis sie dann verschwunden sind."
    Tatsächlich ist das Gedicht "schaf, hahn, ente" auch ein Musterbeispiel für das artistische Vermögen Jan Wagners, alle historischen Formen der Poesie zu reaktualisieren und sie für zeitgenössische Verskunst nutzbar zu machen. In "schaf, hahn, ente" wählt er eine Form, die ganz für die drei Wesen gemacht ist, um die es geht:
    schaf, hahn, ente
    19. September 1783
    versailles, sein park, noch alles halb im schlaf,
    als der ballon sich von der erdenbahn
    entfernt. so sagen es die dokumente.
    nur volk, kein pöbel, keine parlamente –
    und seine majestät, umringt von graf,
    und gräfin, der mätresse, dem galan
    mit rohr, in dem konvex oder konkav
    die linse schwebt. ein strick, den man durchtrennte,
    der nie mehr ganz wird – sollte es ein mahn-
    mal sein, was dort am kalten wetterhahn
    vorbeizieht, eine art von epitaph?
    ein ball aus seide längs der windtangente,
    verschwindend über einem spleiß von kahn,
    die untertanen schaf und hahn und ente
    in ihrem korb kaum hörbar, seltsam brav
    in gottes blauem himmel, nur pigmente,
    nicht mehr, und gerade eben noch der hahn,
    die ente, und zu guter letzt das schaf.
    Abenteuerliche Luftreisen
    Die drei missbrauchten Versuchstiere entschweben am Ende des Buches gen Himmel. Es sind viele solche abenteuerlichen Reisen, die uns in der "Live Butterfly Show" vorgeführt werden: Luftreisen, Lebensreisen, Reisen in die Vergangenheit – und Reisen an ein unbestimmtes Ziel. Ganz am Anfang des Buches startet ein alter Motorradfahrer eine Reise ins Ungewisse. Dieser "alte biker" ist in gewisser Weise verbunden mit den drei Versuchstieren, die in der Montgolfière entschweben. Es sind Reisende ohne Aussicht, an einem Sehnsuchtsort anzukommen. Der "alte biker" ist seiner Lieblingstiere beraubt worden, sein Fischteich wurde von Vögeln geplündert. Was ihm bleibt, ist die unendliche Fahrt:
    alter biker
    steigt schnaufend von seiner maschine,
    knarzend in seinem leder, langhaarig, steif
    wie eine mumie aus der bronzezeit.
    wohnt ansonsten, sagt er, in den bergen
    montanas, sagt: vor über fünfzig jahren
    sprang eine junge frau bei ihm auf, kam mit,
    für die er einen fischteich aushob, zehn
    japanische karpfen darin, dann sieben, zwei,
    bis er den grauen reiher sah, der satt
    davonflog. wohnt sonst einsam, sagt er, auf dem
    berg in montana, aber tourt jetzt wieder,
    schwebt breitbeinig über die landstraßen hin mit seiner
    gotteswolke von vollbart, gleitet vorbei
    an fernfahrern, hoch über ihren dieselkanzeln;
    fragt sich noch immer, sagt er, die augen selbst
    im stehen zusammengekniffen in einem fahrtwind,
    von dem wir nichts ahnen, wie der vogel
    gerade seinen teich entdecken konnte,
    ausgerechnet seinen winzigen fischteich
    im ungeheuren, riesigen montana.
    Angesichts solcher Szenen wird sehr schnell deutlich, dass Jan Wagner die abgründige Komik dem schweren Pathos vorzieht.
    Neben dem "alten Biker" gibt es noch ein paar weitere eigensinnige und widerständige Figuren in der "Live Butterfly Show", die aber alle nicht so imposant sind wie der Motorradfahrer mit Rauschebart.
    "Der Motorradfahrer, der am Anfang hereinrauscht, ist insofern auch verbunden mit den drei Wesen, die am Schluss des Buches in ihrer Montgolfière entschweben. Also auch da eine Motiv-Verbindung. Ja, Motorradfahrer mit Bart sind beeindruckend – selbst dann , wenn ihnen die japanischen Karpfen abhanden kommen."
    Die Anmut der Poesie
    Dieser Dichter hat ein sehr feines Gespür für bildkräftige Szenen, für die gleichnishafte Darstellung von Naturstoffen und für exemplarische Figurationen unserer modernen Alltagswelt. "Anmut", heißt es in dem herrlichen Gedicht "tang" – "Anmut ist eine Frage der Strömung". Und dass hier die sorgfältige Herstellung poetischer Anmut gelingt – das ist der primäre Grund für die Erfolgsgeschichte des Dichters Jan Wagner.
    Jan Wagner: "Die Live Butterfly Show. Gedichte."
    Verlag Hanser Berlin.
    100 Seiten, 18 Euro.