Freitag, 19. April 2024

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Lyriker Jan Wagner
"Büchner ist ein Klassiker im allerbestem Sinne"

Eine "völlig frische Sprache" und hochmoderne Bilder - das mache die Sprachkraft des Dramatikers Georg Büchner aus, sagte der neue Büchner-Preisträger Jan Wagner im Dlf. Jeder Schüler könne das spüren. Wagner betonte, dass Lyrik derzeit immer mehr neue Hörer und Leser finde.

Jan Wagner im Gespräch mit Jan Drees | 20.06.2017
    Porträtfoto des Lyrikers Jan Wagner.
    Jan Wagner, Georg-Büchner-Preis-Gewinner 2017 im DLF: "Ich glaube, Büchner ist einfach ein Klassiker in allerbestem Sinne, der nicht gealtert ist und dessen Sprachkraft immer noch spürbar ist für jeden, der ihn liest." (dpa/picturealliance/Jens Kalaene)
    Jan Drees: Herr Wagner, als wir das erste Mal am heutigen Tag telefonierten, war es kurz vor zehn Uhr und Sie auf dem Weg zu einer Schullesung, die Sie ja dann trotz des Büchner-Preises auf keinen Fall absagen wollten. Sie selbst haben im gewohnten Bescheidenheitsgestus auf die Bekanntgabe der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung reagiert. Wie aber war die Reaktion Ihres jungen Publikums?
    Jan Wagner: Die wussten davon gar nichts, denn wir haben begonnen sozusagen, bevor die Meldung durch war und haben erst mal die zwei Stunden miteinander verbracht und gelesen und über Lyrik geplaudert. Die Nachricht kam dann erst durch die Moderatorin, als wir schon fertig waren mit der Lesung und wurde freundliche aufgenommen von den Schülern, aber da war die Veranstaltung schon vorbei.
    Lebendige deutschsprachige Lyrikszene
    Drees: Im Dienst der Lyrik sind Sie seit geraumer Zeit im Einsatz, nicht nur als Autor eigener Gedichtbände wie "Probebohrung im Himmel" 2001 oder "Regentonnenvariationen" 2014, letztes Jahr dann auch ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse. Nein, Sie haben auch gemeinsam mit Ihrem Kollegen Björn Kuhligk den viel beachteten Sammelband "Lyrik von Jetzt" im Kölner DuMont Verlag herausgegeben. 2003 war das. Später gab es dann auch "Lyrik von Jetzt 2". In welcher Weise sind Sie Werbender für die lyrische Gattung?
    Wagner: Wer Lyrik schreibt, der liest auch Lyrik und begeistert sich für die Lyrik anderer, ob das jetzt deutschsprachige Dichterinnen und Dichter sind oder, wie bei mir oft der Fall, englischsprachige Dichter, und wenn man sich begeistert für etwas, möchte man das ja auch anderen mitteilen. Das heißt, die Anthologie entstand, weil Björn Kuhligk und ich beide mit Begeisterung sahen, wie lebendig die deutschsprachige Lyrikszene wurde, wie sich das entwickelt und wie viele aufregende Stimmen es zu entdecken gab und die meisten Leser das sozusagen nicht mitbekommen konnten, weil sich viel davon in Zeitschriften, in kleinen Verlagen, in Anthologien abspielte, war die Idee naheliegend, all das mal zu bündeln und zu präsentieren, und das gehört auch dazu, glaube ich, dass man die Begeisterung für Lyrik vermittelt, indem man Anthologien zusammenstellt zum Beispiel oder, wie das viele Lyrikerinnen und Lyriker ja auch tun, eine Zeitschrift herausgibt – deutschsprachige Dichter, aber auch fremdsprachige Dichtung in Übersetzung dann einem Publikum, einem geneigten Publikum präsentieren.
    "Die Essays von Auden gehören zum Besten, was man überhaupt lesen kann"
    Drees: Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung begründete heute die Ehrung mit den Worten, Ihre Gedichte, Herr Wagner, ich zitiere: "verbinden spielerische Sprachfreude und meisterhafte Formbeherrschung, musikalische Sinnlichkeit und intellektuelle Prägnanz. Entstanden im Dialog mit großen lyrischen Traditionen, sind sie doch ganz und gar gegenwärtig". Auch mit Augenmerk auf Ihre zahlreichen Übersetzungen: mit welchen Dichtern stehen Ihre Texte im Dialog?
    Wagner: Mit vielen. Also es ist so, dass natürlich die deutsche Tradition enorm wichtig ist. Also all die Dichter, die man jetzt nennen könnte, sind für vermutlich für alle, die in Deutschland Gedichte schreiben, wichtig – ob das Trakl ist oder Hölderlin und so weiter und so fort –, aber für mich war es eben immer auch die englischsprachige Dichtung, die im Vordergrund stand, und auch da könnte ich eine ganze Reihe von Autoren nennen. Zum Beispiel, um nur ein paar zu nennen: Ted Hughes, der englische Lyriker wäre sehr wichtig für mich. Seamus Heaney, der großartige irische Dichter, aber auch, wenn man zur klassischen Moderne sozusagen zurückschaut, Dichter wie Wallace Stevens, William Carlos Williams und so weiter. Also das wären alles Dichter. Auch Elizabeth Bishop zum Beispiel, die für mich enorm wichtig war und sehr prägend. In England, Dichter wie Wystan Hugh Auden, der nicht nur fantastische Gedichte geschrieben hat, die Totenklage auf Yeats, den irischen Nobelpreisträger und andere, sondern auch sehr klug über Dichtung geredet hat.
    Also die Essays von Auden gehören zu dem Besten, was man überhaupt lesen kann über Lyrik, und sowas prägt einen dann natürlich enorm. Die ganze angloamerikanische Lyrik ist so der Hallraum, in dem ich mich bewege.
    Büchner: "eine Sprachkraft, die nicht nachgelassen hat"
    Drees: Jetzt haben wir gesprochen über die angloamerikanische Lyrik, über die Literaturtradition, in der Sie stehen. Viel ist darüber auch schon gesagt und geschrieben worden. Nun werden Sie aber ausgezeichnet mit dem größten deutschsprachigen, mit dem Georg-Büchner-Preis, dessen Namensgeber noch in Woyzeck-Zeilen schrieb wie diese: "Über der Stadt ist alle Glut, ein Feuer fährt um den Himmel und ein Getös herunter wie Posaunen." Was verbindet Sie, Herr Wagner, unaufgeregter Zeitgenosse des Jahres 2017 mit dem stürmisch zerrissenen Autor aus dem fernen 19. Jahrhundert?
    Wagner: Ich glaube, Büchner ist einfach ein Klassiker in allerbestem Sinne, der nicht gealtert ist und dessen Sprachkraft immer noch spürbar ist für jeden, der ihn liest. Jeder Schüler spürt das, der ihn liest, der natürlich nicht als Lyriker berühmt wurde, sondern als Dramatiker, aber dessen Dramen eben doch das sind: groß Dichtung. Das heißt, auch wenn sie von realen Ereignissen ausgehen, übersteigen sie doch deutlich die Realität und sind von einer Sprachgewalt, die sich heute noch mitteilt.
    Also völlig frische Sprache, das spürt jeder, der ihn liest, auch wenn Worte oder Wendungen antiquiert sein mögen, aber das ist eine Sprachkraft, die nicht nachgelassen hat. Ein Umsetzen von Welt und von realen Geschehnissen in Sprache, die einen begeistern müssen, in der Bilder vorkommen, die hochmodern sind und die sozusagen auch viel von der modernen Lyrik schon vorwegnehmen. Also wenn es bei "Dantons Tod" irgendwo heißt, dass man 50 Jahre lang am Sargdeckel kratzt oder man in vierfachen Särgen begraben ist, nämlich im Himmel und in den Häusern und der eigenen Kleidung und so weiter, das ist ja großartige Poesie, und insofern genauso wie wahrscheinlich Shakespeares Stücke auch als große, wenn auch sehr lange Lyrik wahrnehmbar.
    Gedichte laut lesen
    Drees: Wir haben zu Beginn des "Büchermarktes" Ihr Gedicht "giersch" gehört aus unserer Sendung "Lesezeit". Da die Lyrik nun eine genuin performativ-musikalische Gattung ist, andererseits auch öffentlich Literaturveranstaltungen und ihr damit verbundener Erlebnisgewinn ein immer höheren Stellenwert besitzen, welche Bedeutung hat für Sie der mündliche Vortrag der eigenen Lyrik?
    Wagner: Eine immense Bedeutung, denn es ist ja so, das spürt man schon, wenn man Gedichte zu Hause alleine liest: Lyrik hat immer diese klangliche Ebene und ein hochmusikalisches Element, und wer sozusagen Gedichte sich nicht selbst laut vorliest, verpasst ungeheuer viel, auch auf inhaltlicher Ebene, weil natürlich alles, was verhandelt wird an Inhalt, an Bild, auch sprachlich, sprachmusikalisch umgesetzt wird, und das ist auch beim öffentlichen Vortrag von Gedichten so: Viele sagen ja, dass sie Gedichte im Grunde erst dann verstehen – oder verstehen ist vielleicht zu viel gesagt, aber einen Zugang finden zum Gedicht, wenn sie es hören, wenn sie hören, wie jemand – im besten Falle die Dichterin oder der Dichter selbst – ein Gedicht vorträgt.
    Viel eröffnet sich adurch den Klang, und es wäre ein Jammer sozusagen, wenn diese Musik, die im Gedicht liegt und die Teil des Rausches ausmacht, der ein Gedicht auszeichnet, würde verlorengehen, wenn es nicht laut vorgetragen wird. Insofern ist es enorm wichtig, Gedichte laut vorzutragen, es ist mir wichtig, meine Gedichte laut vorzutragen, und abgesehen davon ist es natürlich schön, wenn man bei solche Vorträgen dann auch ins Gespräch kommt mit anderen Lyriklesern.
    "Man ist gezwungen, neue Bilder anzustreben"
    Drees: Vom Inhalt und Musikalischen kurz zur Form, weil Sie mich wirklich sehr interessiert: Über Ihr Formbewusstsein ist vielfach in den vergangenen Jahren geschrieben worden, denn auch wenn auf inhaltlicher Ebene Ihre Gedichte vom unalltäglichen Blick auf die alltäglichsten Phänomene, von der gestalteten Schau auf das Natürlichste, wie eben den angesprochenen "giersch" erzählen, so werden diese Alltäglichkeiten und Naturalia aufgehoben in traditionellen Formen – von der sapphischen Ode über die italienische Madrigalform bis zum klassischen Sonnet – in einer Zeit, die in der Realität Kennzeichen zu sein scheint für einen immer weitreichenderen Formverfall, wird der Form in der Literatur dafür umso mehr Platz eingeräumt, habe ich das Gefühl. Die Novelle ist ja auch wieder im Vormarsch. Was reizt Sie an der Form?
    Wagner: Man muss vielleicht erst sagen, dass ich natürlich nicht nur Formen oder traditionelle Formen verwende. Gedichte sind immer Form oder geformte Sprache, aber ich schreibe auch in sogenannten freien Versen, also ohne Strophen, ohne feste Rhythmen, also frei rhythmisch und strophenlos, aber es stimmt, dass ich großes Vergnügen habe an alten Formen. Befreundete Dichterinnen und Dichter, sagen sie, würden das nicht wollen, in festen Formen zu schreiben, weil sie sagen, es sei eine Einschränkung und ein Zwang, und für mich ist das Gegenteil wahr: Diese Formen oder die Auseinandersetzung mit alten Formen bedeuten für mich einen Zugewinn an Freiheit, erst mal deswegen, weil die Formen alle ihren eigenen Reiz haben, also die Formen, die Sie genannt haben, aber auch Sachen wie die Villanelle oder das Haiku, die Sestine.
    Alle haben ihren eigenen Reiz, weil sie mit Wiederholungen spielen und auch deswegen hochmusikalisch sind natürlich, und es ist tatsächlich so, dass wenn man sich auf diesen sanften Zwang aller Formen einlässt, diese Form einen animiert oder zwingt, neue Bilder anzustreben, neue gedankliche Bereiche sich zu erschließen, der sanfte Zwang in einem Reim oder eine feste Struktur wie das Sonnet, ein Strophenschema ausübt, sorgt dafür, dass man im besten Falle vom eigenen Gedicht überrascht wird, und schöner kann es eigentlich nicht sein, als dass man beim Schreiben plötzlich aufmerkt, sich gerade hinsetzt und sagt, Donnerwetter, ich hätte nicht gedacht, dass ich ausgehe von diesem Wort, diesem Gegenstand, und an dieser Stelle ende, und dieser Reimzwang oder Formzwang führt genau dazu.
    Dass man die Formen natürlich nicht zwanghaft erfüllen muss und dass Formen auch eine belastende Wirkung haben können, wenn man sich der Form zu sehr ergibt, das ist keine Frage. Es geht also nicht darum, eine Form bloß aufzufüllen, sondern die Form zu nutzen, damit das Gedicht sozusagen vollkommen erfüllt wird, und das ist der Reiz an Formen.
    "Es geht schon um Fragen der Form"
    Drees: Im "Kultur heute" werden meine Kollegen auch mit Ihrer Lektorin sprechen, mit Julia Graf, heute ab 17:30 Uhr. Ohne, dem Gespräch jetzt vorauszugreifen, aber wie findet denn so ein Lektorat statt, was bespricht der Lyriker mit seiner Lektorin?
    Wagner: Unter anderem natürlich die Gedichte, wenn sie irgendwann mal zu einem Manuskript gefunden haben, und da ich jetzt mit Julia Graf schon seit langer Zeit zusammenarbeiten darf, was ein großes Vergnügen ist, vertraut man sich auch beim Gespräch und spricht sozusagen alle vielleicht auch heiklen Punkte offen an. Das heißt, man sitzt zusammen mit den Gedichten, und dann geht es schon um Fragen der Form, um Fragen auch der Reihenfolge natürlich innerhalb des Manuskriptes, denn es ist ja immer die Frage, wie diese einzeln entstandenen Gedichte zu einer Reihenfolge finden, die stimmig ist und die sozusagen einen Zusammenklang all der Gedichte ergeben.
    Das sind Fragen, und dann natürlich Fragen, die die Stimmigkeit von Metaphern betreffen und das Gelungene oder vielleicht nicht Gelungene von gewissen rhythmischen Passagen, von Reimen und so weiter und so fort, das sind manchmal nur Detailfragen, die angesprochen werden, aber immer dazu führen, dass das Gedicht ein besseres ist am Schluss.
    "Es steht ganz hervorragend um die Lyrik"
    Drees: Um mit einer abschließenden Frage zum Anfang noch mal kurz zurückzukehren: Sie haben vorhin erzählt, wie es überhaupt zu dem Band "Lyrik von Jetzt" gekommen ist. Damals war die Lyrikszene langsam im Aufwind. Inzwischen ist die Renaissance der deutschen Dichtung da. Sie wurde schon 2015 ganz laut ausgerufen, als Sie geehrt wurden mit dem Preis der Leipziger Buchmesse für Ihren Band "Regentonnenvariationen", aber in der Zwischenzeit ist ja sehr, sehr viel passiert.
    Monika Rinck hat fast alle Preise bekommen, auch Preise, die keine genuinen Lyrikpreise sind. Dann, wenn man weiter ins internationale guckt: Bob Dylan bekam den Literaturnobelpreis, Kate Tempest ist in aller Munde. Wie steht es denn jetzt um die Lyrik im Jahre 2017, und wie wird es weitergehen?
    Wagner: Es steht ganz hervorragend um die Lyrik, weil ja nicht nur die Dichter, die wir damals präsentieren konnten in der "Lyrik von Jetzt"-Anthologie oder in den Anthologien weiterschreiben und weiter Bücher veröffentlichen und großartige Gedichte weiter verfassen, dass also nicht nur diese Stimmenvielfalt, die damals schon da war, immer noch erklingt, sondern auch immer neue und jüngere nachkommen. Das heißt, es geht der Lyrik, glaube ich, ausgezeichnet, und mein Eindruck ist auch, dass immer mehr Leser oder Hörer wahrnehmen, dass da eine ungeheure Vielfalt zu entdecken ist.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.