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Jean-Philippe Toussaint: „Der USB-Stick“
Kein Cyberkrimi

Zwei Lobbyisten umgarnen einen Abteilungsleiter der Europäischen Kommission. Er bleibt reserviert, bis er einen USB-Stick mit verräterischem Material findet. Jean-Philippe Toussaint legt die Fährte für einen Cyberkrimi aus, der dann aber überraschende – und nicht immer plausible - Wendungen nimmt.

Von Dina Netz | 05.03.2020
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Der 1957 in Brüssel geborene Jean-Philippe Toussaint ist eine der wichtigsten und eigenwilligsten Stimmen der französischsprachigen Gegenwartsliteratur. (AFP / JEAN-PIERRE MULLER)
Als literarischer Spieler ist Jean-Philippe Toussaint geschickt. Seit jeher lässt er Leseerwartungen ins Leere laufen. Insofern ist allenfalls erwartbar, dass der Roman, in dem Toussaint über internationale Cyberkriminalität schreibt, kein Krimi oder Thriller sein wird. Zumindest kein klassischer.
Toussaints Hauptfigur Jean Detrez ist Leiter einer Abteilung für Zukunftsforschung bei der Europäischen Kommission. Zurzeit beschäftigt er sich mit den Chancen und Risiken der Blockchain-Technologie, einer Speichermethode, auf die unter anderem die Bitcoin-Währungen zurückgreifen. Mit langatmigen Ausführungen zur (Nicht-)Vorhersagbarkeit der Zukunft beginnt "Der USB-Stick". Schweres theoretisches Gepäck, das dem Protagonisten aufgebürdet wird.
Spurenelemente einer Handlung
Als endlich Spurenelemente einer Handlung einsetzen, verstrickt Toussaint seine Hauptfigur in einen Gewissenskonflikt: Detrez wird von zwei Lobbyisten angesprochen. Die bulgarische Firma für Datenverarbeitung, in deren Auftrag die Lobbyisten auf ihn zugehen, hat einen Antrag auf Fördermittel bei der Europäischen Kommission eingereicht.
"Die Unterlagen für den Antrag lagen vor, das war der Grund, warum man an mich herangetreten war, ich sollte diese Unterlagen lesen und auf die Übereinstimmung mit der europäischen Rechtsprechung hin prüfen und wenn nötig sie an diese anpassen. Kurz, sie erwarteten von mir, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, eine diskrete juristische Beratung."
Natürlich ist Detrez klar, dass er sich von den Lobbyisten fernhalten muss, um sich nicht der Korruption verdächtig zu machen. Aber seine Neugier auf der einen und ein unbestimmter Verdacht auf der anderen Seite lassen auf das erste Treffen schnell ein zweites folgen – und dann weitere. Bei einer dieser diskreten Begegnungen verliert einer der Lobbyisten den titelgebenden USB-Stick. Detrez nimmt ihn an sich. Die darauf gespeicherten Dokumente enthalten Indizien für einen weltumspannenden Betrugsplan. Doch statt den Stick der Polizei zu übergeben, setzt sich Jean Detrez in ein Flugzeug, um sich bei den chinesischen Partnern der Bulgaren selbst ein Bild zu machen – ohne seinen Arbeitgeber, die Europäische Kommission, zu informieren.
Zum Gähnen unoriginell
Spätestens jetzt schlägt man beim Lesen die Hände über dem Kopf zusammen. Wie kommt Detrez auf die abstruse Idee, auf eigene Faust in China zu recherchieren? Wie hat es jemand, der über so wenig gesunden Menschenverstand verfügt, zu einer leitenden Position in der Europäischen Kommission gebracht?
Detrez macht sich (zu) wenig Gedanken über seine eigene Situation, dafür viele über Chinas technologischen Vorsprung gegenüber Europa. Leider sind seine Überlegungen zum Gähnen unoriginell:
"Frau Li steht im Alter von nicht einmal vierzig Jahren bereits an der Spitze eines Konsortiums von Firmen elektronischer Datenverarbeitung, die mehrere Milliarden Yuan wert sein dürften. Eine solche Dynamik ist nur denkbar, weil es in China nicht diese hyperverbindlichen Reglementierungen gibt, die wir in Europa mit großem Stolz hochhalten. Vielleicht muss man darin einen strukturellen Fehler Europas erkennen, aber es ist eine Tatsache, dass wir uns ständig ausbremsen und uns Fesseln anlegen, aus Respekt gegenüber geltenden Normen des Umweltschutzes, wegen unserer Moral, unserer Ethik, unseres humanistischen Ideals, das wir der Welt demonstrieren."
So oder ähnlich liest man es in jedem Zeitungsbericht über die Weltwirtschaft. Natürlich scheitert Jean Detrez' Vorhaben, in China Aufschlussreiches über die Machenschaften der Firma zu entdecken. Kläglich. Irgendwie scheint auch sein Autor das Interesse an diesem lieblos geknüpften Handlungsstrang zu verlieren. Denn er lässt ihn einfach fallen und geht zu einer gänzlich anderen Geschichte über.
Ein Mann, der sich selbst fremd ist
Am Ende steht man als Leserin ungläubig mit Jean Detrez am Totenbett seines Vaters und fragt sich, was man da eigentlich gerade gelesen hat. Die typischen Merkmale eines Toussaint-Romans sind auch in "Der USB-Stick" alle da: der halt- und konturlose Erzähler, der Verzicht auf Psychologie, plastische Beschreibungen, eine dichte, etwas entrückte Atmosphäre, der subtile bis skurrile Humor. Aber das alles fügt sich diesmal nicht zu einem Ganzen. Wahrscheinlich wollte Jean-Philippe Toussaint mit seiner zersplitterten Geschichte voller Brüche und überraschender Wendungen einmal mehr von einem Mann erzählen, der sich selbst fremd ist. Wen das reizt, der nehme lieber einen der zahlreichen anderen Romane von Toussaint zur Hand. Auch darin erzählt Jean-Philippe Toussaint keine konventionellen Geschichten. Aber plausible.
Jean-Philippe Toussaint: "Der USB-Stick"
Aus dem Französischen von Joachim Unseld, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a.M., 192 Seiten, 22 Euro