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"Jeder Mensch wird auf eine andere Art und Weise alt"

Für das diesjährige Internationale Literaturfestival Berlin haben die Veranstalter zehn internationale Autorinnen und Autoren eingeladen, die über die Altersbilder in ihrer Kultur schreiben. Der Schwerpunkt "Weltweisheit" verstehe sich als beispielhaftes Projekt dafür, übers Altwerden zu sprechen, erklärt Programmleiter Thomas Böhm.

Thomas Böhm im Gespräch mit Stefan Koldehoff |
    Stefan Koldehoff: Für ältere Menschen, die die Werbung heute gern (Achtung, Verein Deutsche Sprache: Sprachpanscherei!) "Best Agers" nennt, gibt es inzwischen eigene Fernsehkanäle, eigene Kosmetikserien, eigene Hotels mit Kinderverbot. Fluggesellschaften denken darüber noch nach. Nun zieht das Literaturfestival Berlin nach: mit einem Schwerpunkt zum Thema Altern. Der heißt aber nun nicht "Literatur übers Älterwerden", sondern: "Weltweisheit". Thomas Böhm, Programmleiter des Festivals: Weil Altsein für die Literatur gleich Weisesein bedeutet?

    Thomas Böhm: Ursprünglich ja, denn im ersten literarischen Text, den wir hier in Europa kennen, in der Ilias, gibt es einen alten Menschen, Nestor, und dieser Nestor ist eines der prägenden Altersbilder hier für unseren Kulturraum. Das ist nämlich der alte Mensch, der die anderen berät, weil er sich in irgendeinem Fach besonders auskennt. Und viele der Bilder, die wir vom Alter haben, sind über die Literatur vermittelt worden: Methusalem aus der Bibel zum Beispiel, aber auch im 19. Jahrhundert. Die Idee, dass zum Beispiel ältere Menschen eine besonders gute Beziehung zu Kindern haben, dass der Opa und das Kind sich besonders gut verstehen, das ist im Grunde genommen eine "Erfindung" des 19. Jahrhunderts. Im 18. Jahrhundert, im patriarchalen Verhältnis, war das noch völlig undenkbar. Im 19. Jahrhundert, in der Industrialisierung, wo plötzlich die Familien große Arbeitsleistungen zu tun hatten in den Fabriken, da wurden die Großeltern quasi als Babysitter entdeckt, und da kam dann auch noch so eine schöne Ideologie drüber. Das finden Sie ausgedrückt zum Beispiel in den Romanen von Victor Hugo, in den Gedichten von Theodor Storm. Da gab es aber schon Gegenstimmen in der Zeit. Charles Dickens hat gesagt, das kann doch wohl nicht sein: Ausgerechnet ältere Menschen zusammenbringen mit den Kindern. Diese älteren Menschen, die ihr Leben schon verfehlt haben, die all die schlechten Eigenschaften haben. Also es gibt eine enge Beziehung von Altersbildern und Literatur.

    Koldehoff: Nun hätten Sie es sich einfach machen können und prominente Schauspieler einkaufen können, die dann Texte aus der Bibel, aus der Ilias, von Victor Hugo bis Theodor Storm hätten lesen können. Das haben Sie nicht gemacht, sondern?

    Böhm: Wir haben zehn internationale Autorinnen und Autoren eingeladen, die über die Altersbilder in ihrer Kultur schreiben. Von einem Aborigine-Autor bis hin zu einer Autorin aus der afrokubanischen Kultur, die darüber schreiben, welche Erfahrungen haben sie im Laufe ihres Lebens mit alten Menschen gemacht, wie hat sich das Altersbild natürlich auch in deren Kulturen verändert. Dabei kommen ganz viele interessante Sachen heraus. Zum Beispiel: Heute Abend ist die Eröffnung, da spricht die kubanische Schriftstellerin Nancy Morejón. Und die wird zum Beispiel darüber erzählen, dass die Anwesenheit alter und selbst ältester gebrechlicher Menschen im Stadtbild, im Alltagsleben in Havanna selbstverständlich ist. Wenn sich die Leute da abends auf der Straße treffen, dann sind da wie selbstverständlich alte Menschen dabei. Jetzt kann man ganz pointiert sagen, wie ist es denn bei uns. Im Alltagsleben sind alte und älteste Menschen wie selbstverständlich weg. Man sieht die kaum noch.

    Koldehoff: An wen richten sich diese Texte, die Sie ja offenbar schon zu kennen scheinen? Auch eher an ein älteres Publikum oder gerade ans Gegenteil?

    Böhm: Nein, es heißt ja "Kulturen des Alterns", nicht "Kulturen des Alters". Altern ist ein Prozess, den wir lebenslang durchlaufen. In dem Moment, wo wir beide sprechen, altern wir auch. Und man muss sich mit dem Altern auseinandersetzen. Die Gesellschaft muss sich damit auseinandersetzen. Jeder von uns kennt ja das Phänomen: Unsere Eltern werden zum Beispiel alt, aber wir sprechen ja gar nicht übers Altwerden. Und viele Sachen, die einem dann passieren, wenn man alt wird, da ist man sehr alleine gelassen damit. In dem Sinne versteht sich unser Projekt auch als beispielhaftes Projekt dafür, übers Altern, übers Altwerden zu sprechen, zu vermitteln die Erfahrungen, die alte Menschen haben, damit auch jüngere Menschen sich zum einen darauf einrichten können, sowohl auf das Altwerden als auch das Sprechen mit alten Menschen.

    Koldehoff: Und wenn Sie gerade schon hinweisen auf die Unterschiede beispielsweise zwischen Havanna und Berlin, dann muss ich davon ausgehen, dass es so etwas wie ein globalisiertes Älterwerden oder Älterfühlen auch gar nicht gibt?

    Böhm: Nein! Das ist ganz wichtig. Jeder Mensch wird auf eine andere Art und Weise alt, und ich weiß da ein schönes Beispiel: Wir fangen heute Abend an mit einer Tanz-Performance. Menschen, die fast alle pensioniert sind, tanzen den Bolero. Das Projekt ist hervorgegangen aus diesem bekannten Projekt "Rhythm is it", was Sir Simon Rattle unter anderem initiiert hat. Ein Ansatz könnte sein, dass man sagt, das sind alte Menschen, da muss man ein bisschen aufpassen, sie sind gebrechlich. So würde das die Gesellschaft wahrscheinlich machen: alte Menschen sind so und so, alle über einen Kamm geschert, vorauseilende Rücksichtnahme und Vorsicht. Dieses Tanzprojekt macht das anders. Sie haben im Gespräch mit den alten Menschen gehört: Was wollt ihr, was ist eure Idee? Dann sagten die, wir möchten was mit Leidenschaft machen und wir möchten was machen, wo wir uns zeigen können. Dann ist das Projekt daraus entwickelt worden: Was können die, worauf haben die Lust? Statt zu sagen, ihr könnt nur das und das, weil ihr alte Leute seit.

    Koldehoff: Thomas Böhm war das über das Literaturfestival Berlin.


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