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Jeder zehnte Erwachsene ist überschuldet

Die Zahl der Verbraucherinsolvenzen ist im vergangenen Jahr um 5,5 Prozent gesunken. Die Entwicklung scheint nur auf den ersten Blick positiv, denn es bleibt eine riesige Dunkelziffer: Bis zu sieben Millionen Privatleute, so Schätzungen, sind in Deutschland hoffnungslos verschuldet.

Von Michael Castritius |
    Damit ist die Zahl der Insolvenzen von Verbrauchern unter die 100.000-Marke abgesunken. Genau 97.635 Fälle waren es 2012. Bereits zum dritten Mal seit Einführung der Insolvenz-Ordnung 1999 gab es weniger Verbraucherinsolvenzen als im Vorjahr. Sogar um 5,9 Prozent sank die Zahl der Insolvenzen von Personen, die zuvor selbstständig tätig waren, gut 20.000 Fälle nur noch.

    Eine nur auf den ersten Blick positiv scheinende Entwicklung, denn es bleibt ein schwarzer Fleck – eine riesige Dunkelziffer: bis zu sieben Millionen Privatleute, so Schätzungen, sind in Deutschland hoffnungslos verschuldet. Tendenz steigend. Da sind die knapp 100.000, die im letzten Jahr das Verbraucher-Insolvenz-Verfahren genutzt haben, eine sehr kleine Minderheit. Über die Gründe wird gerätselt, sagt der auf solche Verfahren spezialisierte Anwalt Kai Henning aus Dortmund:

    "Eine Vermutung ist, es gibt zu wenige Schuldnerberatungsstellen und der Anwalt ist für die Überschuldeten zu teuer. Zweite Vermutung: Es gibt seit gut anderthalb Jahren das Pfändungsschutz-Konto. Dadurch, dass das Konto geschützt worden ist, ist der Druck jetzt nicht mehr so stark, in ein Verbraucherinsolvenzverfahren zu gehen."

    Und so beunruhigen die gegenläufigen Tendenzen: Es gibt mehr Verschuldete, aber weniger Verbraucher, die den Ausweg der Insolvenz nutzen. Wahrscheinlich erscheint er vielen als ein zu steiniger, zu schmerzhafter Weg: Jahrelang überlässt man seine finanziellen Entscheidungen Außenstehenden.

    "Man wird natürlich auf eine gewisse Art und Weise schon kontrolliert. Das ist sozusagen systemimmanent, man muss das Vermögen, was man hat, was pfändbar ist, hergeben. Man hat eine Erwerbsobliegenheit, das heißt man muss sich zumindest intensiv um eine Arbeit bemühen. Aber das sind auch alles Risiken die sie haben, wenn sie überschuldet sind und Zwangsvollstreckung erleben."

    Diese unerträgliche Schuldenlast erleben zunehmend sehr junge und sehr alte Verbraucher. Darin spiegelt sich durchaus die wirtschaftliche und die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands, beobachtet Anwalt Kai Henning.

    "Sie haben natürlich bei den Jungen diejenigen, die gerade ins Berufsleben gestartet sind und investiert haben. Dann hat der Start ins Berufsleben vielleicht doch nicht so geklappt und sie haben die Wohnungseinrichtung, den PKW angeschafft und können Ratenverbindlichkeiten dann nicht mehr zahlen. Bei den Älteren ist es so, denke ich, dass sich da über Jahre oft etwas aufbaut, Altersarmut. Wenn sie natürlich jahrelang da mit geringem Einkommen leben müssen und dann in einen geringen Rentenbezug wechseln, dann können sie da auch Schwierigkeiten bekommen."

    Schwierigkeiten, die weit über die finanziellen Probleme hinausgehen. Hoffnungslose Überschuldung belastet die Psyche, kann zu Mutlosigkeit, Verzweiflung und Depressionen führen. Die rund 1.100 Schuldnerberatungsstellen sind da erste Anlaufpunkte, das Insolvenzverfahren ist der befreiende Notausgang. Das hat Kai Henning in seiner Praxis immer wieder erleben dürfen.

    "Ich persönlich kann nur sagen aus meiner Arbeit als Anwalt, dass es einfach Spaß macht, da so eine Familie wieder aufs Gleis zu setzen und eine für beide Seiten, also für die Schuldner- und die Gläubigerseite hoffnungslose Situation aufzulösen. Die bestehenden Schulden können ja einfach definitiv nicht mehr gezahlt werden. Dann hat man dieses Verfahren, was im Grunde vermittelt zwischen Schuldner und Gläubiger und am Ende steht dann die Restschuld-Befreiung."

    Bitteres Fazit: Die zunächst so positiv erscheinende Statistik – die Zahl der Verbraucher-Insolvenz-Verfahren sinkt – erweist sich bei genauem Hinsehen als schlechtes Zeichen. Denn sie zeigt, dass immer weniger Privatleute dieses Hilfsangebot nutzen – und auf ihren Schulden sitzen bleiben.