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Jennifer Egan: "Manhattan Beach"
Das Meer, das Meer!

Jennifer Egan gilt als die postmoderne Autorin par excellence, die auch schon mal ein Kapitel als PowerPoint-Präsentation erzählt. Mit „Manhattan Beach“ legt sie einen historischen Roman vor: über Seefahrt, organisiertes Verbrechen und Taucher während des Zweiten Weltkriegs. Dabei bleibt sie sich trotz allem treu.

Von Mithu Sanyal | 14.10.2018
    Buchcover: Jennifer Egan: "Manhattan Beach" und historisches Bild des Marine Hafens in Brooklyn, New York
    Historische Ansicht des Marine Hafens in Brooklyn, New York (Buchcover: S. Fischer Verlag, Foto: Imago Stock & People/ Arkivi)
    Beginnen wir an dem Punkt, an dem sich Land und Wasser berühren. Beginnen wir am Anfang von "Manhattan Beach": Die 11-jährige Anna Kerrigan steht ohne Schuhe am Strand und starrt auf das graue Wintermeer.
    "Der Anblick des Meeres löste in Anna jedes Mal ein ganz bestimmtes Gefühl aus: eine elektrisierende Mischung aus Furcht und Verlockung. Was wäre zu sehen, wenn die Wassermassen plötzlich verschwänden? Eine Landschaft der verlorenen Dinge: gesunkene Schiffe, verborgene Schätze, das Bettelarmband, das von ihrem Handgelenk gerutscht und in einen Gully gefallen war. Leichen, fügte ihr Vater stets lachend hinzu."
    Doch dieses Mal lacht Annas Vater, nicht. Denn Eddie Kerrigan versucht verzweifelt, den Mann zu beeindrucken, dem der Privatstrand am titelgebenden Manhattan Beach gehört: den reichen und mächtigen Dexter Styles. Doch wer Dexter schließlich beeindruckt, ist Anna mit ihren knochigen weißen Füßen im eiskalten Wasser.
    "Mr. Styles hockte sich neben sie in den Sand und sah ihr in die Augen. 'Warum die nackten Füße?' Sie konnte sogar bei diesem Wind Pfefferminz und Alkohol in seinem Atem riechen. 'Tut nur am Anfang weh', antwortete sie. 'Nach einer Weile spürt man nichts mehr.'
    Mr. Styles grinste, als wäre ihre Antwort ein Ball, den er mit Vergnügen auffing. 'Worte fürs Leben', sagte er und richtete sich wieder zu seiner gigantischen Größe auf."
    Diese Szene sagt bereits alles über die vier Hauptfiguren: das eingespielte Vater und Tocher-Duo Eddie und Anna Kerrigan, den gefährlichen und sexy Dexter Styles und das lebenbringende und verschlingende Meer, das nach Belieben Geheimnisse bedeckt und wieder ausspuckt: die Handlung von "Manhattan Beach" in Miniaturformat. Jetzt muss sie nur noch im Großen geschehen.
    Der Sound der Wirtschaftskrise
    Doch erst einmal ist es 1934, der Höhepunkt der Depression. Eddie gehört zu dem Heer von Arbeitslosen, die jeden Tag an den Docks Schlange stehen.
    "'Hörst du die Stille?' Eddie stellte die Frage wie auf Zehenspitzen. 'So hört sich ein Hafen während einer Wirtschaftskrise an.'"
    Die Kerrigans können sich nur notdürftig über Wasser halten, weil Eddie als Laufbursche Jobs für die Gewerkschaft erledigt. Allerdings arbeitet die Gewerkschaft in den Docks von Brooklyn für den Mob. Das organisierte Verbrechen ist anhand von ethnischen Linien organisiert: Iren und Juden beherrschen die korrupten Gewerkschaften, Italiener die Nachtclubs und Alkoholschänken. Als Eddie versucht, diese unsichtbaren Grenzen zu überschreiten und sich Dexter und damit der Mafia andient, bedeutet das Probleme.
    Richtig: "Manhattan" Beach ist ein Krimi Noir mit Gangstern und schönen Frauen, deren Gesichter hinter den Rauchschwaden von Zigaretten verborgen sind. Das ist erst einmal überraschend, da der Name Jennifer Egan normalerweise für zukunftssüchtige Bücher steht, für modernste und postmoderne Literatur. 2011 wurde ihr Roman "Der Größere Teil der Welt" mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet, ein atemberaubend experimentelles Buch, mit dem berühmten Kapitel, das Egan als PowerPointPräsentation erzählt. 2013 folgte "Black Box", das zuerst über den Twitter Account des New Yorker Magazins veröffentlicht wurde, als eine Reihe von Tweets über neun Tage hinweg. Im Kontrast dazu wirkt "Manhattan Beach" nahezu erschreckend konventionell. Hier wird ohne metatextuelle Tricks erzählt. Das Buch öffnen heißt, einen Zeittunnel zu öffnen, der einen hinein saugt, so dass man wirklich in den 1930ern durch Brooklyn streift, wirklich den beißenden Rauch der Feuer aus dem Zeltlager der Arbeitslosen im Prospect Park einatmet, wirklich in der kleinen überheizten Wohnung der Kerrigans ist, in der ein engelhaftes Mädchen auf dem Sofa liegt, als wäre sie gerade in den letzten Wehen eines Orgasmus, dabei hat sie in Wirklichkeit cerebrale Bewegungsstörung durch Sauerstoffmangel bei der Geburt.
    Das bedeutet, dass Lydia nicht gehen, nicht einmal ohne Hilfe sitzen kann, aber vor allem nicht sprechen, sondern nur Worte nachplappert, die zu ihr gesagt werden, in einer Form von Echolalie. Eddie empfinde Abscheu, wenn er Lydias anschaut, und Abscheu vor sich selbst, weil er seine behinderte Tochter ablehnt. Eine Welt ohne Ausweg. Nur dass Eddie Kerrigan, der vor der Depression als Entfesselungskünstler im Varieté gearbeitet hat, doch einen findet. Acht Jahre später ist Amerika in den zweiten Weltkrieg eingetreten, Eddie ist verschwunden und Anna und Dexter steuern unaufhaltsam aufeinander zu. Denn Anna versucht herauszufinden, was mit ihrem Vater geschehen ist, da ihre Mutter ihr nicht weiter helfen kann.
    "'Hast du ihn damals gesucht? Auf den Piers? Oder im Gewerkschaftshaus?'
    'Sicher. Aber die Iren schweigen wie ein Grab. Dazu diese verschmitzten blauen Augen. Man weiß nie, was sie denken.'
    'Und wenn es ein Unfall war? Auf den Piers?'
    'Oh, damit hätten sie nicht hinter dem Berg gehalten! Witwen und Waisen sind ihr Spezialgebiet. Die Ehefrauen sind es, mit denen sie Ärger haben.'"
    Die Meisterin der olfaktorischen Metapher
    "Manhattan Beach" ist in der personalen Erzählperspektive geschrieben. Man ist so nahe an den Figuren, dass ihr Herzschlag mit dem eigenen verschmilzt, sieht durch ihre Augen, schmeckt durch ihren Mund, atmet durch ihre Nase, vor allem durch ihre Nase. Jennifer Egan ist die Meisterin der olfaktorischen Metapher:
    Bei den ganzen Beschreibungen von Geruch und Geschmack, bemerkt man erst spät, dass es kaum Sound in dem Buch gibt. Eine irische Einwanderergeschichte ohne heimweihsüchtige irische Balladen, eine Gewerkschaftsgeschichte ohne "Which Side Are You On", eine Weltkriegsgeschichte ohne "Lili Marleen", und schließlich eine Seefahrergeschichte ohne Sea Shanties. Noch verwunderlicher ist, dass diese irische Migrantengeschichte ohne die Mutter Gottes auskommt, nicht einmal als Anti-Rollen-Modell. Und so beichtet Anna nicht der Jungfrau Maria oder einem Priester, sondern teilt ihre Geheimnisse ausschließlich mit ihrer Schwester Lydia, die ebenfalls eine Sphäre jenseits des Alltäglichen bewohnt. Und Anna hat eine Menge zu beichten. Denn die Namensähnlichkeit zwischen Anna Kerrigan und Anna Karenina ist nicht zufällig. Auch Anna genießt Sex außerhalb des Sakraments der Ehe.
    "Und ihre Schwester konnte nur zuhören. Sie konnte ihr weder einen Rat geben noch die Fragen beantworten, die sie am meisten quälten: In welchem Alter durfte sie wissen, was sie wusste? Oder: wann würde sie es endlich vergessen."
    Was ist die Aufgabe von historischen Romanen?
    Die Frage, die die Leser in diesem Moment quält, ist, warum Anna, deren Mutter bei den Follies getanzt hat, sich so sehr um ihre Keuschheit sorgt als wäre sie kein Mädchen aus der Arbeiterklasse in einer Zeit, in der sich sexuelle Normen radikal verschoben haben, sondern wäre in einer upper-class Familie aufgewachsen wie Jennifer Egan, deren Großvater – ebenfalls Eddie – Bodyguard für Präsident Truman war. Diese Sehnsucht nach historischer Authentizität bis in die Psyche der Figuren hinein hat viel mit unserem Anspruch an historische Romane zu tun. Und mehr als ein Krimi Noir ist "Manhattan Beach" dies: ein historischer Roman über die Heimatfront während des zweiten Weltkriegs; Über die jungen Frauen, die im Brooklyn Navy Yard Arbeiten ausführen, die bis dahin Männern vorbehalten waren. Für die Schriftstellerin Hilary Mantel ist der historische Roman eine Möglichkeit, die Geschichte besser, intimer kennen zu lernen, als das durch ein Sachbuch möglich wäre. Und häufig lesen wir historische Romane wie Zeitkapseln, in denen die Vergangenheit so konserviert ist, wie sie war. Paradoxerweise altern historische Romane - ebenso wie Science Fiction - in der Regel schneller als Literatur, die mit dem Hier und Jetzt arbeitet. Anscheinend projizieren wir immer eine Version von uns in die Vergangenheit respektive Zukunft. Weshalb der Kritiker James Wood historische Romane als Science Fiction beschreibt, die in die Vergangenheit schaut. Allerdings mit dem Wissen um die Zukunft. Und Wissen ist bekannter Weise Macht, in den 1940er Jahren ist es mehr als das, es ist eine geheime Währung.
    Während Anna, die im Brooklyn Navy Yard winzige Metallteile mit einem Mikrometer vermisst, nicht einmal mitgeteilt wir, wofür sie bestimmt sind, weiß Dexter Styles‘ Schwiegervater bereits, dass die Alliierten gewinnen werden.
    "'Ist das ... nicht etwas voreilig?', fragte sein anderer Schwiegersohn George.
    'Tja, ich sage das nicht jedem', erwiderte der alte Herr. 'Aber es ist eine Tatsache.'
    'Ich bezweifele, dass die Navy deine Meinung teilt, Dad', sagte Cooper.
    'So darf die Navy nicht denken, mein Sohn. Auch nicht die Army. Sie sollen siegen, das ist ihre Aufgabe. Die Aufgabe des Bankiers besteht darin, Kommendes vorherzusehen – jedenfalls, nachdem er den Krieg mitfinanziert hat.'"
    Denn Arthur Berringer ist Bankier. Dexter Styles hat in die amerikanische Aristokratie hinein geheiratet. In den 1930ern und 40ern waren Gangsterbosse Celebrities. Filmstars kamen in ihre Nachtclubs und ließen sich mit ihnen von Reportern fotografieren. Das bedeutete jedoch nicht, dass sie jemals wirklich dazu gehören konnten.
    "'Der Bürgerkrieg hat uns eine föderale Regierung beschert. Der Erste Weltkrieg hat uns zu einer Gläubigernation gemacht,' fuhr der alte Herr fort. 'Wir werden siegreich und unversehrt aus diesem Krieg hervorgehen und die Bankiers der ganzen Welt werden.' Während Dexter zuhörte, öffnete sich in seinem Inneren langsam ein dunkler Regenschirm der Sorge."
    Am Wasser
    Es ist ein Zeugnis für die Kraft von Egans Prosa, dass man ihre Figuren nicht in jedem Detail glaubwürdig finden muss, um sie ins Herz zu schließen und sich zutiefst um ihr Wohlergehen zu sorgen. Dass man sogar ihre unkritische Haltung zu Krieg gelten lassen kann, weil dieser für die depressionsgeschüttelte amerikanische Bevölkerung wirklich einen Aufschwung bedeutete.
    Außerdem ist "Manhattan Beach" natürlich auch nicht komplett frei von literarischen Experimenten. Egan setzt sie nur sehr sparsam ein. Dafür ist es umso bewegender, wenn sie es endlich tut: in der Szene, die das Herz und den Wendepunkt des Romans bildet.
    Anna, die zutiefst davon überzeugt ist, dass Lydia gesund werden wird, wenn sie nur das Meer sieht, bringt Dexter dazu, sie und Lydia ans Ufer zu bringen, an seinen Privatstrand am Manhattan Beach, an dem sie ihn acht Jahre zuvor das erste Mal getroffen hat. In einer Sprache, die an James Joyce erinnert, driftet die Erzählperspektive mitten im Satz zwischen Annas, Lydias und Dexters Bewusstsein hin und her:
    "Ich wollte, dass du das Meer siehst. Sieh die See die See die Issirwarmenug?
    Vogel Rii Rii Rook du kennst Vögel, erinnerst du dich an die kleinen Vögel aufdrensterbank, weißt du noch?
    Vogel Krii Krii. Kuss
    Oh, Liddy!
    Kuss
    Mein Schatz, du hast seitolangezeit.
    mich, wenn ich die Decke wegziehe.
    Sieküssküssküss.
    .Anna Papa Mama Liddy
    Das behinderte Mädchen war tatsächlich wie ausgewechselt. Er hatte sie leblos auf dem Bett angetroffen, sie hatte dagelegen, als wäre sie vom Himmel gestürzt, aber nun richtete sie sich ohne Hilfe auf, hob den Kopf aus der Stütze. Die finnische Wolldecke glitt von ihrem Gesicht, während sie auf das Meer blickte, ihre Lippen bewegten sich wie die eines mythischen Geschöpfes, dessen Verwünschungen Stürme und geflügelte Götter heraufbeschwören konnten, der Blick ihrer wilden, blauen Augen zielte auf die Ewigkeit.
    Küss Anna
    Küss Liddy
    Rauscha Rauscha Rauscha"
    Unter dem Wasser
    Warum will Anna Lydia unbedingt ans Meer bringen? Weil dort alles geschieht.
    Während des Krieges war New York sein Ufer. Am Wasser passierte das Leben. Und das Epizentrum des Ufers war der Brooklyn Navy Yard, der größte Schiffsbau- und Reparatur-Hafen im zweiten Weltkrieg, so groß wie eine eigene Stadt. Und eine Menge passierte unterhalb der Wasseroberfläche, denn dort wurden die Schiffe repariert - von den Tauchern, wie Anna einer werden will. Dieser Wunsch hat viel mit ihrem Bedürfnis zu tun, den Dingen auf den Grund zu gehen. Herauszufinden, was unter der Oberfläche liegt. Herauszufinden, was mit ihrem Vater geschehen ist. Der Eignungstest besteht darin, das "Kleid" zu tragen: Den klassische Mark 5 Taucheranzug, mit dem kugelförmigen Messinghelm und Blöcken aus Holz, Metall und Leder als Schuhen, über 90 Kilo versus ihrer eigenen 50 Kilo Gewicht. Tatsächlich gab es damals keine Taucherinnen in der Navy. Die erste Tiefseetaucherin der US Marine war 1982 Andrea Motley Crabtree, die nicht nur weiblich, sondern noch dazu schwarz war. Jennifer Egan interviewte sie viele Stunden und gab ihr die Fahnen von "Manhattan Beach". Crabtree kommentierte, dass Anna es zu leicht gehabt hätte. Dabei ist der Sexismus, der ihr entgegenschlägt atemberaubend. Angefangen bei der Weigerung des Ausbilders, Lieutenant Axel, sie trotz bestandener Test aufzunehmen. Zwar zwingt der Mangel an geeigneten Männern ihn schließlich dazu, doch nennt er seine Taucher weiterhin starrköpfig "Männer" und schaut Anna dabei so an, als solle sie sich in Luft auflösen.
    "Gebäude 569 hatte nicht einmal eine Damentoilette. Katz und Greer mussten immer erst nachsehen, ob alles frei war, und dann voller Unbehagen Wache halten, während Anna darin war. Sie sah dem Beginn ihrer Regel mit Schrecken entgegen. In ihrer ehemaligen Werkstatt hatten sich die Frauen stets beklagt, dass die Marinesoldaten am Tor der Sands Street bei den Kontrollen ihre Binden sahen. Anna hätte gerne ihre Reaktion auf dieses Arrangement erlebt."
    Oral History
    Details wie diese weiß Egan aus dem Oral History Projekt, das sie zusammen mit dem Brooklyn Navy Yard und der Brooklyn Historical Society ins Leben rief. Aber auch aus den Briefe von Lucille Kolkin, die während des zweiten Weltkriegs im Marinehafen als Monteurin gearbeitet hatte. In einem dieser Briefe an ihren Mann Al stellt sich Lucille vor, wie ihr Leben nach dem Krieg aussehen mag, und Egan beschloss, sie zu googeln. Innerhalb von wenigen Sekunden las sie den Nachruf auf Lucille, die kurz zuvor gestorben war - noch immer verheiratet mit Al und Mutter zweier Töchter. Dieses Wissen veränderte ihren Blick auf die Briefe komplett und war die Grundlage für die Vorblenden in ihrem Pulitzer Roman "Der Größere Teil der Welt", die jeweils die Gegenwart der Figuren in einem komplett neuen Licht erscheinen lassen.
    Die Vielstimmigkeit dieser Recherche findet sich in den zahllosen Nebenfiguren von "Manhattan Beach" wieder, von denen jede einzelne so vielschichtig ist, wie Menschen nun einmal sind. Sei es Annas schöne Freundin Nell, die sich von dem reichen Hammond aushalten lässt und nicht für Politik interessiert:
    "'Und der Krieg, Nell? Wie denkst du darüber?'
    'Meinst du meinen Krieg gegen Hammond oder den großen, fetten?'"
    Dabei stellt sie sich als überraschend großzügig heraus, wenn auch mit dem Besitz anderer Leute. Um für Anna eine Abtreibung zu finanzieren, erzählt Nell Hammond kurzerhand, sie sei selbst schwanger. Auch Lieutenant Axel, Annas hypersexistischer Ausbilder, betrachtet Anna irgendwann eine der Jungs und warnt sie vertraulich vor den Vorurteilen anderer Tauchabteilungen.
    "'Sie ticken natürlich anders als die Mehrzahl der Mädchen', sagte er. 'Das wissen wir beide.'
    'Wer weiß schon, wie die Mehrzahl der Mädchen tickt', murmelte Anna."
    Auf dem Wasser
    Und wenn man dann endlich meint, den Roman verstanden zu haben, sticht er in See und verwandelt sich in einen Seefahrerroman. Weniger Metafiktion als vielmehr Meer und Fiktion. Und plötzlich geht es um die komplizierten Hierarchien zwischen Schwarzen und Weißen, die auf hoher See - wenn auch nicht auf den Kopf gestellt, so doch zumindest - aufgelockert waren. Es geht um die Handelsmarine, die mehr Männer verlor als die Armee, weil die ungeschützten Handelsschiffe für die deutschen U-Boote perfekte Zielscheiben abgaben. Eddie, der vor dem Tod durch die Mafia in die Handelsmarine geflohen ist, begegnet ihm hier zum zweiten Mal, gekentert vor der afrikanischen Küste, drei Wochen lang auf einem Floß, irgendwann ohne Nahrung und Wasser, halluzinierend - in einer perfekter Spiegelung der früheren Szene am Strand.
    "Er schrie 'Lydia! Liddy!', tastete nach dem Kind, das er verlassen hatte – nach der Familie, die er verlassen hatte. Dann drangen leise Töne an seine Ohren, Eddie entriss sich dem Körper, der auf dem Floß lag, und eilte Lydia hinterher, sie sprach nicht in Sätzen, sondern in Wellen, es war eine Sprache, die er früher verachtet hatte, nun aber endlich verstand: Papa Anna läuft Mama sieh die See Mama klatschen Anna sieh See Papa küsst Anna läuft um See zu sehen die See die See die See dieseediessedieseedieseedieseediesee ... Die Wörter wurden zu dem Zupfen an einer Saite, dem Schlag eines Herzens: seines Herzens, ihres Herzens, eines Herzens. Und da war sie, die tiefe, allem zugrundeliegende Wahrheit, sie glich einer Bewegung auf dem Meeresgrund. Eddie spürte erst jetzt, dass der Bootsmann ihn immer noch hielt – nie von seiner Seite gewichen war. 'Gleich da', sagte der Bootsmann. 'Gleich da, mein Freund. Fast geschafft. Gott hat uns nicht vergessen.'"
    Empathie & the City
    Es ist die Wärme, mit der Jennifer Egan noch ihre unsympathischsten Figuren beschreibt, die ihren Roman so lesenswert macht. Und ultimativ geht es darum, diese Empathie, dieses geheime wortlose Verständnis auf größere Bewusstseinseinheiten auszuweiten, auf die Stadt, auf die Welt um einen herum. Alle Figuren in "Manhattan Beach" suchen nach unsichtbaren Ordnungsprinzipien unter der Oberfläche des Alltags, nach Linien der Macht und der Verbundenheit, nach einer tieferen, wahreren Wahrheit. Der Roman ist Jennifer Egans Auseinandersetzung mit kollektiver Erinnerungen, damit, was es bedeutet sich einen Raum mit so vielen Menschen zu teilen, von denen ein großer Teil nicht einmal mehr lebt. Es ist ihr Versuch, den urbanen Raum zu beseelen.
    Jennifer Egan: "Manhattan Beach"
    aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens
    mit einem Interview mit Jennifer Egan
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 496 Seiten, 22 Euro.