Freitag, 10. Mai 2024

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Jens Steiner: "Ameisen unterm Brennglas"
Die Schweiz am Abgrund

Was ist bloß mit der Schweiz los? Häuser brennen und Tankstellen werden ausgeraubt. Eine große Verunsicherung breitet sich pandemieartig im Land aus. Jens Steiner, der in seinen Geschichten immer wieder auf die Schicksale von Außenseitern schaut, fühlt in seinem neuen Roman den Puls der erregten Gegenwart.

Von Holger Heimann | 09.02.2021
Jens Steiner und sein Roman "Ameisen unterm Brennglas"
Jens Steiner und sein Roman "Ameisen unterm Brennglas" (Foto: Privat, Buchcover: Arche Verlag)
Jens Steiner ist nicht unter die Insektenforscher gegangen. Das Gewimmel, das in seinem Roman unter die Lupe genommen wird, ist ein menschliches. Aber was soll dabei zur Kenntlichkeit vergrößert werden? Das Interesse des Autors gilt einer breiten Verunsicherung, die sich im Buch in der gesamten Schweiz geradezu pandemieartig ausbreitet. Er folgt Mutmaßungen und Meinungen, die immer absurdere Züge annehmen, weil Unordnung und Unklarheit in dem Land offenbar kaum auszuhalten sind:
"Was ist nur mit dieser Welt los? ( ...) Noch hat es keinen Krawall gegeben im Land. Aber die Vorboten. Die sind jetzt da. ( ... )Paris, Brüssel, London und Istanbul. Das ganze Übel dieser Gegenwart. La maledetta malattia. Und alle glauben, die verdammte Krankheit erklären zu müssen, alle meinen, sie seien Doktor Wasweißich und könnten ihr Stethoskop an die Brust des Heute halten: Aha-aha, ich sehe, na, hab ich mir schon gedacht. Doch genau das ist es, was den Krawall auf den Plan ruft, dieses unablässig und überall herausposaunte Ich-sag-euch-jetzt-was-hier-schiefläuft."

Überwachungskameras im Haus

Solche trüben Gedanken über den Zustand der Welt macht sich ein italienischstämmiger Frühpensionär. Toni Manfredi lebt schon seit langem im 18. Stock einer Betonblocksiedlung namens Bethlehem am Rand von Bern und schnitzt Krippenfiguren. Er blickt oft und lang hinunter auf das Gewusel vor dem Haus: Was er sieht und hört, vor allem aber, was er sich dabei denkt, lässt ihn immer ratloser zurück. Auf andere Weise von der Gegenwart überfordert zeigt sich Regina Novotny, eine alleinerziehende, dauerbeschäftigte Mutter, die mit ihrem zehnjährigen Sohn hauptsächlich über auf Zettel verfasste Kurznachrichten kommuniziert. Martin Boll wiederum ist ein müder Familienvater und angepasster Angestellter, der von seiner Familie aus unerfindlichen Gründen immer nur als "Bande" spricht und in seinem Haus Überwachungskameras installiert.
Steiner will den Irritationen seiner drei Hauptfiguren, die abgesehen von ihrer grassierenden Unsicherheit keine unmittelbaren Berührungspunkte haben, möglichst nahekommen. Im personalen Erzählstil werden die individuellen Idiosynkrasien wechselweise geradezu aus- und bloßgestellt. Als Martin Boll überraschend zum Mitarbeitergespräch bestellt wird, steigert er sich in immer ausgeprägtere Angstphantasien hinein:
"Was hat das zu bedeuten? Hat Martin sich natürlich nicht getraut zu fragen. Und jetzt sitzt er da mit dieser quälenden Frage im Nacken. Fällt es so sehr auf, dass er viel seltener in den Abend hineinschuftet als die meisten anderen? Ist er untragbar geworden für das Team, die ganze Firma? Er ist seit bald zehn Jahren hier, so lange wie wenige andere, aber keiner ist unersetzlich, das weiß er."

Mediale Dauerbeschallung

Die Nerven sind dünn, und sie liegen bald ganz blank. Die Haltlosigkeit und Aufgeregtheit, die Steiners Protagonisten prägt, wird durch eine Anschlagserie in verschiedenen Regionen weiter verstärkt und somit noch kenntlicher. Ein Haus geht in Flammen auf, eine Tankstelle wird überfallen, auf der Autobahn regnet es Geldscheine. Sind die Täter in allen Fällen dieselben? Handelt es sich um Neonazis, um linke Terroristen oder um Islamisten? Wird die Schweiz von fremden Mächten gesteuert? Die Berichte im Fernsehen und in Zeitungen sowie die Gerüchte und Vermutungen, die sich über soziale Medien verbreiten, lassen die Unruhe immer weiter wachsen. Abstruse Spekulationen und Theorien machen die Runde. Die Bedrohung bekommt Namen: die Syrer, Angela Merkel, Putin. "Das schwuppt einfach rein ins Handy. Als Videos und so", erklärt Martin Bolls Tochter einmal. Nicht nur Besonnenheit und Vernunft bleiben angesichts der drängenden Sehnsucht nach Ordnung und der medialen Dauerbeschallung zunehmend auf der Strecke, sondern zuletzt auch die psychische Gesundheit mancher Übererregter.
Steiner folgt den Dynamiken der Zuspitzung und verbindet dabei Witz mit ernster Weltbetrachtung. Die Schweiz ist außer Rand und Band – zumindest in den Köpfen der Menschen, die der Autor als zutiefst verängstigte Wesen zeigt. In deren Vorstellungswelt kann schon ein achtlos weggeworfener Zigarettenstummel einen veritablen Streit auslösen und obendrein gleich ein heraufziehendes großes Verderben ankündigen. Steiner hat seine unter Hochspannung stehenden Hauptakteure in starkem Maße als typische Vertreter unterschiedlicher Milieus angelegt, die sich jeweils mit einem klar umrissenen und vorhersehbaren Problemfeld herumplagen. Vielleich sind sie ihm deswegen etwas flach geraten: Der Einwanderer spürt auch nach Jahren noch großen Anpassungsdruck, die berufstätige Mutter und der Familienvater kämpfen mit Stress zu Hause und am Arbeitsplatz. Man fühlt sich fast an eine Versuchsanordnung im Labor erinnert.
Wie in vorherigen Büchern schaut Jens Steiner auf die Eigentümlichkeiten und Abgründigkeiten der nur vermeintlich heilen Schweizer Welt. Was geschieht, wenn labile Existenzen und vordergründige Gewissheiten nachhaltig erschüttert werden? Wie stabil ist der Boden, auf dem eine Gesellschaft steht? Die Antworten, die der trotz mancher Schwächen lesenswerte Roman gibt, sind nicht beruhigend.
Jens Steiner: "Ameisen unterm Brennglas"
Arche Verlag, Hamburg. 238 Seiten, 20.- Euro.